Interview mit Wolfgang Podlesch

Wie bist du denn eigentlich zur integrativen Pädagogik gekommen?

Entwicklung zum schülerorientierten Unterricht

Ich war ja Lehrer und wollte Schulpsychologe werden, habe deshalb noch Psychologie studiert. Ich bin dann vom Pädagogischen Zentrum Berlin gefragt worden, ob ich in dem neuen Referat für Lehrerfort- und -weiterbildung als Naturwissenschaftler für den technisch-naturwissenschaftlichen Unterricht in der Grundschule zuständig werden wolle. Ich sagte zu und begann, Unterrichtsmaterialien zu entwickeln und zu erproben. Die Idee war, Themen schülerorientiert und alltagsbezogen vorzubereiten, also zum Beispiel das Thema »Elektrischer Stromkreis« nicht abstrakt und lebensfremd zu bearbeiten, sondern handlungsorientiert und auf die Interessen der SchülerInnen abgestimmt. Hinzu kam die Idee – im Anschluss an die Lernpsychologen Galperin, Lompscher, Vygotskij, Leontjew, Piaget und Klaus Holzkamp – mit den Schülern beim Lernen zur Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeit von konkret-materiellen Tätigkeiten auszugehen, sie dann sprachlich zu begleiten, um darauf Vorstellungen und abstrakt-begriffliche Erkenntnisse aufzubauen. Mit dem Projekt »Versuche zur Fahrradbeleuchtung« begann die Wende zum schülerorientierten Unterricht.

Begleitung der Schulversuche zur Integration

Wichtig für meine Entwicklung wurde dann die Mitarbeit im Projekt »Aktionsanlässe. Situationsorientierte Lernangebote für Fünfjährige. Anregungen für die Arbeit in Vorschulgruppen, Vorklassen und Eingangsstufen«. Im Rahmen dieser Arbeit bin ich dann durch Zufall an die Fläming-Schule geraten. Das war 1977. Dort gab es schon ab 1975 die ersten Integrationsklassen70. Die Aktionsanlässe, zum Beispiel »Kinder lernen Arbeitsplätze der Eltern kennen«, »Die Klasse wird umgeräumt« oder »Erfrischungsstände« wurden mit den Vorklassenleiterinnen geplant und ausprobiert. Ich lernte damals zum ersten Mal Kinder mit Behinderungen kennen und konnte sie bei ihren Lerntätigkeiten beobachten. Eines Tages sagte mir der damalige Schulleiter Christian Hoenecke, er und andere KollegInnen seien mit der Betreuung durch das Pädagogische Zentrum unzufrieden und deshalb fragte er mich, ob ich als Lehrer und Psychologe die Arbeit nicht wahrnehmen könnte. Nach einigem Hin und Her fiel die Entscheidung, ein neuer beruflicher Abschnitt begann, und ich muss sagen, dass ich die 23-jährige Arbeit in und für die gemeinsame Erziehung nie bereut habe, mehr noch, es waren tolle Jahre. Ich war begeistert von der Idee, an einer großen Reform in Schule und Gesellschaft teilzuhaben. Von 1980 bis 2003, von der Vorklasse bis zur Berufsschule habe ich alle Schulversuche zur Integration von Kindern mit Behinderungen – vor allem mit geistiger und schwerer Mehrfachbehinderung – begleitet. Spannend und interessant für mich war, dass ich immer mit den Kindern sozusagen »mitwuchs«.

Politische Entscheidungen: Fallbeispiele

Aufregend wurde es, wenn politische Entscheidungen die Arbeit gefährdeten, zum Beispiel als der damalige FDP-Senator Rasch den weiteren Grundschulbesuch eines Jungen mit gravierenden Beeinträchtigungen nach der Vorklasse verbot, oder als die Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien (CDU) durch Erwirkung einer gerichtlichen einstweiligen Anordnung verhinderte, dass Jenny Lau, ein Mädchen mit Down-Syndrom, nach der Grundschule zur Oberschule wechselte und stattdessen eine Sonderschule besuchen musste. Sie wolle einen Präzedenzfall vermeiden. Aber gerade darum ging es. Der Fall Jenny Lau wurde über Berlin hinaus bekannt. Protestaktionen fanden statt und zahlreiche Schreiben erreichten die Berliner Senatorin: von Verbänden, der Lebenshilfe, Gewerkschaften, renommierten Juristen und Politkern. In öffentlichen Debatten mit der Senatorin, an denen sich bekannte Pädagogen beteiligten wie Jakob Muth, Georg Feuser und Ulf Preuss-Lausitz, wurde – leider vergeblich – versucht, die Entscheidung der Senatsverwaltung zu revidieren. Es entstand dann eine umfangreiche Dokumentation: »Jenny darf nicht in die Oberschule«, herausgegeben von Gisela und Wolf-Dieter Lau. Erst ab dem Schuljahr 1996/97 begann ein neuer Schulversuch zur Integration von Jugendlichen mit geistiger und schwerer Mehrfachbehinderung in der Oberschule.

Übergangsgestaltung zwischen Grund- und Oberschule

Noch ein Blick zurück: 1983. Ab diesem Jahr gingen zum ersten Mal Kinder der Fläming-Grundschule auf eine Oberschule, die Sophie-Scholl-Gesamtschule. Ich kann mich noch sehr deutlich erinnern, dass der Schulleiter der Sophie-Scholl-Schule die Fläming-Schule aufsuchte und uns mit einem Fragenkatalog konfrontierte, der viele Vorurteile enthielt und eigentlich dazu herhalten sollte, die Gesamtschule als ungeeignet für integrative Ideen zu halten. Vorurteile, wie die Vereinsamung der Integrationsschüler, Instrumentalisierung als »Sozialmaskottchen«, den guten Ruf der Gesamtschule zu schädigen, wenn jetzt auch noch »Lahme, Taube und Blöde« kommen. Daraufhin haben wir Oberschüler und auch Lehrer gebeten, doch mal in der Fläming-Schule zu hospitieren und Gespräche mit uns zu führen. Auf der entscheidenden Gesamtkonferenz sprach sich dann eine Mehrheit zur Teilnahme am Schulversuch aus. Wir haben auch der Schule angeboten, dass Lehrkräfte und SonderpädagogInnen von der Fläming-Schule auf die Oberschule wechseln könnten, um dann nach einiger Zeit wieder in die Grundschule zurückzukehren, so im Sinne eines Rotationsverfahrens.

Werdegang/Entwicklung der Fläming-Schule

Aber auch an der Fläming-Schule gab es am Anfang Schwierigkeiten, als das Kinderhaus Friedenau e. V. den Wunsch hatte, eine integrative Kleinkindgruppe in die Vorklasse der Schule zu schicken. Ein so heißes Eisen wollte der damalige Schulleiter nicht anfassen. Das Kinderhaus Friedenau geht auf eine Idee des Facharztes für Kinderkrankheiten Dr. Karimi zurück. Eltern behinderter und nichtbehinderter Kinder trafen sich dort und so kam es zur Gründung von Eltern-Kinder-Gruppen und des »Kinderhauses Friedenau e. V.«, das war im Jahre 1972. 1975 war es dann soweit, die gemischte Gruppe wurde für die Vorklasse angemeldet, unter anderem mit dem schwerbehinderten Marc Koch. Mit Mühe wurde ein gemeinsames Vorschuljahr genehmigt, doch wie ich schon erwähnte, wurde Marc als »nicht integrationsfähig« wieder aussortiert und von einem Spastiker-Zentrum aufgenommen. Erst im zweiten Anlauf, im Schuljahr 1976/77, konnte eine zweite Kinderhausgruppe das Eis brechen und die Grundschule bis zum Ende und später die Gesamtschule besuchen. 1985 kam es zum nächsten Konflikt. In der Kinderhausgruppe war diesmal ein Mädchen mit schwerer Mehrfachbehinderung dabei. Es wurde eine Arbeitsgruppe eingerichtet, in der alle Vorbehalte und Ängste und notwendigen Hilfen besprochen wurden. Auch eine Fortbildung mit dem anerkannten Experten Andreas Fröhlich und seinem positiven Gutachten führten nicht dazu, dass sich ein Team der Fläming-Schule für die Arbeit bereit erklärte. Auch war nicht damit zu rechnen, dass die Schulsenatorin Laurien einen Schulversuch genehmigen würde. Erst zum Schuljahr 1990/91 konnte eine integrative Vorklasse und einem Mädchen mit schweren Beeinträchtigungen eröffnet werden. Damals beruhte alles auf Freiwilligkeit. Man musste die Lehrer finden und die Zustimmung zum Schulversuch auf einer Gesamtkonferenz erreichen. Leider durfte in Berlin nur die Fläming-Schule schwerer behinderte Kinder aufnehmen. Erst durch den von der Bund-Länder-Kommission unterstützten landesweiten Schulversuch ab Schuljahr 1990/91 entspannte sich die Lage und die Wünsche vieler Eltern konnten erfüllt werden. Aber nach wie vor mussten Schulen und Eltern auch nichtbehinderter Kinder gefunden werden, die sich für die Integration einsetzten.

