Interview mit Wolfgang Jantzen

Interview mit Wolfgang Jantzen als PDF

Wie sind Sie selber zur integrativen Pädagogik gekommen?

Integration im Kindergarten

Das Erste, was ich zur Integration gemacht habe, war die Unterstützung hier in Bremen im Kindergarten der Spastikerhilfe, wo die MitarbeiterInnen Fortbildungen eingefordert hatten. Ich saß dann morgens um 7 Uhr, vor Dienstanfang, bei ihnen.

Fortsetzung der Integration von der Kita in die Schule

Und daraus hat es sich dann entwickelt, dass wir eine Reihe von schwerstbehinderten Kindern in die Schulen gebracht haben. Wohlgemerkt in Bremen, wo die Körperbehindertenschule und die Geistigbehindertenschule steif und fest behauptet haben, wir beschulen alle Kinder. Es gebe hier keine nicht beschulten Kinder. 14 gab es. Im ersten Zug haben wir vier reingekriegt, mit ganz ausführlichen Gutachten, die wir mit MitarbeiterInnen und Eltern gemeinsam geschrieben haben, 40 bis 50 Seiten, wo wir die Kompetenzen, die Entwicklungslogik gezeigt haben. Ja, und dann wollte die Schulbehörde nur drei Kinder aufnehmen, wir wollten aber vier rein haben. Dann hatte ich die Idee, die wir dann verfolgt haben, dass wir die drei Kinder vorschlagen, die am ältesten sind, und das jüngste Kind kann noch warten. Denn eines der älteren Kinder war ein türkischer Junge, der wäre sonst sicher draußen gewesen. Das jüngste Kind war aber, wie es das Glück wollte, das Kind des zweiten Vereinsvorsitzenden, einem Mediziner, und der hat beim Senator dann sofort auf der Platte gestanden und Krach gemacht, und alle vier Kinder wurden eingeschult.

Arbeit mit Familien in prekären Lebensverhältnissen

Und im nächsten Zug zehn Kinder und dadurch hatten wir das geöffnet, aber die Spastikerhilfe drohte Pleite zu gehen, also haben wir mit Zustimmung des Jugendamtes einen integrierten Kindergarten aufgemacht, in dem Umfeld im Bremer Süden, dort wo die große Hochhaussiedlung ist, mit sehr vielen prekären Lebensverhältnissen und auf der anderen Seite gut bürgerliche Wohnungen. Beide Gruppen hatte man dort getrennt. Ein entscheidendes Erlebnis noch in der Fortbildung war dann, dass nun plötzlich die schöne Zeit aufhörte, wo unsere MitarbeiterInnen zu den Müttern, ebenfalls Mittelschicht, gehen konnten, und schön Kaffee trinken konnten und sich über das Kind unterhalten und gut war’s und geschehen ist nichts. Und jetzt wurden die Elternbesuche anders. Sie landeten in der Familie, ich meine es wäre die Familie eines Jungen gewesen, der sehr schwer gestört war, weil er im Alter von vier Jahren – oder vorher – in der Badewanne sich schwer verbrannt hat im heißen Wasser und Vernarbungen hatte, wo wir auch gesondert noch mal geguckt haben, dass wir ihn mit therapeutischen Interventionen aufbauen. Alles aus dem Bestand der Leute, die wir da hatten, zum Teil Leute, die bei uns studiert haben oder hatten. Und als sie dann in die Familie kamen, da war es nicht mehr das gemütliche Kaffeetrinken, da saß der Vater am Tisch mit der Schnapsflasche und holte die Hakenkreuzfahne hinterm Schrank raus. Und unsere Mitarbeiterin oder unser Mitarbeiter, wer da war, war entsetzt. Ich habe drei Stunden gebraucht bis ich ihnen klargemacht hatte, dass sie hier nicht in politischer Absicht sind, sondern etwas für das Kind und die Familie zu tun haben. Und später habe ich dann erfahren, dass unsere MitarbeiterInnen einen guten Rechtsanwalt gesucht haben und vermieden haben, dass das Kind aus der Familie genommen wurde. Und dazu wurden sie dann gut unterstützt, auch von der Einrichtung. Das war die erste Integrationssache.

Politischer Druck

Die haben wir nicht richtig abschließen können – das war Anfang der 80er Jahre –, weil dann großer politischer Druck kam in Bremen. Die haben nämlich zu recht befürchtet, dass wir uns im Sektor Süd auch in der Früherkennung und allem breitmachen wollten. Und dann wurden die Gehaltsüberweisungen durch die Sparkasse verzögert. Wir haben uns auch nicht beliebt gemacht. Die Spastikerhilfe hatte auch eine Erwachsenentagesstätte und da saßen wir eines Tages im Büro des Senatsdirektors Hoppensack und haben protestiert. Wir haben auch nichts ausgelassen. Dann wurde das verzögert. Es gab Angriffe auf die Geschäftsführung und ähnliches und schließlich wurde die Geschäftsführung ausgewechselt und es wurden Stück für Stück die MitarbeiterInnen rausgemobbt. Unter den Bedingungen haben wir alles an Aktenbestand noch kopiert und haben gerettet, was wir hatten. Und später hat Dietlind Seidler, die die Leitung der Kindertagesstätte innehatte, darüber ihre Diplomarbeit geschrieben. Sie ist auch als Buch publiziert: Integration heißt sozialen Ausschluss vermeiden (Seidler, 1992).

Begriffsdiskussion Integration und Inklusion

Aus diesem Grund habe ich etwas gegen diese Trennung von Inklusion und Integration. Wenn man so will, haben wir immer Inklusion gemacht. Und alles andere sind dämliche Wortspiele, um an der wissenschaftlichen Oberfläche zu bleiben, oder was man dafür hält, und möglichst gut Geld abzuzocken. Und dazu ist ja Inklusion ein gutes Wort. Es tauchen ja Heerscharen von Leuten auf, die früher mit Behinderung nie was im Sinn gehabt haben.

Elternhaus und religiöse Erziehung

Nun muss ich Ihnen noch mal ein bisschen mehr dazu sagen, wie ich dazu gekommen bin, dies ist ja nur ein Ausschnitt: Aus einer richtig dicken protestantischen Erziehung durch meine Großmutter, mein Vater ist gefallen, meine Mutter war als Kriegsverbrecherin zweieinhalb Jahre in Internierungslagern nach dem Krieg. Sie war Lagerärztin in Ravensbrück bis zu meiner Geburt. Es steckt noch mehr an Familiengeschichte drin, kann man gleich erwähnen. Mein Vater war bei der Waffen-SS und ist 1944 in Frankreich gefallen und es hieß immer Division »Götz von Berlichingen« und dann kam immer wieder der Name Eicke ins Spiel, Papa Eicke hätten sie ihn genannt. Götz von Berlichingen hieß die Division, gab’s aber erst von 1943 an und von 1938 an war mein Vater in Frankreich und später in Russland. Mit Papa Eicke, Divisionskommandeur der SS-Totenkopf Division und teilweise auch Lagerleiter von Dachau. Das sind also die netten Familiengeschichten. Gut, das erklärte es, warum ich durch meine Großmutter großgezogen wurde und das Glück hatte, dass wir eine wunderbare Haushaltshilfe hatten, die aus dem Dorf kam, wo wir gewohnt haben. Sechs Geschwister, kleine Familie, Vater war Zimmermann, Landwirtschaft auf Nebenerwerb und ich habe erhebliche Zeit meiner frühen Kindheit dort mit in der Familie verbracht. So, und dadurch war ich religiös infiziert. Bibel gelesen, vor allem die Kriminalgeschichten aus dem Buch der Könige, und auch später war ich sehr auf Religion aus, auch noch nachdem wir verheiratet waren.

Schule

Zwischendurch war mal Scheitern in der Schule. Ich habe alles an Verwarnungen gehabt, was man auf der Schule haben kann. Heute würde ich mal sagen, meine Diagnose wäre ADHS gewesen, etwa 20 Klassenbucheinträge im Halbjahr, Consilium abeundi, Verwarnung vor der Klasse, Verwarnung vor der Schule – ich habe alles kassiert –, einmal sitzengeblieben und drohte dann in der Mittelstufe ein zweites Mal sitzenzubleiben. Ich bin dann zur See gefahren, ein Dreivierteljahr. Wieder zurück über ein Realgymnasium auf dem Land, mit Internat (Paul-Gerhardt-Schule in Laubach), habe da meine mittlere Reife gemacht und auf der Wirtschaftsoberschule in Gießen dann Abitur gemacht und war dann der erste Schüler in Hessen, der, weil er heiraten musste, nicht von der Schule flog, und da in der Zeit auch noch mit meiner Frau zusammen. Bis einfach dann im Kontext Studierendenbewegung der Bruch mit Religion und Kirche kam, ja mein Gott, wir hätten uns fast noch evangelisieren lassen von irgendwelchen Sekten. Ja, das saß tief drin. Und ich war im Studium dann schon drauf gestoßen, auf Behinderung.

Was war das für ein Studium?

Studium

An der Hochschule für Erziehung in Gießen. Die dann Abteilung für Erziehungswissenschaften wurde und damit hatte ich nachher das Vollabitur, weil ich dann den Lehramtsabschluss hatte. Gerade rechtzeitig, als es dann Abteilung wurde. Und mit einem universitären Abschluss hatte ich dann Vollabitur. Dadurch konnte ich mich für das Psychologiestudium immatrikulieren. In dieser Zeit des Lehramtsstudiums habe ich dann diese Lehrveranstaltung besucht. Das hat der Leiter der Einrichtung Treysa/Hephata, Dr. Rünger, organisiert (Rünger, 1962). Er hat uns das alles vorgeführt und besonders ein Haus – ich habe die Bilder noch heute vor Augen – ich habe es etwa dreißig Jahre später wiedergesehen und wusste sofort, das ist es. Das Haus Emmaus, wo eine Gruppe von erwachsenen behinderten Männern zerlumpt in einem großen Raum waren, der weiß gekachelt war und nach Urin stank, einen schmutzigen Teddy gab’s und einer dieser Männer lief auf meine Frau zu und sagte: »Mama«. Da war natürlich dann mein protestantisches Herz mehr als gerührt, und ich habe mich dann entschlossen: Sonderschule, das wird es.

Stelle an einer Sonderschule

1966 habe ich das Staatsexamen gemacht und ich habe dann gesehen, dass ich nach dem Examen eine Stelle an der Sonderschule bekomme. Das war im Kreis Gießen, in Lich, an der Schule und dann eine evangelische Pfarrersfrau als Rektorin. Und aus dieser Zeit heraus bekam ich dann gleich die Anweisung: Herr Jantzen, das ist eine Klasse, die hat gerade einen alten Volksschullehrer fertiggemacht, da müssen Sie draufhauen, wenn’s nicht anders geht. Das habe ich zwei Jahre getan, bis ich gemerkt habe, was für einen Schrott ich gemacht habe und dann nie wieder.

Studierenden­bewegung

Das fiel dann Stück für Stück mit der Studierendenbewegung zusammen. Und dann habe ich auch gemerkt, was mit den Kindern wirklich vorgegangen ist, wie sie entrechtet wurden, gedemütigt wurden. Ich habe gesehen, dass ich morgens immer Vorlesestunde gemacht habe, weil die von den Dörfern kamen und teils todmüde waren. Im Kontext Studierendenbewegung habe ich Brechts Kinderlied von den drei Soldaten mit ihnen behandelt, damit sie endlich lernen, dass sie sich wehren dürfen und anderes mehr. Ja, und dann habe ich erfahren, was mit denen im Konfirmandenunterricht gemacht wurde, und dann war bei mir Schluss mit Kirche, da bin ich ausgetreten. Religiös geworden bin ich erst sehr viel später wieder, aber das ist eine atheistische Variante von Religiosität. Das gehört ein bisschen dazu, um das alles zu begreifen.

Bezug zur
Gesamtschule

Und dann sind wir aus dem Ort wo wir wohnten, in der Nähe des Landkreises Gießen, wo meine Mutter auch die Arztpraxis hatte, nach Gießen gezogen, und unsere Kinder wurden dann in Gießen eingeschult, das muss 1970 gewesen sein. Da hatte ich schon mein zweites Staatsexamen und auch mein Diplom (1969). Staatsexamen hatte ich ab 1966; ich habe da in der Schule gearbeitet und das andere nebenher durchgezogen. Dann war meine Tochter Franziska in der Vorschulklasse der Gesamtschule Gießen-Ost und ich war dort Elternvertreter und habe mich auch auf die Stelle der pädagogischen Leitung beworben. Mit einem Referat, das verlangte, dass die Schule sich für Integration öffnet.