Zusammenarbeit mit der Schulverwaltung

Abhängig war ich auch von der Schulverwaltung, die ja zusätzliche Lehrerstellen zur Verfügung stellen musste. Meine Ansprechpartnerin war Oberschulrätin Safadi, eine ehemalige Schulleiterin einer »Sonderschule für Geistigbehinderte«. Als ich das erste Mal mit ihr ins Gespräch kam, sagte sie: »Kommen Sie einmal in meine ehemalige Schule, da sehen Sie, wie man’s macht«. »Ja, das ist ja wunderbar«, sagte ich, »Sie haben ein Schwimmbad, eine gut ausgestattete Einrichtung, einen hervorragenden Personalschlüssel. Das hätten wir an der Grundschule auch gerne.« Sie war beeindruckt von unserem Engagement und unserer guten Arbeit. Ich kann mich noch deutlich erinnern, als ich ihr einmal sagte: »Für das nächste Schuljahr habe ich Schulen für 18 Kinder mit geistiger Behinderung gewonnen.« »Unmöglich«, ihre Antwort, »zusätzliche Lehrerstellen sind nur für zehn Kinder genehmigt!« Um Schulen zu gewinnen, bin ich auf Gesamtkonferenzen immer mit einer erfahrenen Lehrerin und Eltern betroffener Kinder aufgetreten. Gemeinsam haben wir unsere Arbeit vorgestellt, unterstützt mit Videos, Fotos und Arbeiten aus dem integrativen Unterricht. Ich konnte über den Schulversuch oder über unsere Fortbildung berichten, die Lehrkräfte konnten glaubwürdig zum individualisierenden und differenzierenden Unterricht, zur verbalen Beurteilung Stellung nehmen und die Eltern Fragen anderer Eltern, vor allem nichtbehinderter Kinder beantworten. Diese Dreierkombination hat sich sehr bewährt. Dann habe ich zu Frau Safadi gesagt: »Ja, es geht um 18 Kinder, und die Schulen dazu, wohnortnah und baumäßig geeignet, habe ich auch. Ohne feste Zusage für alle verlasse ich nicht ihr Haus.« »Ich gehe jetzt zum Staatssekretär, warten Sie!« Nach einer halben Stunde kam sie zurück: »Sie kriegen die Mittel für Ihren Schulversuch.« Wir konnten auch durchsetzen, dass die Genehmigung immer für sechs Jahre lief und jedes Jahr neue Klassen dazu kamen, d. h. der Schulversuch war längerfristig gesichert.

Ich könnte jetzt stundenlang so weitererzählen, aber das ist ja nun irgendwie witzlos und langweilig.

Nein, durchaus nicht. Ich finde es wirklich sehr spannend. Ich habe ja jetzt mit Volker Schönwiese, Jutta Schöler und Walther Dreher schon Interviews geführt und gerade dann nämlich in diesen »Na gut, ich erzähle doch die ausführliche Version«- Momenten kommen dann immer noch ganz spannende Aspekte mit dazu, insofern: gerne.

Ja, Walther Dreher habe ich in den 1980er-Jahren kennengelernt, als die Fläming-Schule zur »Mutterschule der Integration« geworden war, so drückte es Jakob Muth einmal aus, der uns auch mit seinen Studierenden besuchte und uns pädagogisch und bildungspolitisch kraftvoll unterstützte. Hans Wocken kam mit Studierenden, Dieter Dumke, Heinz Bach, Ewald Feyerer aus Linz, Urs Haeberlin, Andreas Möckel und so weiter. Wir wurden auch häufig von anderen Schulen eingeladen, um unsere Erfahrungen und didaktischen Konzepte zu diskutieren, zum Beispiel von Hamburger Schulen und sogar Schulen aus Bayern. Im regen Austausch standen wir unter anderem mit der Bodelschwingh-Grundschule in Bonn-Friesdorf, mit der Hartenberg-Schule in Mainz und so weiter. Umgekehrt suchten wir Kontakte zu reformorientierten Schulen, von denen wir uns Anregungen versprachen, zum Beispiel bei einer Grundschule in Köln-Höhenhaus, die auf der Grundlage der Pädagogik Peter Petersens arbeitete. In dieser Zeit wurde ich zu einer Tagung der Waldorf-Schulen eingeladen, zusammen mit Walther Dreher. Wir redeten frei, ohne mediale Unterstützung, keine Power-Point-Präsentation. In der Diskussion berichteten einige Lehrkräfte, dass sie, mehr oder weniger geduldet, schon anfingen, Kinder mit geistiger Behinderung zu integrieren, obwohl diese Kinder als sogenannte »seelenpflegebedürftige Kinder« in Sondereinrichtungen betreut werden. Trotz des nationalen und internationalen Interesses am Fläming-Modell – Zwei-Pädagogen-System, 15 Kinder, davon bis zu fünf behindert, keine Ziffernzeugnisse, sondern verbale Beurteilungen, offener Unterricht, Individualisierung durch Binnendifferenzierung, wissenschaftliche Begleitung mit intensiver Fortbildung usw. – hatten wir ständig mit administrativen Vorbehalten zu rechnen. Auch wenn der damalige Berliner Bürgermeister Richard von Weizsäcker nach einem Besuch von unserer Arbeit und den Erfolgen sehr angetan war, hatte die damalige Schulsenatorin große Schwierigkeiten, die Integrationsidee zu akzeptieren. Ihr ging es um leistungsbetonten sogenannten zielgleichen Unterricht und die integrative Beschulung sei nur Kindern vorbehalten, die im Laufe ihrer Schulzeit sozusagen zu Nichtbehinderten würden.

Bildungspolitik im ständigen Wandel

Als sie die Schule besuchte, ging es ihr unter anderem um die Frage des Beurteilens, des Zensurierens. »Wie beurteilen Sie die Leistungen eines ›Geistigbehinderten‹ gegenüber eines ›Hochintelligenten‹ in der dritten Klasse?« Als sie kam, hatte es ein Schüler mit »Verhaltensauffälligkeiten« auf sie abgesehen. Ich sagte noch: »Wir müssen Sven im Auge behalten.« Er hatte nämlich ein besonderes Faible für Taschen und interessierte sich brennend für deren Inhalte, und Frau Laurien hatte immer ihre Handtasche dabei. Es passierte, was passieren musste: In einem unbemerkten Augenblick griff Sven die Tasche – Frau Laurien hatte sie auf einem Stuhl abgelegt – und schüttete sie aus. »Und das verstehen Sie unter Integration?«, rief unsere Senatorin aus. Ich habe zu Frau Laurien gesagt: »Wissen Sie, ich bin Beamter des Landes Berlin. Sie sind vielleicht nach der nächsten Wahl nicht mehr unsere Senatorin. Und nach dem Berliner Schulgesetz hat die Schulbehörde dafür zu sorgen, dass wertvolle fortschrittliche Ideen in öffentlichen Schulen umgesetzt werden. Dazu gehören Schulversuche, die strukturelle Änderungen von Unterricht und Erziehung vorbereiten.« Ich habe wirklich sieben Senatoren erlebt: Herrn Rasch, Frau Laurien, Frau Volkholz, Herrn Klemann, Frau Stahmer, Herrn Böger, Herrn Zöllner.

Sybille Volkholz, damals offiziell parteilos, aber dem Bündnis 90/Die Grünen nahestehend, hat als Nachfolgerin von Frau Laurien wichtige gesetzliche Integrationsregelungen auf den Weg gebracht, zum Beispiel das Elternwahlrecht zwischen Sonderschule und allgemeiner Schule zu entscheiden, zunächst eingeschränkt, das heißt ohne Geltung für Kinder mit geistiger Behinderung. Später wurden hierzu wissenschaftlich begleitete Schulversuche durchgeführt, verbunden mit Fortbildung und Öffentlichkeitsarbeit, sodass die Erweiterung des Elternwahlrechts ohne große Schwierigkeiten gesetzlich verankert werden konnte. Entsprechend verlief die Entwicklung in der Oberschule und später in der Berufsschule. Hier wird ein Prinzip der Berliner Integrationsbewegung deutlich: Mit der Integration in der Grundschule beginnen, in Oberschule und Berufsschule fortsetzen, gleichzeitig die Ausweitung auf alle Behinderungsformen durchsetzen, unterstützt durch bezirksübergreifende Theorie-Praxis-Seminare, öffentliche Veranstaltungen und Tagungen, sodass aufgrund der gesellschaftlichen Akzeptanz schulgesetzliche Änderungen zu einem allgemeinen Wahlrecht möglich wurden.

Noch einmal zurück zum Fall Jenny Lau. Sybille Volkholz war es, die gleich zu Beginn ihrer Amtszeit den Fall löste. Jenny wechselte von der Sonderschule in eine Hauptschule, die Werner-Stephan-Schule, die unter ihrem Schulleiter Großpietsch mit schwierigen SchülerInnen neue Unterrichtskonzepte entwickelte und sehr gute Ergebnisse vorweisen konnte.

Fortbildungsgestaltung durch erfahrene Lehrkräfte

Nach unserem Selbstverständnis als Netzwerkarbeiter umfasste die wissenschaftliche Begleitung auch die Fortbildung. Für den Grundschulbereich hatte ich am Anfang als Mitarbeiter Rainer Maikowski, später die Sonderpädagoginnen Hedwig Matt, Brigitte Schmitt und Nina Hömberg, für den Oberschulbereich war es Karl-Heinz Imhäuser, der bei Walter Dreher darüber im Rahmen seiner Dissertation weiterarbeitete. Durch Umfragen versuchten wir, auf die Fortbildungswünsche der Lehrkräfte einzugehen. Wir hatten uns die am Schulversuch beteiligten Schulen und Klassen aufgeteilt, dann gab es regelmäßige Treffen zwischen uns, um zu entscheiden, welche Themen wichtig sind, beispielsweise lebenspraktisches Lernen, Projektmethoden, lernbegleitende Diagnostik oder die Fortbildung in Mathematik mit Reinhard Kutzer aus Marburg, der das sogenannte struktur-niveauorientierte Lernkonzept entwickelt hatte, z. B. beim Erwerb des Zahlbegriffs von konkreten Tätigkeiten und anschaulichen Lernspielen auszugehen, um dann auf der sprachlichen und vorstellungsmäßigen Ebene weiterzumachen. Diesen strukturorientieren Mathematikansatz hat dann Charlotte Zwack-Stier, eine ehemalige Mitarbeiterin von Professor Kutzer, über mehrere Jahre in unserem Schulversuch von Klasse 1 bis 6 mit großem Erfolg weitervermittelt. Als sehr effektiv und nachhaltig erwies sich auch die Idee, Fortbildungsveranstaltungen reihum in den Klassenräumen der am Schulversuch teilnehmenden Lehrkräfte abzuhalten. Sie stellten zu Beginn ihr didaktisches Konzept vor, zeigten bewährte Unterrichtmaterialien, gingen auf die Klassenraumgestaltung ein und so weiter. Diese Praxis führte häufig dazu, dass gegenseitige Hospitationen verabredet wurden.

Entwicklung
der Integration
in Ost-Berlin

Diese Formen der Fortbildung und des Austauschs von Erfahrungen bewährten sich besonders, als mit der politischen Wende ab 1989 Ostberliner Schulen und Ostberliner Lehrkräfte für die Schulversuche gewonnen wurden. Offener Unterricht, Binnendifferenzierung, Projektarbeit, Orientierung an der Freinet- oder Montessori-Pädagogik, ohne Fibel lesen und schreiben lernen, stießen anfangs auf große Skepsis und wurden zum Teil abgelehnt. Doch die persönlichen Begegnungen mit den »Wessis« und den konkreten Unterrichtsbesuchen veränderten die Einstellungen zum integrativen Unterricht. Überzeugungsarbeit war auch bei der Frage der Notengebung und Leistungsbeurteilung notwendig. Auf einer großen öffentlichen Veranstaltung in einer Hellersdorfer Grundschule kritisierten besonders heftig Eltern die Praxis, statt Ziffernnoten verbale Beurteilungen zu geben. Zustimmung zum Schulversuch nur, wenn es bei Ziffernzeugnissen und Noten bleibt. Erst als an Beispielen konkret gezeigt wurde, wie sinnvoll und wie viel aussagekräftiger Leistungsbeschreibungen sind, ließ die anfängliche Skepsis nach. »Was erfahren Sie, wenn Ihre Tochter in Sachkunde die Note Zwei erhält, gegenüber der Information, dass Laura einen Fahrradschlauch flicken kann, gelernt hat, wie sie ein Feuer löschen kann und sich selbstständig erarbeitet hat, wie sich ein Steinmarder ernährt?« »Was sagt ein ›Ausreichend‹ für einen Aufsatz über eine Kurzgeschichte aus gegenüber einem ›Ausreichend‹ für einen Sprung über einen Kasten?«

West-Berlin: Integration auf
dem Arbeitsmarkt

Während also im Ostteil Berlins Schulentwicklung durch Integration langsam in Gang kam, ging es in den integrativen Oberschulen im Westteil der Stadt um die Frage, ob und wie die Integration an der Berufsschule fortgesetzt werden kann und perspektivisch, welche Chancen Jugendliche mit Lernschwierigkeiten oder sogenannter geistiger Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben. Es wurden Schulbesuche in Hamburg organisiert und die Hamburger Arbeitsassistenz konsultiert, bei der es um die Begleitung von Jugendlichen in Betrieben ging, weil hier schon erste einschlägige Erfahrungen gemacht wurden, z. B. Beschäftigungen auf Tankstellen, Einrichtung und Betreibung eines Bistros in Altona, Herstellung und Verkauf von Holzbänken, Eröffnung eines Dritte-Welt-Ladens und so weiter. In Berlin hatte das Institut für Sozialforschung und Betriebspädagogik mit seinem Modellprojekt SprungBRETT, in dem Antje Ginnold arbeitete, eine führende Rolle. In Hamburg waren es Stefan Doose, Hartmut Sturm, Andreas Hinz und Ines Boban, die wichtige Anregungen gaben.

Berufsschulen

Das war dann auch das große Thema in der Berliner Lebenshilfe, die eine Arbeitsgruppe initiierte, in der ich auch mitarbeitete und in der es um Arbeitsmöglichkeiten von Jugendlichen mit sogenannter geistiger Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ging, also um Alternativen zu den Werkstätten für Behinderte. Darum ging es unter anderem auch an der Loschmidt-Berufsschule, die bereit war, Jugendliche mit geistiger Behinderung im Rahmen eines wissenschaftlich begleiteten Schulversuchs zu integrieren. Unser Besuch mit LehrerInnen in Hamburg führte schließlich dazu, dass die KollegInnen der Loschmidt-Schule auch ein Bistro initiierten, in dem morgens Frühstück angeboten wurde und mittags kleine Gerichte. Der Lernbereich Ernährung/Hauswirtschaft wurde dadurch vollkommen umstrukturiert. Die tagtägliche Planung: Was bieten wir heute an, was blieb von gestern übrig, was konnte nicht verkauft werden, weil es den Lehrkräften und Jugendlichen nicht schmeckte, was probieren wir aus? Wer kauft ein, welcher Betrag steht zur Verfügung, welche Mengen werden benötigt? Wer bedient heute, wer kassiert und rechnet ab? Die BerufsschülerInnen erlebten zum ersten Mal, wie bedeutsam ihre Arbeit war. Mit großer Ernsthaftigkeit und auch Begeisterung kamen alle in die Schule und brachten immer wieder neue Vorschläge ein. Ein Jugendlicher brachte eines Tages eine richtige Registrierkasse mit. Dem Bistro folgte aufgrund der guten Erfahrungen die Eröffnung einer Fahrradwerkstatt im Lernbereich Metall. Später kamen noch zwei weitere Berufsschulen dazu.

Das waren meine letzten Berufsjahre, angefangen in einer Vorklasse der Flämig-Grundschule, aufgehört mit dem schwierigen Übergang Schule – Beruf. Übrigens wurde Jenny Lau Schauspielerin beim Berliner Theater RAMBAZAMBA und arbeitete mit sechs Stunden als Serviererin in einem Café. Ein anderer Jugendlicher mit dem Down-Syndrom wurde in einem kleinen Kino zum Filmvorführer ausgebildet – nach dem Grundsatz »Erst platzieren, dann trainieren!« Leider verlor er den Job, als alles auf digitale Technik umgestellt wurde.

Du hast ja schon gesagt, Schwerpunkt waren Menschen mit kognitiven Ein­schränkungen und schwerer Mehrfachbehinderung.