Verband deutscher Sonderschulen –
die Übernahme des Landesverbands Hessen

Und zu der gleichen Zeit hatten wir den Verband Deutscher Sonderschulen im Landesverband Hessen gekippt, gegen den Bundesvorstand, und waren die bestgehassten Leute im Verband, haben später zum Teil auch Nazi-Vergangenheit von ehemaligen Verbandsgrößen aufgedeckt, das waren Examensarbeiten hier aus Bremen. Jedenfalls haben wir damals mit Briefaktionen über ganz Hessen die Verbandsführung bekämpft, über GEW-Verteiler. Und dann haben Georg Feuser und ich und ein paar andere sich gefunden, die hatten ja im Institut in Marburg gerade den alten Herrn von Bracken aus der Leitung raus gekippt. Hatten dort eine Heilpädagogische Aktionsgemeinschaft aufgemacht, durch die unter anderem der Skandal im Kalmenhof aufgedeckt wurde. Damals gab es auch eine enge Zusammenarbeit mit der Lebenshilfe. Bevor ich die Stelle in Marburg angetreten habe, auch über diesen Zusammenhang vermittelt, habe ich die erste Freizeit mit geistig behinderten Kindern gemacht, die noch nie in der Schule oder außerhalb der Familie waren.

Konflikte mit dem Kultusministerium

Und in all diesen Kontexten hat sich das Ganze entwickelt, wie gesagt. Aus der Stelle der pädagogischen Leitung an der Gesamtschule Gießen-Ost ist nichts geworden, da ist erst mal der alte Hauptschulrektor vorgezogen worden. Im Prinzip habe ich das, was ich dort als Referat gemacht habe, beim Bewerbungsverfahren in Heidelberg vorgetragen und bin damit auf Platz 1 der Liste gekommen (Jantzen, 1977). Meine Freunde aus dem VDS haben offensichtlich das Referat in das Kultusministerium gespielt und dann bin ich wieder ausgeladen worden. Die Stelle stünde nicht mehr zur Verfügung und ein Dreivierteljahr später habe ich erfahren, dass sie an jemand anderes vergeben worden ist. Eine hessische Lehrergruppe hat dreimal unsere Entfernung aus dem Dienst verlangt, da war ich schon in Marburg, weil wir SchülerInnen zum Klassenkampf verhetzen würden. Wir sind schon damals konsequent für Integration eingetreten. Das waren damals die Arbeiten von Holger Probst erstmalig, aber eigene Arbeiten auch, die in ein Habilitationsprojekt gehen sollten, die mit aufgedeckt haben, dass entscheidend für ihre Eingruppierung die sozial geschaffenen Differenzen zwischen HauptschülerInnen und SonderschülerInnen sind. Und dass sie vor allem in der Perspektivlosigkeit und Hoffnungslosigkeit der Familien gründen, das war es, was ich in meinem Habilitationsprojekt untersucht hatte, aber ich hab’s nicht mehr fertiggestellt. Es ist dann liegengeblieben.

Marxistisches Denken

So bin ich Stück für Stück in die Integrationsgeschichte reingerutscht und durch Marburg und durch den Fachbereich 3 natürlich in marxistisches Denken. Das hat auch einen Anlass: Gießen war eine Hochburg des schwarzen Flügels der Studierendenbewegung und noch 1969 haben wir die aus Marburg mit den roten Fahnen ausgebuht. Dann war 1970 der Vorschulkongress, da bin ich mit einer Kollegin und Sonderschulrektorin hingefahren, die nebenbei eine sehr berühmte Schwester hat. Diese Sonderschulrektorin war dann später auch Vorsitzende vom VDS in Hessen, Wienke Zitzlaff, ihre Schwester war Ulrike Meinhof. Das war ein sehr dichtes Geflecht in dieser Zeit, in dem man sich bewegt hat.

Politisierung

Beim Vorschulkongress hat Hildegard Hamm-Brücher das Einleitungsreferat gehalten und erzählt, wie wunderbar sie etwas gegen Ausgrenzung und Arbeiterkinder in Hessen tun mit ihren Gesamtschulen. Sieben Stück gab es und ich wusste genau, wie es aussieht. Und wusste, dass sie das Blaue vom Himmel herunter gelogen hatte. Dann stand ein junger Mann am Mikro, der genau das aufgezählt hat, was alles nicht stimmt. Pech war nur, dass der bei einer Gruppe war, die rote Fahnen hatten, Reinhardt Wolf. Ja, und dann habe ich mich zur sozialistischen Aktion geschlagen. Dann gab es eine große Veranstaltung zu Behinderung mit etwa 1.000 Leuten, die teilnahmen. Die von der Sozialistischen Aktion haben gesagt: »Da gehst du jetzt hin, da hast du Ahnung davon, aber sag auch ja was vom Klassenkampf.« Das fiel mir nicht allzu schwer, denn ich hatte ja noch das Haus Emmaus vor Augen. Und dann saßen sie da vorne, unter anderem der Vorsitzender der Lebenshilfe, Eberhard Schomburg damals, und haben erzählt, wie wunderbar ihre Anstalten sind, wie gut das alles läuft, und da fiel es mir nicht schwer was vom Klassenkampf und proletarischen Kindern und Unterdrückung zu sagen. Jedenfalls habe ich die 1.000 Leute aufgemischt. Und das als jemand, dem vorher in kleinen Gruppen das Wort im Mund erstorben ist, wenn er dachte, dass das Leute sind, die einfach mehr verstehen. Mein erstes Seminar in Psychologie war während des Studiums, ich hatte dort im letzten Rest des Studiums eine Halbtagsstelle in der Bibliothek. Ich habe während des ganzen Studiums nebenher gejobbt und es selbst finanziert, das erste Mal als ich dann bei den PsychologInnen in einer Lehrveranstaltung saß, dann habe ich mich zu Wort gemeldet und nichts herausgekriegt. So war das.

Abkehr vom
Defektdenken

Ich habe also auf dem Vorschulkongress im Abschlussplenum von 6.000 Leuten noch mal richtig vom Leder gezogen, worauf Herr Schomburg in Marburg anfragte – da hatte ich schon den Ruf auf die Stelle –, warum man so einen entsetzlichen Menschen nach Marburg holen müsste. Da hat es sich Stück für Stück so entwickelt. Ich war dann plötzlich beim roten Flügel und in Marburg fanden sich verschiedene Leute vom roten Flügel in dem Fachbereich zusammen und das waren die, die unser Denken unterstützt haben. Weg von dem alten Defektdenken, hin zu einer SonderschullehrerInnenausbildung, die nicht mehr den Defekt, sondern die soziale Situation in den Mittelpunkt gestellt hat.

Abkehr vom
Defektdenken

Ja, und damit haben wir damals natürlich unsere Beliebtheit in Bundesdeutschland sehr erhöht, gleichzeitig war ich dann in dem Verband Deutscher Sonderschulen in Hessen im Vorstand. Dies war Ergebnis der ersten Hauptversammlung, an der wir teilnahmen. Wir hatten uns aus der Region Mittelhessen schon eine eigene Satzung gegeben, was die Herren unglaublich empört hat, sie konnten aber nichts machen gegen einen eingetragenen Verein. Da gab es die Hauptversammlung, wo auch der Landesverband sich eintragen lassen hat und eine Satzung beschließen wollte, das konnten sie natürlich nicht beliebig machen, weil wir bestimmte Vorgaben gemacht hatten. Wir wussten aber nicht, ob wir zu Wort kommen, aber unterdessen standen die Delegierten unserer Region weitgehend hinter uns. Na gut, da wir nicht wussten, ob wir zu Wort kommen, hatten wir zwei Flüstertüten mitgebracht. Standen hinten, aber als sie gemerkt haben, dass wir eigene Mikrofone hatten, kamen wir ans Mikrofon. Und es gibt eine kleine Story dabei: Ich hatte eine ziemlich schwere Erkältung, also Grippe und hohes Fieber, und die Stimme ging immer weg. Und da habe ich meine Freundschaft mit Calvados geschlossen. Immer wenn die Stimme weg war, habe ich einen Schluck genommen und abends lag ich in doppelter Hinsicht breit auf dem Rücksitz des Daimlers mit dem wir zurückgefahren sind.

Freizeiten mit geistig behinderten Kindern

Aber das was wir gemacht haben damals, auch eben diese Freizeit mit geistig behinderten Kindern, die ist dann auch in der Zeitschrift für Heilpädagogik publiziert worden (Jantzen, 1972), die Lebenshilfe wollte das nicht publizieren, weil ihr das zu kritisch war. Wir haben mit den Kindern, die nie vorher aus dem Haus oder aus dem Heim rausgekommen sind, Spaziergänge im Wald gemacht, wir haben Staudämme gebaut, wir sind ins Schwimmbad gegangen, wir sind ins Café gegangen, wir sind mit der Bahn und dem Bus nach Kassel gefahren, um einen Film zu sehen. Wir haben ganz locker dann bei dem Film Pippi Langstrumpf den Leuten die mit drinnen saßen gesagt, wir sind eine Gruppe geistig behinderter Kinder, die noch nie in ihrem Leben einen Film gesehen haben, bitte tolerieren Sie, wenn es mal laut wird. Und eine ganz Dicke, die uns gleich am ersten Tag die Vorhänge heruntergerissen hatte vor Aufregung, die hielt es auch nicht aus. Ich bin dann mit ihr raus und habe mich mit den Kinofrauen unterhalten. Und dann saßen wir eine Dreiviertelstunde vor dem Kino. Der Kleine, den wir immer nur Bobob genannt haben, weil er immer nur »Bobobob« gesagt hat, der war dann voll mit Bonbons und Dreck verschmiert. Und so landeten wir wieder im Bus, eine kurze Ansprache und dann saßen die Kinder auf dem Schoß von Baunatalarbeitern. Das war Inklusion. Real gemacht. Und in unserer Familie haben eine ganze Zeit immer Leute gelebt, die aus einem Heim kamen, aus der Psychiatrie kamen. Auch in Bremen gab es eine Frau, die ein paar Jahre teilweise bei uns gelebt hat, die wir unterstützt haben. So, das war so. So bin ich da Stück für Stück reingewachsen und im schulischen Bereich bin ich immer vehement dafür eingetreten und in Bremen erst mal damit gegen Wände gelaufen. Als ich denen erzählt habe, dass in Italien Sonderschulen aufgelöst werden oder Geistigbehindertenschulen, haben sie sich mühsam zurückgehalten, mich nicht auszulachen.

Und der Wechsel nach Bremen war dann …?

Diplom-Studium
in Marburg

Ich habe 1973 einen Listenplatz bekommen, dann kam die große Berufsverbotsrunde, alles ist überprüft worden, und ein Berufsverbot gegen Horst Holzer ist ausgesprochen worden. Und irgendwo haben sie im hessischen Kultusministerium nicht richtig nachgefragt, denn ich hatte mir den Minister, Ludwig von Friedeburg, zum Feind gemacht. Wir hatten seitens des VDS Gespräche mit von Friedeburg über die Entwicklung des Studiums und der hat in diesem Gespräch ganz klar gesagt: »Nein, eine Diplomausbildung zum Sonderpädagogen wird es in Marburg nicht geben.« Wir sind am Tag drauf zum AStA, es gab eine Woche Streik. Von Friedeburg ist eingeknickt. Und dann hat er später zu Lothar Tent gesagt: »Herr Jantzen wird in Hessen keine Professur bekommen.«

Das heißt in Marburg hatten Sie noch eine WiMi-Stelle?

Studienrat im Hochschuldienst, eine Beamtenstelle, zunächst Abordnung und dann Studienrat im Hochschuldienst, insgesamt von 1971 bis 1974. Und das hat sich dann endlos hin gezögert und als es dann endlich so weit war, dann ist mein Blutdruck hochgegangen, wenn ich nur das Gesundheitsamt betreten habe, und dann musste ich Dauerblutdruckmessungen in der Klinik machen lassen, Valium einnehmen und schließlich hat mich das Gesundheitsamt freigeben.

Wechsel an die
Uni Bremen

Am 27.05.1974 habe ich meine Ernennungsurkunde hier in Bremen bekommen und war damit der erste Hochschullehrer, noch in der Endphase der Planung des Studienganges. Und wir haben den ersten Studiengang bundesweit geplant, der weitgehend Separierungen von Fachrichtungen behoben hat und entsprechend war unsere alte Studienordnung aufgebaut. Später mussten wir auch auf zwei sonderpädagogische Fachrichtungen übergehen, weil die anderen Bundesländer sich geweigert haben, uns Bremer anzuerkennen, natürlich auch Vorwände gesucht haben. Also eine Fachrichtung und ein Unterrichtsfach und die Wahl der Fachrichtung erst nach dem 6. Semester. Also das war schon sehr auf Integration zugeschnitten damals. Und wir hatten auch damals noch nicht nur ein Schulpraktikum, sondern auch ein Sozialpraktikum, was ich auch sehr gut fand, und wir haben geguckt, dass die Leute im Sozialpraktikum zum Teil in außerschulische Behinderteneinrichtungen kamen (Jantzen & Müller, 1978).

Und gab es denn hier auch einen Diplomstudiengang?

Studiengangs­entwicklung

Ja, später dann. Den haben wir nicht gleich gemacht, sondern den haben wir ab Mitte der 80er laufen gehabt, weil wir am Anfang völlig überlastet waren. Ich hatte die erste Stelle, Barbara Rohr kam auf die zweite und dann haben sie uns die Berufungsrunde zerschlagen und zum Teil nach Gutdünken berufen. Gott sei dank haben wir Georg Feuser gekriegt. Jedenfalls, egal wie es war, bis die anderen Stellen besetzt waren, war es schon 1978 und wir hatten ZusatzstudentInnen – die mussten wir am Anfang nehmen – und grundständige StudentInnen und dann hatte Barbara die grundständigen und ich die ZusatzstudentInnen, weil wir am Anfang nur zehn ZusatzstudentInnen hatten. Das ist nachher eingestellt worden, weil wir zu kritisch waren. Das wollten sie dann nicht so gerne und haben die wieder nach Hamburg geschickt. Und dann habe ich geguckt, dass ich aus den Nachbarstudiengängen Sozialpädagogik, Diplompädagogik, Sozialwissenschaften noch StudentInnen mit ins Projekt geholt habe. Die ZusatzstudentInnen waren schon ausgebildete LehrerInnen. Die hatte ich im Projekt, Barbara hatte die AnfangsstudentInnen und so etwa ab 1978 waren dann die anderen KollegInnen mit da, wir haben praktisch am Schluss dieser Anfangszeit mit zwei HochschullehrerInnen mit 200 Studenten sowie Lehrbeauftragten gearbeitet. Und der Studiengang war im Aufbau. Das ist schon sehr heftig gewesen. So war das.

Erste Kontakte
nach Italien

Dann sind Georg und ich 1978 nach Italien gefahren, um uns das Wunderland mal persönlich anzusehen. Waren bei Franco Basaglia, waren in Arrezzo, haben auch mit der Provinzleitung in Arrezzo gesprochen, waren in Parma bei Ferruccio Giacanelli, der vorher in Perugia entscheidend Psychiatriereform gemacht hatte (Jantzen, 2015a). Ich bin im Jahr drauf auch noch mal nach Perugia gefahren, um das Team kennenzulernen und dort genauer zu sehen. Dann waren wir bei Roser in Florenz. Ja, und die einen oder anderen von den italienischen Psychiatern habe ich dann später kennengelernt. Pirella an einem Abend in Amsterdam, wo ich einen Vortrag in Amsterdam hatte, und er auch einen, gemeinsame Freunde haben uns in irgendeiner Kneipe zusammengebracht. Antonio Slavich habe ich auf einer Tagung kennengelernt. Ja, der war ja auch hier in Oldenburg einerseits mit einer BdWi-Tagung und andererseits noch mal mit einer Tagung der DGSP in Wuppertal über den harten Kern. Dazu zählten in gewisser psychiatrischer Hinsicht ja auch die Leute, die wir in der Familie hatten, und drum herum interessierte mich sehr stark die Debatte zu Deinstitutionalisierung.

Deinstitutionalisierung

Ach ja, ich habe noch etwas vergessen, wir haben, weil das zum Teil Leute waren, die aus der Drogenszene kamen, dann in Gießen mit eine der ersten Hilfsorganisation für Drogen aufgebaut in Deutschland, etwa parallel mit Release Heidelberg unter der Mitarbeit vom Studentenpfarrer und von Erich Wulff, der damals Privatdozent an der Uni-Psychiatrie war. All das hat natürlich dazu geführt, dass bei mir immer die Deinstitutionalisierung sehr stark im Mittelpunkt stand. Auch nach den Erfahrungen, dass Behinderung sozial konstruiert wurde.

Promotion

Ja, das war schon in der Anfangsphase, bevor ich die Professur in Bremen angetreten habe, da habe ich schon von Behinderung als sozialer Konstruktion geredet (Jantzen, 1973a). Aber nicht im Sinne des Labeling Approachs. Das kannte ich, dass es den gibt und wie er einzuordnen ist. Ich hatte in Gießen mögliche Promotionsnebenfächer studiert, und bin dann aber mit der Promotion nach Marburg gewechselt, wo ich dann 1972 bei Lothar Tent promoviert habe. Ich wollte ursprünglich bei Wewetzer in Gießen promovieren, habe also bis 1971 in Gießen Promotionsnebenfächer studiert, verschiedene einfach, weil ich noch nicht wusste, was ich will, darunter naturwissenschaftliche Anthropologie, einschließlich einer Exkursion nach Süd-Frankreich zu Ausgrabungsstätten und eines kleinen anthropologischen Praktikums (Schädelmessung u.ä.) und andererseits auch Kriminologie bei Eva-Maria Brauneck, und da habe ich natürlich die ganze Debatte um Labeling Approach und ähnliches schon mitbekommen. Wusste, dass es wichtig war, aber eben nicht das, was wir brauchten. Ich habe dann ja sehr schnell angefangen, mich in der Marburger Zeit über kulturhistorische Theorie zu informieren, und dann bin ich auf Leont’evs Probleme der Entwicklung des Psychischen (Leont’ev, 1973) gestoßen und dass die höheren Hirnorgane sozial konstruiert sind. Ich habe soziale Systeme des Gehirns geschrieben und dann habe ich relativ schnell Lurija für mich an Land gezogen. Und dann habe ich immer dran gearbeitet einfach das andere Weltverhältnis zu begreifen, das durch einen Defekt gesetzt ist.

Und gab es die russischen Sachen schon in Deutsch?

Rezeption sowjetischer Autoren

Auf Englisch vieles, auf Deutsch ganz wenig, das kam erst Stück für Stück. Der erste Band der Vygotskij-Werke wurde 1985 auf Deutsch zugängig, der zweite Band 1987. Und Stück für Stück kamen aber dann die englischen Ausgaben der Gesamtwerke, die ich alle gekauft habe. Und ich habe versucht alles, was ich in die Hände gekriegt habe, zu sammeln. Das war auch unser Unterschied zur Holzkamp-Gruppe, die haben nur ganz schmal rezipiert, während ich versucht habe, in der ganzen Breite zu lesen, einschließlich Bernstein, Anochin, den Physiologen, auch die grundlegenden Biologen wie Oparin. Ich habe alles gelesen, was ich in die Hände bekommen habe.

Hattet ihr denn selber Kontakt in die Sowjetunion?

Kontakte in die Sowjetunion

Später, ich habe Alexej Alexejewitsch Leont’ev, den Linguisten und Sohn des Psychologen, persönlich kennengelernt und mich mit ihm angefreundet. Er ist leider sehr früh verstorben, aber wir haben uns sehr gut verstanden. Ich war noch in der Sowjetunion wegen der Lurija-Werkausgabe, das haben wir aber nicht hingekriegt, das ist in der deutschen Forschungsgemeinschaft genauso abgelehnt worden wie die Gramsci-Ausgabe, die Wolf-Fritz Haug machen wollte oder wie die Leont’ev-Ausgabe, die Georg Rückriem machen wollte. Danach, nach dem Zusammenbruch, bin ich mehrfach in Moskau gewesen. An Tagungen über Il’enkov und Vygotskij habe ich teilgenommen. Ich bin zur Tagung zum 100. Geburtstag von Leont’ev gewesen, auch mit einem Referat. Und ein paar Arbeiten von mir sind auch ins Russische übersetzt worden. Das letzte Mal war ich dort, das war glaube ich 2011, das war dann die erste Konferenz zur Inklusion, die es in Russland gab, und zwar auf den Regionalbereich Moskau beschränkt. Dort war ich einer der fünf ausländischen Gäste der ReferentInnen, zu Inklusion speziell. Ich habe damals natürlich insbesondere auf die russischen Traditionen zurückgegriffen, weil sie darauf natürlich stolz sein können (Jantzen, 2013a). Und es gab sehr enge Kontakte in all den Jahren über Georg Rückriem, der ja unglaublich vieles an Leont’evs Publikationen erschlossen hat. Es gab ja auch einen Versuch, mit einem Gesamtprojekt die Archive von Vygotskij, Lurija und Leont’ev zu retten, das ist aber mehr oder weniger am ausgeprägten Desinteresse des hiesigen Osteuropa-Instituts gescheitert, in der Uni. Die haben uns auflaufen lassen. Dadurch habe ich, was Tätigkeitstheorie betrifft, sehr viele internationale Kontakte.

Ich bin auch jetzt für den letzten Kongress in Sydney in das advisory committee gewählt worden. Es gab ein Vorseminar vor dem Kongress, wo also wichtige VertreterInnen dieser Theorie den Leuten, die sich vertieft damit beschäftigen wollten, noch mal eine Einführung in die Theorie gegeben haben. Dort sollte ich vortragen über Intersubjektivität aus Sicht der Kulturhistorischen Theorie, dann kam aber eine Reihe von Dingen dazwischen und dass ich es außerdem finanziell nicht konnte. Ich habe aber trotzdem mein Referat geschrieben und das hat Yrjö Engeström auch verteilt (Jantzen, 2016). Ich habe gute Kontakte dorthin, ich hatte jetzt auch noch ein Angebot von Wiley Publishers, im Rahmen einer Reihe, die sie zur kulturhistorischen Theorie international machen wollen, einen Band über den Willen zu schreiben, aber ich glaube, ich mache das nicht, das ist mir einfach zu viel. So, da ist eine sehr starke internationale Achse.

Kontakte nach Südamerika

Eine weitere ist dabei sich auszubauen, im spanischsprachigen Bereich. Ich habe in den letzten Jahren nach meiner Pensionierung und dem Tod meiner Frau noch Spanisch gelernt. Hat was mit meiner Lebensgefährtin zu tun; sie hat eine schwerbehinderte Tochter, ist Latina und Diplomatentochter und hat bei uns ihr zweites Diplom gemacht, weil ihr chilenisches in Deutschland nicht anerkannt wurde. Wir kennen uns sehr lange. Und unsere Telenovela-ähnlichen Zustände, wo es auseinander ging und wieder zusammen, die hatten dann zur Folge, dass ich aus lauter Wut angefangen habe Spanisch zu lernen, was ich jetzt auch ganz passabel kann. Ich bin auch zweimal zu Konferenzen zu Inklusion und Kunst in Andalusien gewesen, einmal in Almeria, einmal in Sevilla und auf diesem Hintergrund habe ich jetzt eine Einladung nach Argentinien bekommen, zu einem entsprechenden Kongress in der Provinz Buenos Aires. Die machen eine große Tagung zu Inklusion, Nicht-Diskriminierung und auch über die Rolle der Kunst dabei. Ja, das sind so die internationalen Kontakte, die sich entwickelt haben.

Diskrepanz zwischen Bedingungen in Einrichtungen und Wohlfahrtsverbänden

Was ist weiter zu sagen zur praktischen Seite? Der Italienbesuch von Georg Feuser und mir war für uns beide natürlich sehr wichtig, weil der noch mal bestimmte Dinge klar gestellt hat. Unter anderem hat er dazu geführt, dass ich nach dem Grundsatzpapier von 1975/76 (»Materialistische Erkenntnistheorie, Behindertenpädagogik und Didaktik«, Jantzen, 1976), wo ich erstmals den Begriff Isolation als relationale Beziehung entwickelt habe, in Frankfurt einen Vortrag hatte, bei irgendwelchen Wohlfahrtsverbänden, und ich war so wütend, dass die in so einem Hotel mit so riesen Kosten ihre Tagung machten, während es in den Einrichtungen überall fehlt. Da ist vor lauter Wut aus diesem Vortrag dieses Buch geworden, der Grundriss einer allgemeinen Psychopathologie und Psychotherapie. Das ist jetzt gerade im Neudruck bei Lehmanns Media mit einer neuen Einleitung (Jantzen, 1979). Das ist eigentlich sozusagen das Zwischenstück zwischen diesem ersten Grundsatz-Papier und der Allgemeinen Behindertenpädagogik. Und dann hatten wir hier in Bremen auch, das ist dort geschildert, eine junge Frau, die aus dem Psychiatriebereich kam und wohl sonst noch in der Langzeitpsychiatrie Kloster Blankenburg gelandet wäre. Die haben wir raus geholt aus der Situation und unterstützt.

Praxiserfahrungen im Forschungssemester

Dann kam, wie gesagt, die Arbeit bei der Spastikerhilfe. Ende der 70er, Anfang der 80er, um wieder Praxis lebendig zu haben und nicht an der Uni zu sitzen und Theorie zu machen und nicht mehr zu wissen, wie es praktisch aussieht, habe ich bei Christian Gaedt in Neuerkerode zehn Wochen meines Forschungssemesters verbracht auf der BEO, auf der Beobachtungsstation, wo alle die hinkamen, die sie nicht wieder nach Königslutter in die Psychiatrie zurückgeben wollten, aber in der Einrichtung keinen Platz hatten. Da bin ich mit Christian im Streit geschieden, weil ich sehr wohl meinte, dass man für Leute auch in der Einrichtung wieder einen Platz öffnen kann, und er Schiss hätte. Und wir sind dann später auch wegen seinem Konzept zu einem »Dorf zum Leben« erneut aneinandergeraten. Das seltsame war, irgendwann in den 90er Jahren waren wir in Neukirchen bei einer Einrichtung eingeladen, die deinstitutionalisieren wollte, und Christian war begeistert von der Deinstitutionalisierung, und er war dafür, alles in der Region aufzulösen. Ich habe gesagt, man muss genau sehen, wo die Leute hinkommen und das vernünftig machen. Gut, unterdessen verstehen wir uns wieder gut.