Fallbeispiele zu Herstellungsprozessen

Ja, das ist richtig. Als Psychologe habe ich mich stark mit Entwicklungs- und Aneignungsprozessen auseinandergesetzt. Als Klaus Holzkamp sein Lernbuch schrieb, also Lernen vom Standpunkt des Lernsubjekts begriff, war er auch an unserer Arbeit interessiert. Ich weiß noch, einmal sprachen wir über Benjamin, ich hatte dazu ein Video vorbereitet. Aufgrund der Schwere der Behinderung war für uns unklar, was er überhaupt wahrnimmt, was er versteht, wie er auf Berührung reagiert. »Wir müssen jetzt anfangen ›Benjaminisch‹ zu lernen!«, sagte Klaus. Uns fiel dann auf, dass Benjamin mit offenem Blick aufmerksam Gegenstände und Vorgänge in seinem Umfeld beobachtete. So entschieden wir uns, Tee, den er regelmäßig trank, mit ihm gemeinsam zu brühen. Die Idee war – sie wurde für viele Unterrichtsangebote, auch in anderen Klassen und für andere Kinder eine zentrale Orientierung – Dinge und Sachverhalte begreifbar zu machen, indem man an ihrer Herstellung beteiligt wird. In dem Beispiel »Mit Benjamin Tee zubereiten« hieß das im Einzelnen: Zuerst Benjamin Gegenstände wie Teebeutel, Teekanne, Wasser, elektrischer Schalter usw. zu zeigen, ihn damit in Berührung zu bringen, dies zusammen mit einem anderen Mitschüler oder einer Mitschülerin, und schließlich durch einen Schalter, den Benjamin selbst drückt, Wasser zu erhitzen und in eine Kanne über den darin eingehängten Teebeutel laufen zu lassen. So konnte sich Benjamin sich selbst als Hersteller seines Tees erleben. Ein anderes Beispiel, das zeigen kann, wie bei geistiger Beeinträchtigung Galperins Konzept der etappenweisen Ausbildung geistiger Handlungen helfen kann, erfolgreiche Lernprozesse anzubahnen. In der Weihnachtszeit stellte sich eine Lehrerin vor ihre Klasse und führte in einzelnen Schritten vor, wie man aus einem Stück Seidenpapier einen Stern falten kann. Nach meiner Beobachtung konnten nach einiger Zeit nicht mehr alle dem Faltvorgang folgen und stiegen aus, andere kamen zu für sie sehr unbefriedigenden Ergebnissen. Im Sinne Galperins wurde dieses Bespiel in unseren regelmäßigen Fortbildungsrunden aufgegriffen und folgendes Verfahren erläutert: Den Herstellungsprozess zum Seidenstern in seine einzelnen Etappen auflösen, das heißt jeden Faltschritt konkret festzuhalten, also die Herstellung vom Blatt Seidenpapier bis zum fertigen Stern in Teilschritte zerlegen und die jeweiligen Teilprodukte nacheinander an der Schultafel befestigen. So entstand eine konkret-materielle Orientierungsgrundlage. Dies Vorgehen hat den Vorteil, dass die Kinder in ihrem eigenen Arbeitstempo und unabhängig von der Lehrkraft ihre Tätigkeit selbstbestimmt organisieren und sich bei Schwierigkeiten an dem nach wie vor sichtbaren und zugänglichen Herstellungsablauf orientieren können. So gewinnt auch der Pädagoge Zeit und Gelegenheit, die Kinder zu beobachten und rechtzeitig Unterstützung anzubieten. Dieses Konzept, von konkret-materiellen Tätigkeiten auszugehen, dann mit sprachlich vermitteltem Handeln und schließlich mit Vorstelllungen und abstrakt-kognitiven Symbolen fortzufahren, hat sich bei allen Lernprozessen bewährt, nicht zuletzt deshalb, weil bei erneut auftretenden Schwierigkeiten die Kinder immer auf die nächst tiefere Aneignungsstufe zurückgehen können.

Vermeidungs­verhalten

Ein anderer Bereich des wissenschaftlichen und unterrichtspraktisch relevanten Interesses war das Vermeidungsverhalten von SchülerInnen – nicht nur der mit kognitiven Beeinträchtigungen – neuen Anforderungen gegenüber. Die Anstrengungs- und Risikobereitschaft, die konstitutiv für alle Lernprozesse ist, ist unterschiedlich ausgeprägt, abhängig von Erfolgs- beziehungsweise Misserfolgserfahrungen. Vermeidungsverhalten ist schon deshalb kein typisches Merkmal bei geistiger Behinderung, wie man immer wieder lesen kann, weil es mir zu meinem Vorteil Zeit lässt, zum Beispiel um andere bei ihren Bemühungen zu beobachten oder anderen Gelegenheit gibt, auf mich aufmerksam zu werden.

Dialogfähigkeit

Für das interaktiv-kommunikative Verhalten bei geistiger Behinderung hat der Sprachwissenschaftler Wolfgang Sucharowski wichtige Erkenntnisse vorgelegt. Er beobachtete nach einer Phase der Orientierung und des Zurechtfindens, dass die Kinder in der nächsten Phase auf Angebote der LehrerInnen oder anderer Kinder mit einem konsequenten Nein reagierten, das aber die Gesprächspartner veranlasste, Angebote zu wiederholen und Hilfen anzubieten, die in der nächsten Phase gesprächsinitiierende Aktionen auslösten, das heißt den Nein-Sager zu Handlungen und eigenen kommunikativen Akten bewegten. Schließlich begann die Phase selbstständiger Gesprächsarbeit, das heißt, selbstständig über eigene Wünsche den LehrerInnen oder anderen Schülern gegenüber zu sprechen. Sucharowski stellte also das Entstehen einer Dialogfähigkeit und die Entwicklung einer Fähigkeit zur Kommunikation fest. Wie sich Kinder an Schulen mit dem Förderschwerpunkt »geistige Entwicklung« in ihrer Kommunikationsfähigkeit verbessern können, wenn – wie es eine Berliner Schule in ihrem Selbstporträt beschreibt – für 60% der SchülerInnen Deutsch nicht die Erstsprache ist und 80% für Fremde nicht verständlich sprechen, bleibt mir ein Rätsel.

Unmissverständliche Aufgabenstellungen

Wie auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse helfen können, zunächst überraschende Unterrichtsbeobachtungen aufzuklären, zeigt folgendes Beispiel. Ich erinnere mich an eine Situation in einer Zehlendorfer Realschule, die Alfred-Wegener-Schule (jetzt Gail-S.-Halvorsen-Integrierte Sekundarschule, Inklusion in allen Klassen). Da hatte die Lehrerin in ihrer zehnten Klasse das Thema »Liebe, Sex und Zärtlichkeit« behandelt. Im Test danach antwortete Julian, ein Jugendlicher mit Down-Syndrom, auf die Aufgabe »Nenne Unterschiede zwischen Männern und Frauen«: »Männer trinken Bier aus Flaschen!« In der Nachbesprechung versuchten wir zu klären, warum diese Antwort durchaus zutreffend ist, bloß nicht in diesem Kontext zum Thema »Liebe, Sex und Zärtlichkeit« passt. Im Anschluss an Spitzers Theorie semantischer Netzwerke und dem Konzept fokussierter und unfokussierter Aktivierungsprozesse im Gehirn wurde der Vorschlag erarbeitet, Julian zu der fokussierten Aktivierung zu verhelfen, indem im Test zu der Aufgabe »Nenne Unterschiede …« eine Umrisszeichnung einer nackten Frau und eines nackten Mannes hinzukommt.

Offene Unterrichts­situationen

Wieweit diese Erkenntnisse zur Entwicklung und Aneignungstätigkeit von Kindern und Jugendlichen mit kognitiven Beeinträchtigungen ihrer Förderung in der Schule zugutekommen, hängt natürlich von der diagnostischen Kompetenz der Lehrkräfte ab und darüber hinaus von ihrer didaktischen Kompetenz, das heißt, wieweit sie sich von immer noch prägenden frontalen Unterrichtsformen trennen und zu Lernarrangements kommen, die zum Beispiel Wochenplanarbeit, Projekte und freie Arbeit umfassen, die selbstbestimmte Ziele und Tätigkeiten sowie Kooperationspartner zulassen.

Projektarbeit als sinnstiftendes Element

Insbesondere Projekte haben den Unterricht an der Fläming-Schule geprägt, beispielsweise die Herstellung und der Verkauf von Apfelsaft aus selbst geernteten Früchten oder der Bau von Bücherregalen für die Klassenbibliothek. Von überragender Bedeutung wurde das Blockhaus-Projekt in einer sechsten Klasse. Ausgehend von der Erfahrung, dass Geräte für die Schulgartenarbeit nachmittags von Jugendlichen aus der Umgebung gestohlen wurden, kam es zum Vorschlag ein Blockhaus mit verschließbaren Türen zu bauen. Angefangen mit der Beschaffung von Werkzeugen und Holzstämmen aus Berliner Wäldern – alles möglichst kostenfrei – der Entwurfs- und Modellbauphase bis zur Fertigstellung der Hütte, alle SchülerInnen waren engagiert beteiligt. Wer anfangs zögerte, weil er sich das eine oder andere nicht zutraute, konnte erst einmal beobachten, wie es andere machen. Kooperation und Hilfen gehörten zum Alltag der Umgangsformen. Einige SchülerInnen, die noch immer mit dem Lesen und Schreiben Probleme hatten, übten fleißig, ihre Kompetenzen zu verbessern, weil jedem einleuchtete, wenn Briefe an die Försterei zu schreiben waren, um kostenlos Holz und ihren Transport zu erreichen, kommt es auf ansprechende fehlerfreie Briefe an. Hierzu wurden dann die von Holzkamp ins Gespräch gebrachten »Lernschleifen« eingeführt, das heißt, richtig schreiben zu üben mit zahlreichen Wiederholungen – im üblichen Schulalltag oft frustrierend und unbeliebt – wurde jetzt motiviert praktiziert, weil es sinnstiftend und zur Erweiterung meiner Handlungsmöglichkeiten notwendig ist. Die »Lernschleifen« hatten sich auch beim Regal-Projekt bewährt: Löcher bohren mithilfe einer Bohrmaschine erst an Abfallholz üben und dann gekonnt an den teuren Regalbrettern ausführen.