Rehistorisierende Diagnostik

 

Damit hatte ich den Fuß im Anstaltsbereich noch mal ganz tief drin und im Schwerstbehinderten-Bereich. Dazu habe ich zwei Falldarstellungen publiziert. Das eine ist die Geschichte, die ich in dem Buch mit Wolfgang von Salzen gemeinsam geschrieben habe, zu Autoaggressivität und selbstverletzendes Verhalten (Jantzen & von Salzen, 1988), von einem Menschen, der sich schwer selbst verletzt. Und die zweite Geschichte ist in dem ersten Rehistorisierungsbuch (Diagnostik als Rehistorisierung) publiziert.44 Die Geschichte eines sehr aggressiven, sehr kräftigen Mannes. Beide Geschichten sind dort in Neuerkerode entstanden. Das ist das, was ich niedergeschrieben habe, ich habe noch ein paar weitere Geschichten mit denen ich mich auseinandergesetzt habe, rekonstruiert. Dies hat wesentlich zum Entstehen der rehistorisierenden Diagnostik beigetragen.

Therapeutische Arbeit – Solidarische Psychosoziale Hilfe

Und dann ergab es sich, dass ich ab Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre zunehmend gefragt wurde, ob ich Leute nicht therapeutisch unterstützen kann. Ich habe auch in der Arbeitsgruppe der DGVT, der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie, mitgearbeitet, habe aber keinen Abschluss gemacht; ich habe ja eine Universitätsstelle, ich brauchte das nicht. Daraus hat es sich dann entwickelt, weil immer mehr das Problem auftauchte, dass Leute aus Bremen Unterstützung gesucht haben. Bei den TherapeutInnen, wo sie waren, haben sie gesagt bekommen, dass sie aufhören sollen, politisch tätig zu sein, dann ginge es ihnen besser. Und dann habe ich es durchgesetzt Stück für Stück, es musste letztlich vom DKP-Parteivorstand abgesegnet werden, und es musste auch, wie ich heute annehme, in Ostberlin noch das Plazet kriegen, dass wir einen Verein gründen konnten, der kein Zuführverein für die DKP war. Die Solidarische Psychosoziale Hilfe, da haben wir im Dezember 1985 angefangen zu arbeiten und haben dort dann ein Beratungsangebot gemacht. Damit das nach außen abgesichert war, habe ich mir gleich noch meinen Heilpraktikerschein geholt, den kleinen Psychotherapieschein, den kriegt man dann als Psychologe ja sofort. Und wir haben dann Psychotherapie angeboten. Und ich habe dort auch das ganze Jahr 1986/87 bis zu meiner Gastprofessur in der DDR in dem Verein psychotherapeutisch mitgearbeitet. Mehrere Stunden in der Woche. Wir haben immer im Team gearbeitet, zu zweit mit einem Klienten und waren offen für alle Leute, die kamen. In der DDR auf meiner Gastprofessur habe ich auch noch ein halbes Jahr dort in einer Psychotherapiegruppe von arbeitsunfähigen Studenten mitgearbeitet. In Leipzig hatte ich den Wilhelm-Wundt-Lehrstuhl und es gab – das steht auf meiner Homepage – eine sehr spannende Diskussion mit den Leuten im Haus der Gesundheit in Berlin, die mit der Dynamisch Intendierten Gruppentherapie ein Modell verfolgten, wo sie gesetzmäßig in Kauf genommen haben, dass Leute rausfliegen. Das habe ich ihnen als antihuman vorgehalten. Das war eine sehr heiße Diskussion in Berlin. Da ist also auf meiner Homepage auch das ganze Diskussionsprotokoll nachzulesen. Und dann kam ich aus der DDR zurück.45

Wie kam das zustande mit dem Lehrstuhl in Leipzig?

Gastprofessur
in der DDR

Der Kollege Harry Schröder, der die entsprechende Professur Gesundheitspsychologie und Klinische Psychologie hatte, der hatte meine Arbeiten für seine Habilitation benutzt und hatte ein Interesse. Und dann habe ich gesehen, dass ich eine Einladung zum DDR-PsychologInnen-Kongress 1982 bekommen habe. Da ich in der DKP war, war das möglich und nicht so schwierig. Dann habe ich 1983 erst mal dort ans Institut eine Einladung bekommen zu einer Veranstaltung, oder 1984 – das weiß ich nicht mehr genau. 1986 waren wir gemeinsam auf einer Tagung in Danzig. Aber schon vorher bei einer der Einladungen ins Institut kam die Frage: »Willst Du nicht bei uns auf den Wilhelm-Wundt-Lehrstuhl kommen?« Da habe ich sinngemäß gesagt: »Ihr spinnt, das geht niemals, sie holen niemals einen aus der BRD.« War wohl auch sehr schwierig. Bis auf den letzten Moment ging es hin und her. Zwei Tage bevor ich die Stelle antreten sollte, habe ich mein Visum bekommen. Naja, und ich habe mich nicht nur beliebt gemacht. Dann war ich dort ein halbes Jahr und dann hat Die Zeit über meinen Aufenthalt berichtet und die Sektion hat alle Kontakte mit mir abgebrochen. Naja, egal wie, es ist alles gut nachlesbar (Stock, 1988). Zu Ehren von Joachim Lompscher habe ich dann einen Artikel geschrieben über kulturhistorische Theorie in der Spätzeit der DDR und das alles auch rekonstruiert, was damals war. Und es gibt auch einen Artikel, dann nach der Wende über die Kolonialisierung der DDR, es gibt einen Artikel vor der Wende, wie es mit dem realen Sozialismus wirklich aussieht. Ich habe dann auch das gesagt, was zu sagen war (Jantzen, 2006a).

Isolation im Fach

Wir waren in Bremen einer der Bezirke der DKP, die sich für Perestroika eingesetzt haben. Und ich war der bestgehasste Mann bei der Betonfraktion in dieser Zeit; war auch im letzten Bezirksvorstand der DKP mit drin und bin heute noch stolz darauf, dass ich es geschafft habe, in diesem Bezirksvorstand durchzusetzen, dass wir beim Zentralkomitee und Politbüro der SED die Rehabilitation von Walter Janka verlangt haben. Danach ist dann irgendwann alles auseinandergeflogen und während das Fach in der Gorbatschow-Zeit mich hofiert hat, ist dann ein Herr Bleidick durchs Land gezogen und hat versucht mich als Stalinisten zu verunglimpfen. Das waren dann ein paar bittere Jahre, wo alle uns ideenmäßig beklaut haben, aber niemand uns zitiert hat. Bis der zweite Band der Allgemeinen Behindertenpädagogik besprochen wurde, hat relativ lange gedauert. Es gibt, glaube ich, insgesamt sechs Bücher von mir, die nie in einer Fachzeitschrift besprochen wurden, und als Heinrich Greving später drei der vier Essaybände zum Thema Ethik zusammengefasst hat, zu einem Rezensionsbeitrag für die Zeitschrift für Heilpädagogik, hat man ihm mitgeteilt: »Ach, die sind ja schon vor ein paar Jahren erschienen, die sind nicht mehr aktuell.«

Zusammenbruch der DDR

Es war ja alles an Infrastruktur zusammengebrochen und ich musste mich ja selbst mit dem Zusammenbruch auseinandersetzen, mal gucken, ob das alles wirklich richtig war, was ich gedacht hatte. Aus dem Durchgang durch Leont’evs Tätigkeit, Bewusstsein, Persönlichkeit (Leont’ev, 1979), was wir früher in einem Semester gemacht haben, wurden fünf Semester. Und alles wurde diskutiert, und jahrelang habe ich Marx nicht in den Mund genommen und dann aber wieder umso sicherer.

Rehistorisierende Diagnostik

Und dann war der erste strategische Zug, den wir gemacht haben, das Buch über rehistorisierende Diagnostik (Jantzen, 2005a). Da haben wir über zwei Jahre daran gearbeitet, zum Teil sind das Examensarbeiten, zum Teil wurde es selber entwickelt, das ist ja dann glaube ich 1996 erschienen. Das hat große Wirkungen gehabt, des Öfteren auch verdeckt.

Umbrüche

Und es ergab sich, dass ich mich zu allem Überfluss in dieser Wendezeit, als damals alles auseinanderging, auch noch von meiner Frau getrennt habe und eine neue Beziehung eingegangen bin. Meine Kinder hätten mir am liebsten alles an den Kopf geschmissen, wie das so ist. Es war eine dramatische Zeit und unter den Bedingungen des Systemzusammenbruchs der DDR ist der zweite Band der Allgemeinen Behindertenpädagogik entstanden. Und als der fertig war, habe ich binnen eines halben Jahres sechs unterschiedliche psychosomatische Symptome entwickelt, angefangen mit einer Gürtelrose und aufgehört mit einer psychosomatischen Sehnenscheidenentzündung der rechten Hand, ich war alles satt. Dann gewann ich durch die Aufarbeitung und Auseinandersetzung im Fach schnell wieder Achtung, obwohl eine Reihe von Leuten durchgängig versucht hat, mich zu verunglimpfen.

Großeinrichtung Lilienthal

Dann kam Lilienthal. Meine neue Partnerin, wir haben erst später geheiratet, die hatte eine ABM-Stelle von der Volkshochschule in der Diakonischen Behindertenhilfe im Evangelischen Hospital Lilienthal zur Alphabetisierung für geistig Behinderte. Dort wurden die Zustände immer schlimmer, also administratives Durchgreifen, wie es schlimmer kaum geht, hohe Personalfluktuation und Unzufriedenheit. Es wurde den MitarbeiterInnen verboten, Elterngespräche zu führen und anderes mehr. Sie können sich vorstellen, was da los war. Dann wurde ein Außengutachten geholt, weil die Katastrophe zu groß war. Ein Herr Mauthe, ein Psychiater aus Wolfenbüttel, der hat ein sehr gutes Gutachten geschrieben, auch über den Altenbereich, aber das Kuratorium ist immer noch nicht entsprechend eingeknickt. Und dann wurde eine Beratungsgesellschaft aus dem Bundesverband der Diakonie geholt. Die jungen Boys aus der Betriebswirtschaft, mit harten Ellenbogen, waren dann da. Meine damalige Partnerin – spätere Frau – meinte, dass ich mich unbedingt einsetzen müsse. Andere Leute, die sich mit der Einrichtung auskannten, sagten: »Vergiss es, da erreichst du überhaupt nichts.« Ich hatte eine gesetzliche Vormundschaft und später Betreuung und dann bin ich hin zu den Elternversammlungen und einer unserer Absolventen war da auch mit drin, und dann habe ich die Elternversammlungen aufgemischt und diesen BWL-Menschen so vorgeführt, dass sie dann meinten, ich sollte den Vorsitz vom Eltern- und Betreuerbeirat machen. Habe ich. Und dann habe ich Kontakte nach Bremen bemüht und einen Arbeitskreis mithilfe der Lebenshilfe und anderen kompetenten Personen gemacht, wo wir in dem Lilienthaler Memorandum geschrieben haben, was dort passiert. Wir haben das mit Wolfensberger »soziale Euthanasie« genannt. Das ist mächtig hochgekocht. Bis in die Presse, Frankfurter Rundschau und andere mehr und irgendwann ist das Kuratorium eingeknickt, die Leitung wurde ausgewechselt, uns wurde die Zusammenarbeit angeboten, wenn wir friedlich sind. Dann bin ich mit rein und habe die Leitung beraten, habe eine Bestandsaufnahme machen können, und konnte alle Gruppen besuchen und das ist dann auch öffentlich diskutiert worden, hatte aber immer eine Aufpasserin dabei, Kristina Schulz – später Kristina Kraft –, die heute Professorin in Ludwigsburg ist. Und dann infolge meinten sie ja, dass sie auch was Praktisches sehen wollten, da haben sie mich in die erste Gruppe zu einer Fachberatung geholt. Und ich habe Stück für Stück Fachberatungen, Gruppe für Gruppe, gemacht – und schon nach der vierten oder fünften habe ich drauf gedrungen, dass die Leute, um die es geht, mit am Tisch sitzen und das durchgehalten bei etwa
100 Fachberatungen. Auf diesem Hintergrund ist ja dann dieses Buch über Lilienthal entstanden. Und ich habe der Einrichtung als Buchtitel das vorgehalten, was man der Diakonie vorhalten muss, die diesen Durst in keiner Weise für die internierten Menschen stillt: ein Bibelzitat, »Die da dürstet nach der Gerechtigkeit« (Jantzen, 2003). Da war ich zweieinhalb Jahre aktiv drin. Wir wollten dann noch mal den Schwerstbehinderten-Bereich mit den GesundheitswissenschaftlerInnen zusammen angehen, das hat die Leitung abgeblockt, das ging dann nicht mehr. Kristina hat dann auch irgendwann gekündigt und man kann daraus sehen – sie war da noch Qualitätsbeauftragte, die hat das ja alles mitbekommen, was ich gemacht habe –, wie die ganzen Verhältnisse dort waren. Das kann man daraus sehen, dass das Arbeitsamt ihr sofort Arbeitslosengeld gezahlt hat, obgleich sie selbst gekündigt hatte. Es war also ein ihr nicht mehr zumutbares Arbeitsverhältnis. Ja, das war dann die Lilienthal-Geschichte, wo ich mich noch mal mit allerschwersten Behinderungen, einschließlich Anenzephalie, auseinandersetzen musste. Mein erster Eindruck war, als ich in dem Haus 16 in die Schwerstbehindertengruppe kam, da kannst du auch dein Wissen vergessen, da geht keine Rehistorisierung. Und gerade dort waren dann meine ersten Fachberatungen und es ging sehr gut, Stück für Stück. Das war diese Erfahrung, dass ich mich einfach auch durch den Bestand einer Großeinrichtung durchgearbeitet habe, wo allerschwerste Formen von Behinderung sind. Das war noch mal sehr nützlich. Und die Debatte um rehistorisierende Diagnostik ist natürlich auch in anderen Bereichen weitergeführt worden.