Lernprinzipien für die Planung und Durchführung von Unterricht

Projekte bieten allen daran Beteiligten neue Chancen, ihre Rollen zu erweitern. Vor allem das in der Didaktik immer schwer zu lösende Problem zwischen objektiver Anforderungsstruktur und subjektiver Leistungs- und Tätigkeitsstruktur der Kinder zu vermitteln, lässt sich in handlungsorientierten Vorhaben gut lösen, auch und gerade im Hinblick auf die sehr heterogenen Kompetenzen in Integrationsklassen. Während meiner Arbeit im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung habe ich dann einen Kanon integrationspädagogischer Lernprinzipien entwickelt und erprobt, der sich sowohl bei der Planung von Unterricht als auch bei der Durchführung und Analyse bewährt hat. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Prinzipien:

  • ? Lernen durch Orientierung
  • ? Lernen mit allen Sinnen
  • ? Lernen durch Handeln
  • ? Lernen durch Kommunikation
  • ? Lernen durch Kooperation
  • ? Lernen durch Übung und Wiederholung
  • ? Lernen durch Selbst- und Mitbestimmung
  • ? Lernen am »gemeinsamen Gegenstand«
  • ? Lernen nach individuellen Erziehungsplänen

Welche MitstreiterInnen waren für dich besonders wichtig? Du hast ja auch schon ein paar genannt.

MitstreiterInnen

Ja, ich habe viele genannt. Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung der Schulversuche waren es die Kolleginnen Nina Hömberg, Hedwig Matt, Brigitte Schmitt und die Kollegen Rainer Maikowski und Karl-Heinz Imhäuser. Aufgrund der zahlreichen wissenschaftlich begleiteten Schulversuche in Berlin – ich denke gerade an das wohnortnahe Konzept der Uckermark-Schule – war die Vernetzung mit der GEW und den Universitäten und deren Engagement sehr wichtig. In regelmäßigen Treffen, zum Beispiel im Arbeitskreis Gemeinsame Erziehung, wurden systematisch alle bedeutsamen integrationspädagogischen Fragen diskutiert und Initiativen für die schulpolitische Entwicklung erarbeitet. Daran waren Jutta Schöler, Ulf Preuss-Lausitz, Hans Eberwein, Sabine Knauer, Sabine Dübbers, Peter Heyer, Ulla Widmer-Rockstroh beteiligt. Was psychologische, sonderpädagogische und didaktische Fragen anging, waren die Auseinandersetzungen mit Klaus Holzkamp, Georg Feuser, Wolfgang Jantzen, Hans Wocken, Christel Manske (Pseudonym Iris Mann) und Andreas Fröhlich fruchtbar. Renate Valtin unterstützt uns in allen Fragen um den Erwerb der Lese-Rechtschreibkompetenz und ein Glücksfall war es, die langjährige Mathematik-Fortbildung für die an den Schulversuchen beteiligten Lehrer durch Reinhard Kutzer und insbesondere Charlotte Zwack-Stier zu sichern. Positive Erfahrungen haben wir mit der Fortbildung durch Andreas Fröhlich gemacht, der bei uns hospitierte und uns für die Entwicklungsförderung von Kindern mit schwerer Mehrfachbehinderung sehr gute praxiserprobte Hilfen zur basalen Stimulation und zum somatischen Dialog geben konnte. Allerdings nun auch unter den Bedingungen integrativer Klassen, d. h. unter Berücksichtigung der Frage, wie durch offene Unterrichtformen die nichtbehinderten Kinder an der Förderung beteiligt werden können. Von weiterführender Bedeutung für die Förderung bei schwerer Mehrfachbehinderung war auch eine Fortbildung mit einer Berliner Sonderpädagogin, die durch ihren Aufenthalt in den USA bei Douglas Biklen dessen Konzept der Unterstützten Kommunikation im integrativen Kontext kennengelernt hatte.

Was sind aus deiner Sicht die größten Herausforderungen gewesen, sowohl persönlich als auch im beruflichen Feld?

Entwicklung zu einer Schule für alle – Fortbildungen als wichtiger Bestandteil

Eine sehr große Herausforderung fand und finde ich immer noch die Überwindung unseres nach wie vor separierenden Schulsystems und die Entwicklung einer Schule für alle, also ohne Aussonderung. Dazu gehörte die Veränderung des Unterrichts hin zu binnendifferenzierenden Formen, sprich die Verbesserung der Unterrichtsqualität durch Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte. Der Vorteil in den Berliner Schulversuchen war, dass dafür Ermäßigungsstunden gewährt wurden, sodass unsere Fortbildungsangebote, die wir als konstitutiven Bestandteil der wissenschaftlichen Begleitung ansahen, nachhaltig wahrgenommen wurden. Fortbildung zur stärkeren Berücksichtigung von Projekt- und Freiarbeit, die mathematische Fortbildung durch Charlotte Zwack-Stier von der Klasse 1 bis 6, die Unterstützung durch Renate Valtin zu Schwierigkeiten und Störungen beim Schriftspracherwerb, die intensiven »Fallanalysen«, unterstützt durch eigene Beobachtungen und Videoaufnahmen, dies alles über Jahre zu organisieren, bei zunehmender Ausweitung der Schulen und – ich erinnere noch einmal an die »Pionierarbeit« im Ostteil der Stadt, in dem zum Beispiel Kinder mit geistiger Behinderung als »schulbildungsunfähig« galten –, war anstrengend, aber die Anstrengung zahlte sich aus. Die Erfolge und die wachsende Akzeptanz bei kritischen Eltern, Schulpolitikern und skeptischen Lehrkräften beflügelten unsere Aktivitäten. Auch die zahlreichen Studienreisen, zumeist mit Lehrkräften verschiedener Schulen, nach Italien und Schweden, in Deutschland unter anderem nach Hamburg, Köln, Bonn, Hannover, ermutigten und bereicherten unsere Arbeit.

Rückschläge durch die politische Lage

Andere Herausforderungen bestanden in den nie endenden Auseinandersetzungen mit der Schuladministration. Manchmal hatte ich bei den mir in den Weg gelegten Steinen das Gefühl bewusster und gewollter Behinderung meiner Arbeit, also des bewusst herbeigeführten Scheiterns aufgrund der Frustrationserfahrungen. Beispielsweise hat man mir mehrfach untersagt, öffentlich über die von mir geleiteten Schulversuche zu berichten oder hat mit einem ahnungslosen Professor der Humboldt-Universität ein Gutachten verabredet, der mich interviewen wollte, um Genaueres über meinen Schulversuch zu erfahren. Schwieriger waren die schulpolitischen Richtungswechsel nach politischen Wahlen. Konservative Senatoren mit Rückenwind konservativer Schulräte und Stadträte versuchten dann, die Ausweitung der Integration auf die weiterführenden Schulen zu blockieren oder die Ausweitung um SchülerInnen mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung zu verhindern. Doch oft war es der öffentliche Druck, vor allem der Eltern oder Gewerkschaften, aber auch öffentlicher Anhörungen und Foren, der einschneidende Änderungen verhinderte.

Verhältnis der Universitäten

Ein interessanter Fall ist die Beziehung zu den verschiedenen Universitäten in Berlin. Die Technische Universität hatte mit Ulf Preuss-Lausitz, Jutta Schöler, Irene Demmer-Dieckmann und Norbert Weber immer Unterstützer, weil sie zum Teil selbst Schulversuche zur Integration wissenschaftlich begleiteten oder den Studierenden Seminare dazu anboten. An der Freien Universität waren es Jörg Ramseger, Hans Eberwein und Sabine Knauer, die die integrative Erziehung in zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen thematisierten. Prekär entwickelte sich das Verhältnis zum Fachbereich Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität. Norbert Stoellger, ehemals für Sonderpädagogik am Institut für Sonder- und Heilpädagogik der Freien Universität zuständig, leitete von 1983 bis 1986 mit mir vom Pädagogischen Zentrum den von der Bund-Länder-Kommission mitfinanzierten Modellversuch an der Fläming-Grundschule. Er zog sich dann immer mehr von der Arbeit für mehr Integration zurück, setzte auf die Vielfalt sonderpädagogischer Förderung, also auch weiterhin auf Sonderschulen, auf Kooperation von allgemeinen und Sonderschulen, auf Sonderpädagogische Kleinklassen und wurde Vorsitzender des Landesverbandes Berlin im Fachverband für Behindertenpädagogik (VdS). Insgesamt zeichneten sich die Sonderpädagogen der Humboldt-Universität durch große Zurückhaltung aus, was Integration und Inklusion angeht.