Schulbegleit­forschung
Sekundarstufe I

Und dann kam noch mal das letzte Stück, was Integration und Inklusion betrifft: Schulbegleitforschung Anfang der 2000er Jahre für die einzige Integrationsklasse in der Sekundarstufe I, die es in Bremen gab. Die ist seitens Eltern dem damaligen regierenden Bürgermeister, Henning Scherf, abgetrotzt worden. Ich bin nach einem halben Jahr mit rein und habe die Klasse dreieinhalb Jahre begleitet. Die waren vorher in der Grundschule integriert, waren in der Orientierungsstufe integriert, dann sind zehn SchülerInnen mit Gymnasialempfehlung abgegangen. Die Klasse wurde neu aufgefüllt und nachdem es ein halbes Jahr lief und zwei Kolleginnen vom Landesinstitut für Schulpraxis das begleitet haben, bin ich mit dabei gewesen. Die Fragestellung war, ob man es erreichen kann, dass in der Sekundarstufe I am Ende das nicht auseinanderfliegt und die Vorurteile zwischen Behinderten und Nichtbehinderten wieder da sind. Wir haben es erreicht (Jantzen et al., 2005).

Was waren da die Bedingungen unter denen es begleitet wurde?

Interviews mit Jugendlichen

Das waren dann zwei Lehrerinnen im Prinzip. Eine Sonderschullehrerin und eine Realschullehrerin; das war die Schule Helsinkistraße. Es waren am Schluss, glaube ich, 18 Kinder in der Klasse. Das Projekt ging eine ganze Zeit, ab dem zweiten Schuljahr war ein Filmemacher mit drin, das ist alles in einer Reihe von Filmen dokumentiert und sehr viel noch nicht ausgewertetes Material. Es waren, meine ich, fünf oder sechs behinderte Kinder mit drin: Lernbehinderung, Sprachbehinderung, Körperbehinderung und ein Junge, das war ganz dramatisch; er ist autistisch. Die Eltern, obwohl vom Fach – er Mediziner, sie Psychotherapeutin –, sind aus Heidelberg mit dem Kind geflüchtet, weil es dort für bildungsunfähig erklärt wurde und haben sich nach Bremen orientiert, um einen integrierten Kindergarten zu bekommen. Und diesen Schüler habe ich dann über die Zeit der Schulbegleitforschung erlebt. Er hatte immer noch Rückstände und hat es dann erst sehr spät halbwegs hingekriegt mit Rechnen und Lesen und Schreiben. Er hatte dort deutliche Rückstände und ein niedriges Repräsentationsniveau und verhielt sich immer überagitiert in der Klasse. Aber genau dieser Junge hat in der Pubertät genau altersgemäß begriffen, was los ist, und hat unter anderem den Satz gesagt, bezogen auf seine Freunde, die plötzlich nicht mehr mit ihm Fußball spielen oder angeln wollten: »Das tut in der Seele weh.« Und das ist natürlich genau das Reflexionsniveau, das mit der Pubertät erreicht ist. Ich habe vor allem versucht, den Lehrerinnen deutlich zu machen: Es sind keine Kinder mehr, es sind langsam junge Erwachsene. Und vorgeschlagen, dass ich Interviews mache, die natürlich sehr vorsichtig angelegt waren, aus Respekt vor der Persönlichkeitssphäre und aus rechtlichen Gründen. Der Filmemacher hat bei den Interviews mitgefilmt und in einem Interview brach eine junge Frau plötzlich ins Weinen aus: Ihre Mutti hätte Selbstmord begangen und da ist die Schwester dran schuld, weil die Drogen nimmt. Kurz: Es kam ein Drama heraus. Das haben wir nun alles mit den Lehrerinnen kommuniziert, wie vieles andere auch.

Umgang mit
Schulabsentismus und Re-Integration

Ich war einmal im Monat zu einem gründlichen Gespräch da und dann haben die Lehrerinnen durch das alles, was wir zusammen gemacht haben, sich ganz großartig verhalten. Ich erzähle eine kurze Geschichte. Sie haben soviel kapiert, dass sie sich auf dieses Mädchen eingestellt haben, also reflektiert, ob sonst alles in Ordnung ist. Sie haben sicherheitshalber den Schulpsychologischen Dienst informiert, als sie angefangen hat zu fehlen. Haben mit ihr telefonisch Kontakt gehalten, ohne disziplinarische Regelungen anzustrengen. Schulleitung und Schulpsychologischer Dienst haben das gestützt und nach drei Wochen stand sie vor der Tür. Hat sich nicht rein getraut in die Klasse. Ihre beste Freundin hat sie reingeholt und sie hat binnen weniger Wochen den Stoff nachgeholt. Und wir haben das dann so reflektiert, dass wir ihr einen sozialen Kredit gegeben haben. Und das hat funktioniert. Wir haben viel am Thema der Gewährung von sozialem Kredit gearbeitet, also auch über die Lektüre von Literatur und allem anderen, was geeignet ist, altersspezifische Umbrüche zu spiegeln. Sie haben dann im Lidice Haus Wochenenden gemacht und am Ende der Schulzeit zeigte es sich, dass die alle zusammengehalten haben. Noch eine Geschichte war: Da war ein Junge, mit dem ging es überhaupt nicht gut, er war ihnen zu gestört und sie haben gemeint sie müssten ihn sitzenbleiben lassen. Da habe ich gesagt: »Das könnt ihr nicht machen.« Habe ihnen erzählt wie es mir gegangen ist, beim eigenen Sitzenbleiben, dass das Null nützt und so weiter. Und dann haben wir noch die Mädchen aus der Klasse mit rein geholt, das war gerade an einem Fotowochenende, wo sie mit draußen waren. Nein, sie wollten unbedingt, dass er bleibt. Dann haben die Lehrerinnen später den Weg gefunden, dass er in die Parallelklasse gegangen ist, wo er auch Freunde hatte, und es gut abgeschlossen hat. Wir haben das Ganze wirklich ohne Ausgrenzung durchgezogen, bis zum Schluss. Dieser autistische Junge hatte auch einen Ausbildungsplatz beim Gartenamt, den hat das Amt ganz kurzfristig gecancelt, und dann ist er zwischengeparkt worden in der Schule für Körperbehinderte und hat abgebaut bis dort hinaus. Hat zu Hause unendliches Geld über das Handy vertelefoniert und irgendwann war da wieder ein Arbeitsplatz, das war dann völlig okay und alles war gut. Das war die letzte große Erfahrung (Jantzen, 2006b).

Deinstitutionalisierung

Ach ja, und zwischendurch hatten wir dann Kontakt zu einer Doktorandin von mir, Brigitte McManama, die hat nach der Wende teilweise als Enthospitalisierungsbeauftragte in Sachsen-Anhalt im Sozialministerium gearbeitet (McManama, 2010). Sie hat dort vor allem versucht, auch in der Psychiatrie in Uchtspringe, die Auflösung hinzukriegen. Sie hat dann eine Einrichtung übernommen und aufgebaut, auf dem Lande mit maximal 100 Plätzen, in Schelkau bei Naumburg. Dort wurde sie trotz hervorragender pädagogischer Arbeit rausgemobbt von der Caritas, auf ganz üble Weise, als sie in Konflikt mit den ökonomischen Anforderungen geraten ist. Ich habe damals über lange Zeit fast jede Woche ungefähr zwanzig Stunden am Telefon gehangen mit allen möglichen Stellen in Sachsen-Anhalt telefoniert, bis wir so viel Trouble hatten, dass sie wenigstens mit einer vernünftigen Abfindung rausgekommen ist.

Exkursionen mit Studierenden

In dieser Einrichtung sind wir viermal auf Exkursionen gewesen. Auch eine Gruppe von Behinderten aus dieser Einrichtung war bei uns in der Uni mit bei einer Lehrveranstaltung. Das war eine der spannendsten Diskussionen an der Uni, die ich erlebt habe. Und wir haben auch mit denen hier gemeinsames Essen und einiges mehr gemacht. Ich glaube, die waren auch ein zweites Mal da – egal wie. Und es waren regelmäßig PraktikantInnen von uns dort und beim letzten Besuch, da waren wir mit einer Gruppe von 13 Studierenden da, da stand das alles auf der Kippe. Brigitte war krank und es wurde alles getan, um sie raus zu mobben, aber die Einrichtung wusste noch von nichts und wir durften nicht darüber reden. Ja, das war eine sehr dramatische Situation. Da haben von den 13 StudentInnen sechs oder sieben Heulkrämpfe gekriegt, während dieses Aufenthalts. Auch da bin ich noch mal auf neue Geschichten gestoßen (Jantzen, 2004). Zum Teil stecken in diesen Großanstalten Alptraumgeschichten, wirkliche Alptraumgeschichten. Das ist dann mehr oder weniger immer der praktische Teil, der mit Deinstitutionalisierung und Integration zu tun hat.

Bei dem ganzen Weg, was waren da so die wichtigsten Mitstreiterinnen und Mitstreiter?

Studierende als MitstreiterInnen

Über all die Jahre waren es die Studentinnen und Studenten, immer. Und die Freundschaften, die daraus entstanden sind. Willehad Lanwer und Anne Stein habe ich auch sehr früh kennengelernt. Anne hat Sozialpädagogik an der Fachhochschule in Bremen studiert und kam dann rüber in meine Vorlesung und später habe ich sie dann bei der Spastikerhilfe wieder getroffen und Willehad hat als Krankengymnast bei der Spastikerhilfe gearbeitet. Und beide haben dann später das Diplomstudium bei mir gemacht. Kristina Kraft habe ich über die gemeinsame Tätigkeit in Lilienthal, wo sie leitende Angestellte war, kennengelernt. Andere Leute, die das Ganze mitmachten, sind von außerhalb dazu gekommen, wie Kerstin Ziemen zum Beispiel, die ich unterstützt habe bei der Habilitation, weil sie das, was sie bei Theunissen machen wollte, nicht mit dem Instrumentarium machen konnte, das ihr Theunissen angeboten hat. Ich habe sie auf Bourdieu gestoßen und dann hat sie sich hier in Bremen habilitiert.

Publikationsorgane

Das war immer ein Netz, das wir aufgebaut haben, und es war auch um zentrale Publikationsorgane aufgebaut. Wir haben in Hessen ab Beginn der 70er Jahre uns Vorstandsposten im LV Hessen des Verbands Deutscher Sonderschulen erstritten und dann das Mitteilungsblatt des Landesverbandes Hessen übernommen und 1973 erstmals als Behindertenpädagogik in Hessen herausgegeben und ab 1975 als Behindertenpädagogik, das läuft bis heute. Mit wechselnden Schriftleitungen, erst Georg Feuser, dann Peter Rödler, bis Peter dann auch nicht mehr konnte, und dann Willehad. Das gehört dazu. Es gehört dazu, das Jahrbuch für Psychopathologie und Psychotherapie, das ich im Pahl-Rugenstein Verlag gemacht habe, mit Georg Feuser zusammen. Am Ende sind noch zwei Bände bei Jarick-Oberbiel erschienen. Und dann sind ab 1994 die Mitteilungen der Luria-Gesellschaft erschienen, die jetzt seit 2010 als Jahrbuch der Luria-Gesellschaft erscheinen.46 Also, man muss das Ganze auch immer im Publikationsbereich bündeln.

Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik

Dann kam das nächste große Projekt, das sich ergeben hat. Irgendwann in den 90er Jahren habe ich Iris Beck kennengelernt. Als dann der Elfte Jugendbericht anstand, hat Iris mich für das pädagogische Gutachten zu Integration empfohlen; sie hat das sozialwissenschaftliche gemacht (Jantzen, 2002), und aus dieser Zusammenarbeit ist die Idee des Handbuches entstanden (Jantzen et al., 2009–2011). Das haben wir dann ab 2002 konzipiert und Iris und ich haben weitgehend die Stichwörter entworfen. Mit einbezogen hatten wir von Anfang an Georg Feuser, Peter Wachtel und Ulrike Lüdtke. Ulrike ist später aus dem Gesamtherausgeberkreis ausgeschieden, und dann sind wir durch Verbindungen von Iris beim Kohlhammer-Verlag gelandet und haben dann die Planung Stück für Stück entwickelt, bis das Grundkonzept für zehn Bände stand. Dann haben wir die möglichen MitherausgeberInnen angesprochen, mit ihnen – bezogen auf die Stichwörter – das Ganze mehrfach durchgearbeitet. Dann haben wir eine große HerausgeberInnen- und MitarbeiterInnentagung in Hamburg gemacht und das Gesamtkonzept vorgestellt und alle, die mitgearbeitet haben, waren auch über den Stand aller Beteiligten informiert und was sie bearbeiten. Und wir haben, wenn ich mich richtig erinnere, Beiträge von 15 Nationen drin. Zum Teil allererste Garnitur. Julia Kristeva beispielsweise und Colwyn Trevarthen, um zwei sehr prominente Personen zu nennen. Ja, das war ein Projekt, das uns lange, lange Jahre beschäftigt hat und was jetzt im letzten Jahr, mit Beginn dieses Jahres, mit der Publikation des letzten Bandes (2014) abgeschlossen ist. Also da sind natürlich auch neue Freundschaften entstanden, ist neue Zusammenarbeit entstanden und es gibt eine Reihe von Leuten, mit denen ich wissenschaftlichen Kontakt habe, der sich mit über dieses Projekt entwickelt hat. Obwohl wir damit nach wie vor im Fach kaum rezipiert werden, die Zeitschrift für Heilpädagogik hat, glaube ich, nur zwei von den insgesamt zehn Bänden besprochen, die Teilhabe hat sich geweigert einen Band zu besprechen, ausgerechnet den über Sinne, Körper und Bewegung, obwohl er von einem Mitglied des HerausgeberInnenkreises oder ständigem Mitarbeiter, das weiß ich nicht mehr sicher, besprochen wurde, von Gerhard Neuhäuser (Jantzen et al., 2011). Also da sind schon unglaubliche Dinge gelaufen. Bedienen tut man sich immer gerne an dem, was wir gemacht haben, aber zitieren möglichst nicht. Ich denke aber, dass wir für das Fach etwas sehr Wichtiges gemacht haben – auf die Frage von vorhin, dass jetzt eine Generation abtritt –, wir haben im Sinne einer synthetischen Humanwissenschaft weltweit das zusammengebracht, was für unser Fach wichtig ist, dass man zu allen entscheidenden Fragen gute Grundsatzartikel lesen kann, sich einarbeiten kann. Leider habe ich selbst davon einige mehr schreiben müssen, als ich ursprünglich wollte. Aber gut, das ist dann so.

Was waren die größten Herausforderungen in dem Prozess?

Unterstützung von Studierenden in schwierigen Lebensumständen

Wenn ich das nur wüsste. Die größten Herausforderungen sind immer die, wenn man durch Zufall in eine Geschichte gerät und dann die Verantwortung hat, dass sie gut ausgeht und sich dem zu stellen. Ich unterstütze im Moment eine junge Frau, die mir auch durch einen Absolventen ins Haus geschneit ist. Sie war in einer entsetzlichen Situation: Posttraumatische Belastungsstörung, hat sich jahrelang durchgeschleppt, von der Familie misshandelt, durch das Jugendamt rausgenommen. Irgendwie hat sie ihr Abi gekriegt und Studium, dann therapeutische Behandlung und Klinik, Trennung vom Freund. Und dann war sie fertig, hatte kein Geld mehr und war in psychischer Hinsicht am Ende. Ich habe sie dann unterstützt, durch die gesamte Abschlussphase mit allem Ausnutzen des Nachteilausgleichs, bis sie ihren Bachelor bekommen hat. Dann hat sie jetzt einen Studienplatz an einer anderen Universität und wird gemobbt von der Professorin dort. Ja, und jetzt sehen wir, dass wir uns gegen diese Dame wehren. Ja, was hilft’s denn, wenn man in einer Geschichte drinhängt? Da gibt es keine einfachen Ausgänge. Wir haben jetzt die dritte Verhandlung auf Präsidialebene in der Uni und wenn das nichts wird, dann kommen ggf. Landesbehindertenbeauftragte und die entsprechenden Antidiskriminierungsstellen der Ministerien ins Spiel, und dann Presse. Auf AStA-Ebene haben wir bundesweit Kontakte durch einen unserer Absolventen. Und das alles ist jetzt vorgeplant, bedarf aber ständig der gemeinsamen Abstimmung. Also wenn man mal drinhängt, muss man es auch ordentlich zu Ende bringen, da gibt es kein Aussteigen mehr. – Das sind die Herausforderungen.47

Oder nicht ganz so kompliziert: Ich habe einen Doktoranden, der vor langen Jahren zu mir kam. Hatte in Sozialpädagogik sein Diplom gemacht, war dann in der Hall of Fame seiner Hochschule mit seiner Arbeit ausgezeichnet worden – also ein sehr guter Mann – und wollte über Schizophrenie promovieren, er wollte auch Interviews führen, und da war mir schnell klar: Das hat er selbst am Hals gehabt. Und er hat das sehr gut begonnen und hatte zwischendurch immer wieder seine Einbrüche, aber im letzten Jahr war es teilweise ganz gewaltig und wir hatten auch ein bisschen den Kontakt verloren. Dann war er wieder da und es ging nicht vorwärts und rückwärts und er hing vor dem Schlusskapitel. Und ich wusste genau, das Schlusskapitel spielt mit rein, weil er dort ja pädagogische Folgen ziehen wollte und überhaupt keine Ahnung hatte, was er wollte. Dann ist er noch mal in eine psychiatrische Einrichtung, was er aber heute sehr bedauert. Ich habe versucht ihn draußen zu halten. Ich war dann einmal in der Woche bei ihm, um eine Stunde mit ihm zu arbeiten. Und wir haben jetzt Stück für Stück das letzte Kapitel in Grundsätzen so stehen, dass er schreiben kann. Er ist jetzt dabei, nachdem er aus der Einrichtung zurück ist und die passende Einstellung hat, alle Teile für das letzte Kapitel zu schreiben und er schickt mir jetzt jede Woche einmal ein Stück und wir verabreden uns regelmäßig. Es wird eine sehr gute Arbeit, weil wir durch diese Gespräche noch mal darauf gekommen sind, dass ein Kernstück in der ganzen Schizophrenie-Debatte nicht die Krankheit als solche ist, sondern die Traumatisierung, die man durch unmenschliche Behandlungen von Kliniken, ÄrztInnen, PflegerInnen und anderen zugefügt bekommt. Er hat auch andere Psychiatriebetroffene interviewt und es wird natürlich auch das Stück Selbsterfahrung dann mit einfließen. Insgesamt hat er hervorragend die gesamte Literatur aufgearbeitet, einschließlich der genetischen Sichtweisen, der Kritik und anderes mehr (Hillbrecht, o. J.). Ja, das ist so, wenn man mal in der Geschichte drin ist, kann man nicht aussteigen. – Das sind die Herausforderungen.

Und Herausforderungen für das Feld?

Netzwerkbildung
als Aufgabe

Wie bewegt man in diesem Feld etwas? Das waren ja die Überlegungen, wie wir dann in der Luria-Gesellschaft aufgebaut haben, als ein Zentrum, und versucht haben darüber wieder ins Geschäft zu kommen. Vorher das Jahrbuch für Psychopathologie und Psychotherapie oder die Behindertenpädagogik. Ich habe über lange Jahre regelmäßig die Dozententagungen Sonderpädagogik besucht, allerdings habe ich in den letzten Jahren ein paar ausgelassen, das war während der langjährigen Depression meiner zweiten Frau, und dann, als alles gut war, mit ihrem unerwarteten Tod. Das ist nicht schön, wenn vier Monate nach der Diagnose Lungenkrebs ein geliebter Mensch tot ist. Das haut mächtig rein. Deshalb habe ich dann geguckt, dass ich das Haus in Osterholz-Scharmbeck verkaufen konnte. Wir hatten ein bisschen draußen gewohnt und ich bin dann wieder nach Bremen gezogen. Aber das hat alles seine Zeit gedauert. Und ich bin im letzten Jahr das erste Mal wieder auf einer Dozententagung in Berlin gewesen (Jantzen & Steffens, 2014). In diesem Jahr reizt es mich nicht hinzufahren, es ist nicht das, was mich interessiert. Diese Kontakte sind insgesamt wieder aufzubauen oder auch Vortragseinladungen anzunehmen. Ich war jetzt gerade wieder bei der Diakonie in Bayern zu einer Fortbildung für InklusionsberaterInnen. Also ich versuche auf diese Weise, Netzwerke zu knüpfen. Und die meisten Arbeiten, die ich in letzter Zeit geschrieben habe, entstehen aus konkreten Anlässen. Eine ist gerade erschienen in der Zeitschrift behinderte menschen über »Autonomie und Selbstbestimmung«. Das war ein Vortrag, den ich bei einer Arbeitsgemeinschaft der einschlägigen Wohlfahrtsverbände im Bereich Behinderung in Cuxhaven gehalten habe (Jantzen, 2015b). Viele der Texte entstehen dann durch Vortragsanforderungen. Ein neuer über Neurodiversität ist entstanden durch eine Tagung in Sachsen-Anhalt an der Evangelischen Akademie (Jantzen, 2015c). Das sind auch immer Herausforderungen, sich in ein neues Gebiet tiefer einzuarbeiten oder dort, wo man schon einmal gearbeitet hat, sich erneut gründlich damit zu beschäftigen. Und darüber dann eben auch Kontakte aufzubauen. Und auf die Weise versuche ich Politik zu machen. Was den engeren politischen Bereich betrifft, bin ich Vertrauensdozent bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung und habe den einen oder anderen Leuten auch durchaus helfen können, vernünftig in ein Stipendium reinzukommen oder habe sie dann auch im Promotionsbereich unterstützt. Eine prominente Doktorandin ist eine ganz liebe Freundin, die ich sehr unterstützt habe, sagt Ihnen der Name Reyhan Sahin etwas? Lady Bitch Ray aber sicher? Sie hat jetzt ein Gerda Henkel-Stipendium an der Uni Hamburg, hat den deutschen Studienpreis gewonnen und ist dabei sich zu habilitieren (Sahin, 2014). Das ist eine ganz liebe Freundin geworden. Und ich hatte die Ehre, die erste Korrektur ihres Buches Bitchism zu lesen. Und ein anderes Beispiel ist Daniel Stosiek, ein guter Freund, der immer mal wieder in Lateinamerika ist, der über Gerechtigkeitsvorstellungen indigener Völker promoviert hat und sich ganz großartig entwickelt, er ist für die Theologie der Befreiung und die indigene Theologie absoluter Experte. Er hat ursprünglich Theologie und dann Entwicklungspolitik studiert und hat ein sehr spannendes Buch geschrieben, wo er versucht hat, die ungeklärte Grundlage des Marx’schen Arbeitsbegriffes, die Arbeit der Natur als Energie- und Materieumwandlung noch mal zu begreifen, weil das wichtig ist, um den Naturreligionen der indigenen Völker auch eine ganz andere Basis zu geben (Stosiek, 2014).

Wie ging es denn eigentlich weiter nach der Wende? Sie haben gesagt, es war schwierig erst mal den Zusammenbruch zu verarbeiten?

Nachwendezeit

Naja, das waren ja mehrere Zusammenbrüche: Ich habe mich getrennt, die Partei ist zusammengebrochen, es lief eine massive Ausgrenzung im Fach, große Teile des Publikationssystems, in dem wir drinnen waren, brachen zusammen. Es musste alles neu entwickelt werden, und es war alles zu überprüfen. Ich habe mich dabei politisch noch einmal engagiert danach. Ich habe hier noch in der linken Bewegung in Bremen mitgearbeitet, habe in Bremen die PDS mitgegründet, bin eines der sieben Gründungsmitglieder in Bremen, und habe dann bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl als männlicher Spitzenkandidat auf Platz zwei der Landesliste Saarland kandidiert. Und das war es dann auch für mich. Dann bin ich kurz darauf ausgetreten aus der PDS; ich war einfach platt, habe mir eine Kur genommen. Wollte eigentlich in den ehemaligen DDR-Bereich, da gab’s noch nichts, dann bin ich nach Bad Harzburg, das war ja an der Grenze. Was ich dort im ehemaligen DDR-Bereich gesehen habe, hat mich geschockt und niemand aus der SED und dann PDS hat sich ersichtlich verantwortlich gefühlt und dann habe ich gesagt: »Das war’s, bringt euren Dreck alleine in Ordnung, ich habe genug damit zu tun, mich mit DKP und allem, was damit zusammenhängt auseinanderzusetzen, ich scheide in Freundschaft, aber das war es auch.« Und dann war ich lange, lange Jahre nicht politisch tätig. Bis mich jemand darauf aufmerksam gemacht hat: Warum bist du eigentlich nicht Vertrauensdozent bei der Rosa-Luxemburg Stiftung? Das habe ich dann gerne gemacht und das macht mir viel Freude (Jantzen, 2017a).

Welche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte sollten nicht in Vergessenheit geraten?