Versäumnisse im Wendeprozess

Wie wichtig wäre es zum Beispiel gewesen, nach der Wende im Ostteil der Stadt die Integration von Kindern mit geistiger Behinderung im Rahmen wissenschaftlich begleiteter Schulversuche im Verbund von Forschung und Lehre für und mit den Studierenden auf den Weg zu bringen, statt zuzusehen, wie neue »Sonderschulen für Geistigbehinderte« etabliert wurden. Chancen wurden nicht nur versäumt, sondern die Integration und Integrationsforscher wurden diskriminiert, zum Beispiel durch Bernd Ahrbeck in seinem Buch Der Umgang mit Behinderung. Überraschend fiel dann seine Antwort in einem Spiegel-Interview 2014 auf die Frage aus, wo er ein Kind mit Down-Syndrom gern sähe: »Ich halte es für sehr gut vertretbar, dass geistig behinderte Kinder mit nichtbehinderten gemeinsam eine Grundschule besuchen. In den weiterführenden Schulen wird es schwierig, wenn das Kind dort dem Unterricht nicht folgen kann. Da besteht die Gefahr, dass es emotional und sozial außen vor bleibt und vereinsamt.« Ich bin nun gespannt, was bei seiner gemeinsam mit Rainer Lehmann durchgeführten Längsschnittstudie zum INKA-Projekt (Inklusive Schulen auf dem Weg) in Berlin Marzahn-Hellersdorf herauskommt. Es werden die Lernausgangslagen und Lernentwicklung der Kinder und Jugendlichen beschrieben und die Lernhintergründe durch Ermittlung der emotionalen und psychosozialen Situation erfasst. In dem Modell-Projekt werden an 25 Grund- und Integrierten Sekundarschulen SchülerInnen mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung ohne Feststellungsdiagnostik aufgenommen und durch lernbegleitende Diagnostik und Förderplanung unterstützt. Zum Einsatz kommen SonderpädagogInnen von auslaufenden Sonderschulen.

Schulversuch berufliche Integration

Über den Schulversuch an der Loschmidt-Schule, in dem es unter anderem auch um den Übergang Schule – Beruf von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung ging und den ich 2002 zu begleiten begonnen hatte – mein Vorschlag Karl-Heinz Imhäuser für die Nachfolge zu gewinnen, wurde von der Schulverwaltung abgelehnt – ist von der neu beauftragten wissenschaftlichen Begleitung Sieglind Ellger-Rüttgardt und Grit Wachtel der Humboldt-Universität lediglich ein interner Jahresbericht 2003 verfasst worden, der nie öffentlich diskutiert wurde und wohl für den Schulversuch folgenlos blieb, weil keine längerfristige Kooperation und Fortbildung vorgesehen war.

Was würdest du sagen, welche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte sollten nicht in Vergessenheit geraten?

Jedes Kind ist begabt: Anpassung von Unterricht

Wie es in der Flüchtlingsfrage keine Obergrenze geben kann, so gibt es auch keine Grenzen der Integration. Jedes Kind ist begabt, es verfügt über Fähigkeiten, die Kontakte zur Umwelt zulassen. Aufgrund dieser Erfahrungen in unseren Berliner Schulversuchen hatte ich mit Renate Hetzner vorgeschlagen, statt von Kindern und Jugendlichen mit sogenannter schwerer Mehrfachbehinderung zu sprechen, von Menschen mit elementaren Lernbedürfnissen, die aufgrund ihrer Wahrnehmungstätigkeit Kontakte zu ihrer Umwelt aufnehmen können und zu ihrer Entwicklungsförderung und Erweiterung ihrer Erlebnis- und Handlungsfähigkeit konkrete Anregungen durch andere Kinder und Erwachsene benötigen und Kommunikationsformen anzubahnen, die den Austausch gemeinsamer Erlebnisse und Erfahrungen ermöglichen. Auch bei sogenannter geistiger Behinderung kommt es darauf an, Kompetenzen und Interessen aufzuspüren und für eine anregungsreiche vielfältige Umwelt zu sorgen. Für den gemeinsamen Unterricht gilt es deshalb, binnendifferenzierende und individualisierende Unterrichtsformen zu praktizieren, die den heterogenen Ausgangslagen gerecht werden. Die Erarbeitung und Erprobung der schon genannten Lernprinzipien gewann sowohl bei der Vorbereitung des Unterrichts als auch bei ihrer Analyse, auch bei der Diagnose von Schwierigkeiten individueller Lernprozesse immer stärkere Bedeutung. Hinzu kam die zu lösende Frage in unseren Schulversuchen, auf die sich von Jahr zu Jahr ergebenden Veränderungen optimal zu reagieren: neue Klassen mit neuen KollegInnen, die Übergänge von der Grundschule auf die Sekundarstufe, die Erweiterung der Gruppe von Kindern mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, sozial-emotionale Entwicklung um geistige Entwicklung und schwere Mehrfachbehinderung. Konstitutiv für unser Verständnis von wissenschaftlicher Begleitung war die Durchführung gemeinsamer Fort- und Weiterbildung, also der verbreitete Slogan »Voneinander und miteinander Lernen« galt auch für uns. Dazu hatten wir ein differenziertes und anpassungsfähiges Fortbildungssystem entwickelt. Ob Integration gelingt, das hatten schon andere empirische Untersuchungen gezeigt, hängt wesentlich von der Qualität des Unterrichts ab, von den Kompetenzen der Lehrkräfte und ihrer Fähigkeit zu Kooperation.

Und welche Arbeiten zu den theoretischen Grundlagen waren für dich be­sonders wichtig?

Lernwege von Kindern mit geistiger Behinderung

Die Arbeiten der Entwicklungspsychologin Hellgard Rauh zu geistiger Behinderung waren für mich sehr ermutigend. Sie stellte fest, dass Kinder mit geistiger Behinderung sich genauso entwickeln wie Kinder ohne Behinderung, allerdings nicht im selben Tempo und nicht so weit, was Vorstellungs- und Abstraktionsfähigkeit angeht. Verzögerungen in der sprachlichen Entwicklung hängen mit den Problemen bei der Verarbeitung sequenzieller Information zusammen. Erfolgreich sind deshalb Lernangebote, die klar sowie einfach gegliedert sind. Wenn Kinder so wenig können, wie oft beklagt wird, ist das eher ein Resultat von geringen Erwartungen, Unterforderungen und unzureichender Passung. Die in den letzten Jahren zunehmende Abfassung von Texten in Leichter Sprache sind eine erfreuliche Entwicklung.

Dazu passt der von Wolfgang Jantzen wiedergegebene Befund, dass bei geistiger Behinderung spezifische neuronale Erregungsprozesse zu der subjektiven Erfahrung führen, Anforderungen besser bewältigen zu lernen, wenn sie langsam ausgeführt werden. Die »Entdeckung der Langsamkeit« erweist sich so als erfolgreiche Handlungsstrategie.

Lernen am Modell

Die Effektivität des Beobachtungslernen – Lernen am Modell – von Bandura im Rahmen seiner Theorie des sozialen Lernens und der Selbstwirksamkeit immer wieder herausgestellt, ist mittlerweile überzeugend aufgeklärt, nämlich weil im Gehirn das System der Spiegelneurone eine »Art diskretes inneres Mittun« (Joachim Bauer) bewirkt. Dazu passt die von Manfred Spitzer formulierte Theorie semantischer Netzwerke, nach der zum Beispiel Begriffe mit anderen Begriffen ein semantisches Netz bilden, dass bei kognitiven Anforderungen normalerweise zu der gewünschten fokussierten Aktivierung kommt, also adäquat auf Fragen richtige Antworten generiert, bei unfokussierter Aktivierung allerdings zu viele Angebote gemacht werden und es deshalb in der von mir schon erzählten Episode ein Schüler mit Down-Syndrom auf die Frage nach dem Unterschied von Frauen und Männern die Antwort gab: »Männer trinken Bier aus Flaschen!«, eine in sich stimmige Reaktion, aber inadäquat in einem Test nach der Unterrichtseinheit »Liebe, Sex und Zärtlichkeit«.

Welche empirischen Forschungen fandest du besonders wichtig, gab es da welche?

Empirische Forschungen

Einige habe ich genannt, z. B. Wolfgang Sucharowski mit seinen Untersuchungen zu Verständigungs- und Verstehensprozessen in Integrationsklassen oder die Arbeiten von Reinhard Kutzer zum kind- und sachgemäßen Lernen im struktur-niveauorientierten Mathematikunterricht. Was die Forschung zur Lern- und Leistungsentwicklung in Integrationsklassen angeht, finde ich nach wie vor die Untersuchungen von Haeberlin, Tent und Wocken und die damit im Zusammenhang stehenden Selbsteinschätzungen der SchülerInnen wichtig. So bemerkt Haeberlin, dass an Sonderschulen gegen Ende der Schulzeit die anfangs positive Selbsteinschätzung absinkt. Erwähnen möchte ich auch die Untersuchung von Rainer Lehmann, der die Fachleistungen Berliner SchülerInnen der Klassen 8 bis10 an Sonderschulen für Lernbehinderte erhoben hat und für einen großen Anteil Leistungen auf »untersten Niveau« eines Tests für die Grundschule in den Klassen 4 und 5 feststellte, außerdem große Unterschiede zwischen den Schulen nachwies: schlechte Leistungen einer Schule würden an anderen Schulen zu den besten gehören, also wieder die Erkenntnis: auf die Qualität des Unterrichts kommt es an. Zur sozialen Integration sind mir die Arbeiten von Preuss-Lausitz und Wocken wichtig. In Wockens Untersuchung zur sozialen Distanz bei SchülerInnen aus Integrationsklassen, aus Haupt- und Gesamtschulen, sowie Sonderschulen zeigte sich die geringste soziale Distanz gegenüber Kindern mit geistiger Behinderung bei den Integrationskindern, die stärkste Distanz bei den SonderschülerInnen. Ulf Preuss-Lausitz hat in den Klassen 1 bis 6 der Berliner Uckermark-Schule Soziogramme durchgeführt und gezeigt, dass sich von Jahr zu Jahr das soziale Klima verbesserte und die anfangs unbeliebteren Jungen sich an die Mädchen anglichen. Die immer wieder zitierte Kontakt-Hypothese von Cloerkes wird damit einmal mehr bestätigt.

Zu wenig beachtet werden meines Erachtens die empirischen Untersuchungen zur Lern- und Leistungsentwicklung in heterogenen Klassen von Andreas Helmke und Hartmut Ditton. So hat Helmke nachgewiesen, wie es gelingen kann, in Mathematik zu überdurchschnittlichen Leistungen zu kommen bei gleichzeitiger Verringerung der Leistungsstreuung, meint leistungsstärkere und leistungsschwächere SchülerInnen gleichermaßen gut zu fördern. Der Unterricht zeichnete sich durch folgende Merkmale aus: klare Strukturierung, echte Lernzeit, Förderorientierung, also durch diagnostische Kompetenz, die sich in Variation der Schwierigkeit der Anforderungen und Kleingruppenarbeit äußert, eine freundlich-ermutigende Lehrer-Schüler-Beziehung, »Langsamkeits-Toleranz«, also kein Zeitdruck, zusätzliche Lernzeiten, Gelassenheit, Geduld. Wer so unterrichtet – ein weiterer Befund von Helmke – erreicht eine günstige Entwicklung des Selbstvertrauens und der Freude am Lernen. Ditton stellte in seinen 37 vierte Grundschulklassen fest, dass in Klassen mit großer Streuung geringere Anforderungen gestellt werden, ein Hinweis – wie es Ditton formuliert – auf ein reduziertes Engagement dieser Lehrergruppe.

Forschungszugänge bei schweren Mehrfachbehinderungen

Zu deiner Frage nach empirischen Untersuchungen möchte ich doch noch ergänzen, dass bei schwerer Mehrfachbehinderung nur qualitative Untersuchungsmethoden infrage kommen, weil sich die Kinder stark voneinander unterscheiden und zur Einschätzung Fallstudien deshalb geeigneter sind. Hierzu hat Jakob Muth in seinem Buch Tines Odyssee zur Grundschule eindrucksvolle Beispiele beschrieben.

Förderung der individuellen Subjektivität

Ein weiteres adäquates Verfahren ist die sogenannte »Entwicklungsfigur«, das von Morus Markard und anderen sowie Klaus Holzkamp im Projekt »Subjektentwicklung in der frühen Kindheit« erprobt wurde. Bei der Entwicklungsfigur zur Förderung der individuellen Subjektivität werden folgende Instanzen unterschieden: 1. Instanz: Beschreibung eines störenden Verhaltens oder einer störenden Kooperation/Kommunikation, d. h. einer Problematik individueller Lebenspraxis, 2. Instanz: Analyse und Deutung der Problematik, 3. Instanz: Angebote und Alternativen zur Veränderung der Lebenspraxis, 4. Instanz: Retrospektive, Analyse des veränderten Verhaltens. Hieran habe ich mich auch in den Berliner Schulversuchen orientiert. Ein Beispiel: 1. Instanz: Ein Mädchen in der Vorklasse verhielt sich anderen gegenüber aggressiv, nahm ihnen Brote oder Bücher weg, schrie sie an und neigte zu Wutanfällen. Wenn sie sich wehrten, beschimpfte sie sie oder zog sich zurück und fiel in stereotypische Verhaltensmuster. 2. Instanz: Aufklärung und Deutung. In Gesprächen mit der Mutter erfuhren wir, dass ihre Tochter durch längere Krankenhausaufenthalte und krankheitsbedingt kontaktarm und unter sterilen und isolierenden Lebensumständen aufwuchs. Sie litt auch unter Krampfanfällen. Unsere Hypothese war, dass das Mädchen unter diesen Bedingungen nur sehr eingeschränkt adäquate Kommunikations- und Kooperationsformen entwickeln konnte und ihr konkrete und sinnlich-materielle Erfahrungen fehlten. 3. Instanz: Lebenspraktische Angebote machen: Abwaschen des Frühstückgeschirrs, Herstellung und Abfüllen von Apfeltee, Abräumen und Aufräumen und ähnliches. Tatsächlich fand sie daran großes Interesse. Bei diesen Tätigkeiten kam es zu vorsichtiger Annäherung und Kooperation mit anderen Kindern, die sie immer mehr zuließ und die zu ersten kleinen Gesprächen führten. Faszinierend war ihr fast schon ritualisiertes Verhalten beim Abwaschen: Wasser einlassen, den Schaum des Spülmittels auf den Händen und Armen beobachten, darauf Einfluss nehmen, dabei genau hinzusehen, dafür nahm sie sich viel Zeit. 4. Instanz: Der Weg aus der Isolation in die Integration bahnte sich an. Sprachlich-kommunikative Umgangsformen verbesserten sich, andere Kinder kamen häufiger auf sie zu und sie reagierte zunehmend mit Offenheit und Freundlichkeit.

Ja. Was waren aus deiner Sicht die interessantesten Streitpunkte innerhalb der ForscherInnengemeinschaft.

Unterrichtsmethodik

Die Auseinandersetzung um die adäquate Didaktik und Unterrichtsmethodik. Da gab es immer heftige Auseinandersetzungen zwischen Wocken auf der einen Seite und Feuser auf der anderen Seite. Feuser war immer der Meinung, der Unterricht, den er auch bei uns gesehen hat, sei mangelhaft. Unterricht müsse in Projekten realisiert werden. Zugegeben, Projektarbeit – gerade in Integrationsklassen – bietet sehr viele Vorteile: Alltagsbezug, konkret-materielle Aneignungstätigkeiten, Übung und Wiederholung als »natürliche« Begleiter, also in sinnvollen Handlungszusammenhängen, Mitbestimmung der Kinder, selbstständiges Lernen, Lernen am Modell, Chancen für Kooperation und Präsentation und so weiter. Dennoch glaube ich, dass Projektarbeit nur eine, wenn auch die beste Unterrichtsform, aber nicht die einzige ist. Zur Öffnung des Unterrichts sind auch viele andere Arrangements geeignet: Freiarbeit, Wochenplanarbeit, Stationenlernen, Lernspiele, Präsentationen, Partnerarbeit, vorbereitete Lernumgebung, wie sie in der Montessori-Pädagogik vorgesehen ist, lebenspraktisches Lernen, Lernen in Teilgruppen, die Praxis der Lernschleifen für auftretende Schwierigkeiten beim Rechnen oder beim Schriftspracherwerb. Ungläubiges Staunen stellte sich auch bei mir regelmäßig ein, wenn Georg Feuser mich davon überzeugen wollte, dass jeder Mensch alles lernen könnte, auch die Einstein’sche Relativitätstheorie. Ich habe es wirklich versucht, aber immer noch nicht kapiert.

Pädagogische Konzepte

Von didaktischer Relevanz waren auch die Einschätzungen der verschiedenen pädagogischen Konzepte wie Freinet-Pädagogik gegenüber Montessori-Pädagogik. Zweifellos hat sich zum Beispiel die Freinet-Druckerei für die Arbeit in Integrationsklassen hervorragend bewährt, weil sich vom Farbauftrag der Walzen über das Schreiben der Wörter mit Metalllettern bis zum fertigen Text alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten, Interessen und Lernvoraussetzungen beteiligen können. Bei den Schütt- und Gießübungen von Montessori bin ich dagegen skeptisch, weil die dabei zu erwerbenden Fertigkeiten beim tagtäglichen Teekochen und Abfüllen zum Frühstück in einem viel sinnvolleren Handlungszusammenhang stehen. Was die Materialien zum Mathematikunterricht angeht, halte ich die rot-blauen Stangen, die Spindeln oder das goldene Perlenmaterial zur Ausbildung von Zahlbegriffen oder Rechenoperationen für weniger geeignet als das von Reinhard Kutzer erprobte Konzept des niveau- und strukturorientierten Mathematikunterrichts und dem dafür konstruierten Rechenzug, z. B. für die Operationen Addieren und Subtrahieren durch Ab- und Aufladen von Kisten, und den vielen Lernspielen mit Wendeplättchen oder das Büchsenspiel zur Zahlzerlegung.

Spannend bei den Jahrestreffen waren auch die Auseinandersetzungen und Anregungen um die besten Untersuchungsmethoden: empirische Untersuchungen mit großen Stichproben gegenüber qualitativen Methoden wie Fallstudien, Längsschnittuntersuchungen gegenüber Methoden zur Totalerfassung des Unterrichtsgeschehens, Videoanalysen, Interviewtechniken und so weiter.

Gab es Bezüge zu anderen Teildisziplinen, also sei es feministische Pädagogik, migrationsorientierte Pädagogik. Oder gab es auch Probleme in Bezug zu den anderen Teildisziplinen?