Behinderung als soziale Isolation

Das wirklich neue Paradigma, was wir hier entwickelt haben. Es ist dies ja zum dritten Mal in der Fachgeschichte, das erste Mal war es Séguin, das zweite Mal war es Vygotskij und das dritte Mal waren es wir. Also eine relationale Bestimmung von Behinderung als soziale Isolation, was man nicht mit sozialer Konstruktion verwechseln darf, sondern soziale Isolation, das bedeutet, dass jemand unter bestimmten Natur- und Sozialbedingungen in den Bereich einer Grenze gerät, wo er ausgegrenzt, sie ausgegrenzt wird und anders behandelt wird, als den Möglichkeiten entsprechend. Insofern ist ein Buch von Walter Mignolo zur Dekolonisierung auch für mich sehr interessant: Habitar la frontera, »die Grenze bewohnen«. Das ist auch etwas, zudem wir selber schon gekommen waren. Es fügt sich einfach an dieser Stelle zusammen (Mignolo, 2013). Und die Grenze zu bewohnen heißt: auch in Krisensituationen nicht auszugrenzen, das durchzuhalten und zu wissen, dass Ausgrenzung prinzipiell schadet und dass jeder Mensch unterstützt werden kann, seinen eigenen Weg zu gehen, und auch gehen wird, wenn Solidarität vorhanden ist, wenn Unterstützung vorhanden ist.

Ach, ich habe ein wunderbares Beispiel für das Bewohnen der Grenze, das erzähle ich immer wieder, ist auch schon in ein paar Aufsätzen erschienen: Einer unserer AbsolventInnen kam während des Studiums in die Supervisionsveranstaltung und sagte: »Wolfgang, ich habe heute eine schöne Geschichte für dich, die wird dir gefallen.« Und er begann mit »ein Kumpel von mir«, später stellte sich heraus, dass er wohl selbst der Kumpel gewesen ist. Das Ganze spielt sich im Kontext einer Großeinrichtung am westfälischen Landrücken ab. »Ein Kumpel von mir ist mit einem behinderten Mann ins Kaufhaus gegangen und plötzlich hat der behinderte Mann Angst bekommen, sich geschlagen und geschrien. Und da hat mein Kumpel sich daneben geschmissen und sich geschlagen und geschrien. Und da hat der behinderte Mann um sich geguckt, meinen Kumpel hochgezogen und ist schnell aus dem Kaufhaus raus.« Das ist das gemeinsame Bewohnen der Grenze. Oder ich habe es auch interpretiert mit Walter Benjamins Begriff der »messianischen Kompetenz« (Benjamin, 1965). Enrique Dussel sagt, das einzig Heilige, was zählt, ist der Andere. Und wir können ihn auch als Ausgegrenzten wahrnehmen, weil er sich im System selber offenbart: als Arbeitslose/r, psychisch Kranke/r oder wie immer. Und dann gehört dazu aber auch eine wechselseitige Offenbarung, dass wir uns auch zu offenbaren haben im Akt der Befreiung, im Bewohnen der Grenze, das hat dann der Kumpel getan. Offenbaren heißt, sich verletzbar machen, das taten beide. Ja, und dann zeigt sich das sehr schön, dass sowohl der Kumpel über die schwache messianische Kompetenz verfügt und dass der geistige behinderte Mann aber auch darüber verfügt und dass wir uns darauf verlassen können. Ich glaube, das ist eine ganz entscheidende Einsicht, dass soziale Ausgrenzung überwindbar ist. Dieser Begriff des Bewohnens der Grenze von Walter Mignolo gefällt mir außerordentlich gut (Mignolo, 2015). Ich werde auch das Glück haben, Mignolo morgen hören zu können. Er ist hier bei einer Veranstaltung der KollegInnen, die sich mit Rassendiskriminierung in den USA beschäftigen, das ist ja im Amerikanistik-Bereich ein Schwerpunkt, und er wird morgen vortragen. Ich bin sehr gespannt. Also das ist einfach ein Begriff, das haben wir alles schon drauf, aber er fasst es noch mal zusammen: die Grenze bewohnen.48 Und mein Doktorand Jan Steffens promoviert ja auch zu dem Thema Grenze an dem Beispiel Ausgrenzungsprozesse in Brasilien.

Sie haben eben schon gesagt, die theoretischen Grundlagen fehlen heute häufig. Welche theoretischen Grundlagen sind Ihnen denn besonders wichtig gewesen?

Theoretische
Grundlagen

Philosophisch Marx und Spinoza, gleichwertig. Wissenschaftlich die Russen, aber auch Wallon und Piaget natürlich. Bei den Russen natürlich mehrere in unterschiedlichen Aspekten Vygotskij, Leont’ev, Lurija, Bernstein und das Umfeld und natürlich auch Lotman und Bachtin. Aber auch eine Reihe anderer AutorInnen und viele andere westliche und unterdessen auch AutorInnen des Südens. Der russische Kontext ist ein soziales Feld, wo vielleicht die herausragendste Person Vygotskij ist, aber das Feld ist entscheidend. Und dann habe ich mich natürlich auch sehr intensiv mit Selbstorganisationstheorie beschäftigt, ab 1980 haben wir im Doktorandenseminar Selbstorganisationstheorie diskutiert (Jantsch, 1979; Maturana & Varela, 1987; Prigogine, 1988; Priogine & Stengers, 1986). Ich habe versucht, über die populärwissenschaftlichen physikalischen Publikationen dort dauernd den Anschluss zu behalten und zu lesen. Und natürlich die Anregungen, die durch Maturana und Varela gekommen sind, gerade wenn man sich kritisch damit auseinandersetzt, gerade der späte Varela hat ein paar wunderbare Sachen geschrieben, die unserem eigenen Denken sehr entsprechen. Da ist eine Phrase: der Geist ist nicht im Kopf, er ist nicht draußen und er ist nicht drinnen, er ist ein Zyklus von Operationen (Rudrauf et al., 2003). Das fasst das Problem wunderbar. Ähnliches finden wir auch bei René Spitz. Es ist ein vielfältiges Feld an Beeinflussungen. Die Lektüre von Ernst Cassirer ist sehr wichtig gewesen. Ja, es sind auch viele persönliche Einflüsse, so auch mein unterdessen verstorbener Freund Hans Heinz Holz – in den letzten Jahren ist das eine Freundschaft geworden, vorher kannten wir uns einfach aus der Marburger Zeit –, über seine Auffassung der Dialektik habe ich noch mal vieles gelernt, es ist einfach sehr vieles und ich bin immer sehr neugierig (Jantzen, 2006c).

Das glaub ich, dass in diesem Zeitraum eine Menge zusammenkommt.

Ich bin einfach immer neugierig und habe auch dort geguckt, wo andere Leute nicht geguckt haben. Wenn ich eine Idee hatte, das könnte interessant sein, habe ich es mir angeguckt. Ich bin mehr und mehr der Meinung, dass die heutige Gesellschaft auch in den HauptvertreterInnen Züge von Psychopathie und Soziopathie hat. Durch ein spanisches Buch bin ich darauf gestoßen, dass es Literatur dazu gibt. Ich habe es mir gekauft und es liegt hier schon ein paar Jahre. Irgendwann muss ich das letzte Kapitel noch lesen, ist noch nicht ganz durch, immer mal gelegentlich. Der Autor macht populären Journalismus und Radiosendungen, hat eine Menge Bücher geschrieben, war auch mal Minister. El alma esta en el cerebro: Die Seele ist im Gehirn (Punset, 2006). Und da ist ein sehr interessantes Kapitel auch über Psychopathie. Dass da unter den Herrschenden einige Psychopathen sind, das ist mir schon lange klar, seit der Diskussion um Atomwaffen und die Haltung von Edward Teller, da ist schon klar, dass er ein Psychopath war. Und dann habe ich auch mal angefangen zu recherchieren, Psychopathie und Soziopathie und bin jetzt gerade auf ein noch nicht ganz lange in den USA erschienenes Buch von Charles Derber gestoßen, mit einer Einleitung von Noam Chomsky: Sociopathic Society (Derber, 2013). Das lese ich zurzeit. Ich bin einfach neugierig. Und es häuft sich hier im Zimmer so einiges was gelesen werden muss, einiges geschenkt, andere Bücher gekauft, dazwischen liegt schöne Literatur, ich hoffe, dass ich da endlich mal wieder dran komme. Da liegt Thomas Pikettys Das Kapital im 20. Jahrhundert (2014), das ich lesen muss, habe ich angefangen. Es hängt dann immer so ein bisschen davon ab, was so gerade die Aufgaben sind, die sich stellen.

Gibt es empirische Forschungen, wo Sie sagen, die waren für Sie besonders wichtig?

Eigene empirische Arbeiten

Ich habe ja eine Menge selbst empirisch geforscht. Meine Dissertation ist eine empirische Forschungsarbeit: Determination des sozialen Verhaltens und der sozialen Stellung von lernbehinderten Sonderschülern in ihren Klassen (Jantzen, 1973b). Es geht darum, wie man soziometrische Werte vorhersagen kann. Wenig. Es kam nicht viel mehr heraus, als in anderen Untersuchungen auch. Sobald man in eine bestimmte Größenordnung geht, egal was man für ein Instrumentarium hat, hat man zu viel Rauschen drin. Und dann habe ich in Marburg eine Menge empirisch geforscht zusammen mit Holger Probst und auch das Habilitationsprojekt hätte zu erheblichen Teilen aus empirischer Forschung bestanden. Wir haben Interviews mit Eltern gemacht, Annegret Overbeck, die später Professorin für Psychoanalyse in Frankfurt geworden ist, hat ihre erste Staatsexamensarbeit darüber geschrieben, es ging um eine Vergleichsuntersuchung von schlechten HauptschülerInnen und guten SonderschülerInnen, parallelisiert nach Alter, Geschlecht, IQ. Mit Familieninterviews und weiteren Erfolg versprechenden Verfahren. Es kam ganz klar raus, dass die Familien der SonderschülerInnen sich aufgegeben haben, dass sie hoffnungslos sind. Das ist das Entscheidende, was alles andere vorhergesagt hat. Verschiedenes anderes an Empirie ist damals entstanden: Wir haben eigene Fragebögen entwickelt, um LehrerInneneinstellungen zu sehen, ob konservative LehrerInneneinstellungen mit den Autoritätsskalen der Frankfurter Schule korrelieren und das alles habe ich dann gelassen. Wir haben eine empirische Untersuchung gemacht bei Werkstätten für Behinderte; von über 100 Werkstätten hatten wir Antworten. Dies ist nicht publiziert und das alles habe ich liegen gelassen in Bremen, weil ich dann sehr schnell in den Bereich qualitativer Forschung reinkam – zum Beispiel durch diese Arbeit mit der Spastikerhilfe – und dann gemerkt habe, auch durch das, was ich zunehmend methodologisch begriffen habe, die ganze quantitative Empirie greift dort nicht.

Grenzen quantitativer Forschung

Wesentlich war hier die Entwicklung des Diagnostikkonzepts. Da habe ich bei meinem Chef Karl-Hermann Wewetzer unglaublich viel gelernt, der ja von der Gestaltpsychologie herkam und der sehr in den Traditionen von Goldstein gedacht hat. Er sagte: »Meine Damen und Herren, ein diagnostisches Gutachten bedeutet Faktorenanalyse nach der Q-Technik: eine Person, über viele Tests und viele Ereignisse, viele Zeitpunkte.« Ja, dann kann man auch eine Faktorenmatrix errechnen für eine einzige Person. Also eine Lösung, in der man Hauptdimensionen der Entwicklung sieht. Das Gleiche schreibt Lurija (Lurija & Artem’eva, 2004) und noch mal findet man das bei Glaser und Strauss (1998) in der Grounded Theory. Den Weg, einfach qualitative Forschung theoretisch zu ordnen, über eine Syndromanalyse und über historische Einbettung und zu sehen, was bedeutet ein Syndrom für die Entwicklung der Persönlichkeit, wie Oliver Sacks das gesagt hat, das finde ich den entscheidenden Schlüssel für Forschung. Und dazu braucht man natürlich auch empirische Forschung, man muss immer wissen, was für ein Fall ein »Fall von …« ist, also derjenige, mit dem man sich gerade beschäftigt. Und das Gutachten für den Jungen mit Anenzephalie, das ich jetzt geschrieben habe in Schleswig-Holstein, da habe ich natürlich die Literatur dazu gelesen. Ich kenne die entscheidende Arbeit von Shewmon und Mitautoren, die vier Kinder beschrieben haben, die einfach das übliche Bild von einer Anenzephalie sprengen und zeigen, dass es medizinische Vorurteile sind, die bisher das Bild konstruiert haben. Und natürlich habe ich die Arbeit von Björn Merker gelesen, der neuropsychologisch begründet – und in Neuropsychologie geht ja verdammt viel Empirie rein – in einem großen, viel diskutierten Zeitschriftenartikel in Behavioral and Brain Sciences schreibt, dass subkortikale Prozesse schon eine komplette Struktur des Psychischen leisten (Shewmon et al., 1999; Merker, 2007). Empirie geht ständig mit rein; ich muss wissen was der »Fall von …« ist und, wenn ich ein Kind identifizieren will, in seiner Besonderheit als einzelner »Fall von …« Ich muss doch wissen, was Blindheit ist, ich muss doch wissen, dass es Gehörlosigkeit gibt und von da aus dann rekonstruieren. Und genauso muss ich wissen, was sind die Lebensbedingungen bei Fragilem-X-Syndrom, Down-Syndrom, Prader-Willi-Syndrom, Lesch-Nyhan-Syndrom. Ich muss es doch wissen, um dann zu rekonstruieren und in der Fachliteratur gucken, wo Fenster der Verwundbarkeit sind, wo Entwicklungsfenster sind, um dann zu sehen, was ist passiert in dieser Geschichte. Wie ist ein verwundbares Kind mit Situationen der Verwundung konfrontiert worden? Und wir wissen, dass das ja bis auf die genetische Ebene zurückschlagen kann. Das Genom ist ja nicht etwas, was sich einfach nur abwickelt, sondern das Crick’sche Dogma49 ist ja nun seit ein paar Jahren gefallen, man weiß, dass Zellstrukturen gezielt Sequenzen im Genom abrufen können und dass es auch genetische Variationen gibt, die verwundbar machen, aber nicht zwangsläufig zur Verwundung führen. Die findet man beispielsweise bei Schizophrenie, die findet man auch bei Autismus, also in einem ganzen Feld, das sich überlappt. Wundert ja auch nicht. Und entscheidend ist dann immer die Epigenetik; als neugieriger Mensch habe ich schon ab Mitte der 80er Jahre intensiv Epigenetik gelesen.