Helferstrukturen bei Jungen und Mädchen

Im Fokus unserer Arbeit stand immer wieder die Beobachtung, dass Mädchen häufiger als Jungen anderen halfen, insbesondere Kindern mit Beeinträchtigungen, beispielsweise beim An- und Ausziehen. Wir haben dann herausgefunden, dass von den Mädchen häufiger Hilfen ausgehen, die in der Klasse eine Randposition einnehmen. In den täglichen oder am Ende einer Woche angesetzten Klassengesprächen diskutieren dann die Kinder miteinander und verabredeten, z. B. zurückhaltender bei Hilfen zu sein und genauer hinzusehen, wann eine Unterstützung angebracht ist. Ein Beispiel: Swenja schreibt einen kleinen Text. Sie schreibt sehr langsam, weil sie aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigung Mühe hat, den Bleistift festzuhalten. Jetzt verliert sie ihn, er fällt auf den Fußboden. Sehr langsam rutscht sie von ihrem Stuhl, um ihn wiederaufzuheben. Sie schafft es und setzt ihre Arbeit fort. In ähnlichen Fällen hatten ihr früher Mitschülerinnen spontan geholfen, sie haben den Stift vom Boden aufgehoben und ihr auf den Tisch gelegen. Die Lehrerin hatte dies schon häufig beobachtet und sprach dann mit allen Kindern darüber. Am Ende wurde vereinbart, dass es besser ist, wenn Swenja solche Situationen selbstständig und ihrem eigenem Tempo zu bewältigen lernt. Das ist gemeint, wenn von lernbegleitender Diagnostik die Rede ist.

Eltern mit und ohne Migrationshintergrund

Migration, das war natürlich auch immer wieder ein Thema. Uns war aufgefallen, dass türkische Eltern sich sehr stark für die Integration interessierten, weil sie die Sonderschule ablehnten. Im Laufe der Schulzeit stellten sie dann allerdings fest, dass ihre Kinder mit Lernbeeinträchtigungen doch nicht so schnell und erfolgreich lernten wie die anderen und wie sie es erwarteten. Ihr Missverständnis bestand darin, dass Integration schnell alle Probleme löst. Bei auftretenden Schwierigkeiten neigten sie dazu, die Kompetenzen der LehrerInnen und SonderpädagogInnen in Zweifel zu ziehen. Dies erlebten wir allerdings auch bei deutschen Eltern. Es kam vor, dass sie ihre Kinder zur Sonderschule schickten, weil sie sich dort eine bessere Förderung erwarteten. Hinzu kam mit zunehmendem Alter die Sorge, wie es nach der Schule weitergeht. Einigen Eltern sowohl deutscher wie nichtdeutscher Herkunft bot die Sonderschule mit der Aussicht auf sozialpflichtige Beschäftigungsverhältnisse in einer Werkstatt für Behinderte mehr Sicherheit.

Du hattest es vorhin schon kurz angesprochen, welche zukünftigen Aufgaben und zukünftigen Herausforderungen siehst du für die Praxis und welche für die Forschung?

Inklusion an den beruflichen Schulen

Ganz wichtig sind mir die Beschäftigungs- bzw. Berufsperspektiven von Jugendlichen mit Beeinträchtigungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, also Alternativen zu den Werkstätten für Behinderte zu finden. Für den Übergang Schule – Beruf fehlt es an öffentlichem Interesse. Dabei gab es schon einige gute Ansätze. Das SprungBRETT-Projekt und andere Projekte des ISB (Gesellschaft für Integration, Sozialforschung und Betriebspädagogik). Doch die zeitliche Befristung dieser Modellprojekte haben zu keiner nachhaltigen Entwicklung geführt, dass zum Beispiel die Arbeitsagentur oder die Integrationsfachdienste es zu ihrer Aufgabe machen, auch und gerade Menschen mit geistiger Behinderung auf dem Weg ins Arbeitsleben zu qualifizieren und dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Die Arbeitsagentur ist an schnellen Vermittlungsabschlüssen und hohen Fallzahlen interessiert. Schon in der Integrierten Sekundarschule muss es mit sorgfältig ausgewählten und kontinuierlich begleiteten Praktika als Teil persönlicher Zukunftsplanung beginnen und an den Berufsschulen mit ihren verschiedenen Berufsfeldern weitergehen. Zur Vermeidung eines undurchsichtigen Maßnahmendschungels kommt den regionalen Integrationsfachdiensten eine entscheidende Aufgabe zu: Akquirierung von Arbeitsplätzen, auch im öffentlichen Dienst der Stadtbezirke, Aufbau eines Netzwerks von Partnerbetrieben und Unternehmen, Arbeitsplatzanalysen und schließlich die längerfristige Arbeitsbegleitung der Jugendlichen mit Abschluss einer Ausbildungsvergütung und Absicherung durch Lohnkostenzuschüsse. Auf diese Weise kann es gelingen, Jugendliche mit sogenannter geistiger Behinderung erfolgreich zu vermitteln. Stefan Doose hat in einer Verbleibs- und Verlaufsstudie gezeigt, dass sich nach neun Jahren von 251 Personen noch zwei Drittel in festen Arbeitsverhältnissen befanden. In Berlin müsste der von der Senatorin für Bildung, Jugend und Wissenschaft gerade neu berufene Beirat »Inklusive Schule« die schon begonnene Arbeit »Inklusion an den beruflichen Schulen« verstärkt fortsetzen und auf die Vernetzung mit den regionalen Integrationsfachdiensten ausdehnen.

Nachschulische Entwicklung

Zu der Frage nach den Lebenswegen von Jugendlichen mit geistiger Behinderung und schweren Mehrfachbeeinträchtigungen nach der Schule, ihrer Persönlichkeitsentwicklung, ihren Partnerschaftsbeziehungen, ihrer Freizeitgestaltung, ihrer Wohnsituation und so weiter, gibt es kaum Forschungsarbeiten, geschweige denn Langzeitstudien. Diese dringende Aufgabe auch unter Berücksichtigung der internationalen Forschung böte eine brauchbare Grundlage für viele praxisrelevante Fragen, zum Beispiel wie schon während der integrativen Schulzeit die persönliche Zukunftsplanung zu gestalten ist und welche Personen und Institutionen daran zu beteiligen sind.

Notwendigkeit der Qualifizierung der Lehrkräfte

Ein weiterer forschungs- und praxisrelevanter Aspekt betrifft das Qualifizierungsproblem der an inklusiver Bildung und Erziehung beteiligten Lehrkräfte. Wenn in Berlin zurzeit der Anteil der Inklusionskinder schon von knapp 65% auf 70% ansteigt, in den Klassen 1 bis 3 für die Bereiche Sprache, Lernen und emotional-soziale Entwicklung keine Statusdiagnostik mehr durchgeführt wird und gleichzeitig fast 50% der neu eingestellten Lehrkräfte Quereinsteiger sind, wird deutlich, wie wichtig eine Qualifizierungsoffensive ist. In einem berlinweiten Schulversuch, in dem Lehrkräfte von guten Schulen, zum Beispiel von den Schwerpunktschulen, mitarbeiten, müssten die wichtigsten Kompetenzen erfolgreichen Unterrichts vermittelt werden. Dazu könnten die didaktischen Untersuchungen von Schöler, Wocken, Feyerer, Meyer, Helmke und die Berliner Erfahrungen mit den integrationspädagogischen Lernprinzipien herangezogen werden. Von besonderer Bedeutung für erfolgreichen Unterricht – dies ist bisher vernachlässigt worden – sind die lernprozessbegleitenden diagnostischen Kompetenzen, also die Fähigkeit, bei Aneignungstätigkeiten zwischen der objektiven Anforderungsstruktur und der subjektiven Leistungsstruktur zu vermitteln. Eine gute Zusammenarbeit der LehrerInnen mit den SonderpädagogInnen im Mehr-Pädagogen-System erleichtert diese Tätigkeit. Um Aussagen darüber zu gewinnen, wie effektiv die Fort- und Weiterbildungsprogramme sind, müsste eine wissenschaftliche Begleitforschung hinzukommen, die auch die Rahmenbedingungen wie Klassenfrequenzen, zusätzliche Stunden für Fördermaßnahmen usw. erfasst. Die finnischen Erfahrungen haben gezeigt, dass es sich lohnt, gerade zu Beginn der Schulzeit verstärkt zusätzliche Stunden zur Förderung schwächerer SchülerInnen insbesondere beim Spracherwerb einzusetzen, weil kommunikative und schriftsprachliche Kompetenzen grundlegend für alle darauf aufbauenden kognitiven Kompetenzen sind. So kann die Entwicklung von Lernschwierigkeiten und die Erfahrung von Misserfolgen von vornherein vermieden werden.

Die UN-Behindertenrechtskonvention durchzusetzen darf nicht dadurch behindert werden, dass die Lehrkräfte aufgrund defizitärer Ressourcen und unzureichender Qualifizierung das Gelingen von Inklusion in Schule und Gesellschaft infrage stellen.