Was waren aus ihrer Sicht die interessantesten Streitpunkte innerhalb der Community?

Fehlende Bereitschaft für Streit

Es hat ja niemand unsere Streitpunkte ernsthaft angenommen. Der späte Ulrich Bleidick hat die Definition von Behinderung mal von mir geklaut, die ich 1973 geschrieben habe, und irgendwann hat er auch mal geschrieben, dass das mit der »Arbeitskraft minderer Güte« wohl etwas auf sich hat, aber das mit der Isolation hat er nie begriffen. Es gab keine Streitpunkte, weil die Leute gar nicht bereit waren, Streit anzunehmen. Des Öfteren hat man in Publikationen gelesen: Jantzen und Feuser, das ist so schwierig, da können wir eh nicht drauf eingehen. Exemplarisch für den Bereich Soziologie, so habe ich es noch in Erinnerung, hat das Frau Elisabeth Wacker mal geschrieben.50 Wenn es sie mal gegeben hätte, nein, es gab unterschwellig Denunziationen, Ausgrenzungen. Ich weiß es, weil irgendwann mal Herr Spiess, der den Marhold Verlag übernommen hat, gesagt hat: »Was glauben Sie, Herr Jantzen, was mir Herr Marhold noch erzählt hat, was alles gegen Sie gelaufen ist! Die Leute haben hier auf der Matte gestanden und versucht zu verhindern, dass von Ihnen etwas publiziert wird.«

Fand denn trotzdem keine tatsächliche Auseinandersetzung statt?

Auseinandersetzungen im Verband deutscher Sonderschulen

Die Auseinandersetzungen waren in den Hauptversammlungen des VDS und da hat es gefetzt. Am deutlichsten ist vielleicht die in Braunschweig, ich meine die wäre 1981 gewesen, wenn ich mich nicht ganz täusche, da war einerseits eine Festschrift über die Braunschweiger Sonderschule erschienen und da stand auch drin, dass zwei Sonderschullehrer Gutachten für Sterilisation geschrieben haben und diese befürwortet haben. Der Name wurde nicht preisgegeben, man wusste unter der Hand, dass der eine Eberhard Schomburg war (Bleidick, 1981). Auf dieser Versammlung hat dann der Verbandsvorsitzende Bruno Prändl den berühmten Ausdruck über die italienische Integration geprägt: »italienische Seuche«. Nun muss man natürlich wissen, was italienische Seuche ist, das war in Italien die französische Krankheit, also Syphilis. Und gleichzeitig kursierte andererseits mein Artikel aus der Demokratischen Erziehung als Vorabdruck aus dem Buch, das dann erschienen ist, der Soziologie der Sonderschule, unter dem Titel Schafft die Sonderschule ab (Jantzen, 1981). Und in dieser Härte liefen die Auseinandersetzungen dann auf den Hauptversammlungen. Kaum hatte Prändl das Wort ergriffen, haben Georg Feuser oder ich schon sofort Geschäftsordnungsanträge gestellt. Wir haben uns Schlachten geliefert, die waren außerordentlich. Und dann aber, als die Ära Prändl vorbei war und als die Singer-Debatte war und die Angriffe von außen mächtig waren, war ich dann noch für den Landesverband Bremen als Delegierter und als Vorstandsmitglied auf fünf Hauptversammlungen und habe erreicht, dass wir dann mit volkskammerähnlichen Beschlüssen (mehr als 90 % Zustimmung), den Verband wieder auf eine Linie gekriegt haben. Und mit den Bayern, mit denen ich dann in die Konfliktlösungskommission gegangen bin, und mit denen aus Baden-Württemberg war das erst mal grauenhaft. Aber am Schluss waren wir
Freunde.

Und insgesamt im Rückblick, diese Übernahme des Landesverbands Hessen?

Wolfgang Jantzen: Die war der entscheidende Hebel, um die Verbandslandschaft zu verändern. Und ich war sehr froh darüber, über die Veränderung des Verbandes. Als Herr Rumpler 1989 auf dem Kongress in Hannover zu »100 Jahre Verband«, ohne dass ihn jemand getreten hatte, in seinem Einleitungsvortrag die Opfer des Nationalsozialismus, an denen die SonderschullehrerInnen mit Schuld waren, um Verzeihung gebeten hat, das fand ich dann schon, dafür hat es sich gelohnt. Dieser Verband spinnt trotzdem. Die Zeitschrift für Heilpädagogik ist dermaßen schlecht, dass man bei jeder Folge denkt, schlechter geht’s nicht, aber es geht doch noch. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Nein, die Hauptkonfliktlinie war der Verband und die Nebenkonfliktlinie war die Lebenshilfe, wo es immer wieder furchtbar gekracht hat zwischendurch.

Aus der Diskussion um Institutionen?

Bestimmte Sachen. Es gab mehrfach Publikationsversprechen von Vorträgen, die nicht eingehalten wurden, dann war in der Singer-Debatte die Auseinandersetzung mit der Lebenshilfe um die Gründungsväter Stutte und Villinger – wir haben das kräftig mitbedient und hier in Bremen mitdiskutiert –, und dann gab es eine Tagung in Marburg, die sich mit Integration und Institutionalisierung beschäftigt hat, wo ich auf dem Podium mit meinem Freund Franz Christoph saß und dann später in die Veranstaltung der Geschäftsführer der Lebenshilfe kam und dauernd in einer absolut üblen Weise gestört und angegriffen wurde. Es war nur übel und alle waren empört. Da habe ich ihn auflaufen lassen, das kann ich manchmal, habe ihm gesagt: »Also wenn ich das mit der Terminologie der RAF beschreiben würde, was Sie hier machen, dann betreiben Sie hier die Rolle des Schweins.« Das war’s. Ich habe ihm auch gesagt, dass ich ihn nicht persönlich meine, hinterher war er abgeschossen. Ja, und dann kam ein langer Brief von der Lebenshilfe und der Marburger Kollege Bönner meinte sich noch dazu äußern zu müssen, ich solle mich entschuldigen. Ich habe mir das alles angesehen und habe dann gesagt: »Eigentlich läge es eher an Ihnen sich für das Verhalten ihres Mitarbeiters zu entschuldigen.« Dann war wieder ein paar Jahre lang Funkstille. So lief das mit der Lebenshilfe immer. Man muss die Dinge auch manchmal auf den Punkt bringen. Und für solche Situationen habe ich einen Spruch von Wolf Biermann drauf, den ich insgesamt nicht besonders schätze51, aber er hat zum Teil wunderbare Texte geschrieben und manchmal großartige Sprüche. Kurz nach der Wende, als dann in der DDR viele noch den Marx’schen kategorischen Imperativ zitiert haben – alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein erniedrigtes, ein verlassenes Wesen ist –, da hat Biermann dazu gesagt, denen sollte man einen mit dem Hammer über den Kopf hauen – aufheben und trösten kann man sie immer noch. Ja, das ist dann manchmal so.

Wie war das mit Bezügen zu anderen Teildisziplinen der Pädagogik?

Bezüge zu anderen Teildisziplinen der Pädagogik

Zur Pädagogik wenig, zur Sozialpädagogik zwischendurch. So lange mein Freund Dankwart Danckwerts in Duisburg gelehrt hat gab’s Kontakte. Mit Walter Thiersch in Tübingen hatte ich die einen oder anderen Kontakte und in Bremen mit den SozialpädagogInnen natürlich, aber insgesamt eher nicht. Und mit der allgemeinen Erziehungswissenschaft gar nicht, außer dass ich Wolfgang Klafki sehr schätze, und er mich wohl auch ein Stück schätzt. Meine Kontakte waren alle in anderen Fächern.

Aber die Idee auch der Allgemeinen Behindertenpädagogik?

Es ist ja eine synthetische Humanwissenschaft, die einfach auf diesem Gedanken aufbaut, dass Isolation bzw. Partizipation die entscheidenden Relationen für die Menschwerdung sind. Um es mit Plessner zu sagen: Die exzentrische Positionalität ist einfach unser Schicksal, darin sind wir drin (Plessner, 1975).

Und schon mit dem Ziel, letztlich die sogenannte Allgemeine Pädagogik auch zu einer Allgemeinen Pädagogik zu machen?

Ja, auch allgemein, auch Behindertenpädagogik heißt natürlich, die Allgemeine Pädagogik damit zu konfrontieren, dass sie von Behinderung keine Ahnung hat, dass sie sie vernachlässigt hat und dass sie ein Ausgrenzungsgeschäft betreibt.

Und Zielstellung wäre ja dann eine Veränderung oder Entwicklung der Allgemeinen Pädagogik?

Ja, irgendwann, wenn die sich so verändert hat, dass der Begriff, wie Vygotskij schreibt, »überflüssig« ist, dass dann das Wort »Defekt« als Wort für unseren eigenen Defekt gelten kann (Vygotskij, 1975). Einfach zu zeigen, dass man Behinderung generell anders denken kann. Wenn man so will: eine durch und durch antirassistische Position.

Gab es genau zu diesen anderen Ausgrenzungsdimensionen Geschlecht, Rasse, sexuelle Orientierung Bezüge?

Am Rande, nicht zentral natürlich, denn ich bin auch in der Geschichte in Lilienthal einige Male auf sexuelle Misshandlungen gestoßen. Aber das war nicht die zentrale Ebene auf der es angelegt war. Ich habe das eine oder andere dazu auch mit Freude gelesen und das eine oder andere Mal mich auch dazu geäußert, aber die Stoßrichtung war eine andere. Die Stoßrichtung war insgesamt Behinderung als letzte Bastion des Rassismus aufzulösen. Also so, wie das Theresia Degener dann modern ausdrückt, der »menschenrechtliche Aspekt« (Degener, 2015).

Welche zukünftigen Aufgaben und Herausforderungen sehen Sie für die Praxis?

Dekolonialisierung

Aus dem provinziellen Denken des Nordens rauszukommen oder wie das Boaventura de Sousa Santos in seinem großen grundlegenden Buch schreibt: »Die teilnahmslose Vernunft des Nordens zu überwinden und die unterschiedlichen Formen der Ausgrenzung, die durch diese teilnahmslose Vernunft hervorgebracht wurden« (Sousa Santos, 2013). Die Lateinamerikaner begründen das sehr gut, dass man Moderne und Kapitalismus historisch ganz anders lesen kann als das im Norden geschehen ist. Im Prinzip beginnt die Moderne mit der Conquista, weil ab 1453 die Handelswege nach Osten geschlossen waren, nach dem Fall von Konstantinopel. Das hat die Venezianer, das hat die Portugiesen, das hat die Spanier, das hat ganz Europa getroffen. Und die Conquista hat praktisch neue Handelswege eröffnet und gleichzeitig einen ungeheuren Reichtum, aber das wurde von einer ungeheuren Vernichtung begleitet. Die Geografen gehen unterdessen davon aus – also die physikalische Geografie –, dass einer der Punkte, wo man das Anthropozän ansetzen könnte, der niedrigste CO2-Ausstoß gewesen ist, der über Jahrhunderte geschehen ist, nämlich, nachdem durch die Conquista große Teile der lateinamerikanischen Landwirtschaft so zerstört waren, dass sich das alles regeneriert hat und dadurch der CO2-Ausstoß sich erheblich reduziert hat auf den niedrigsten Punkt, das muss ungefähr um 1600 gewesen sein. Ich habe jetzt nicht die Daten im Kopf; es stand in einem der letzten Hefte der Nature (Lewis & Maslin, 2015). Und was die Conquista selbst betrifft, sind nach unterschiedlichen Schätzungen von 55 bis 60 Millionen Indigenen fünf Millionen übrig geblieben und nicht, wie bisher meistens kolportiert, durch Krankheiten gestorben, sondern die meisten sind durch Arbeit vernichtet worden. Und das hat auch dazu geführt, dass dann sehr schnell das System der Encomiendas – der Landgüter, die der spanische König an seine Vasallen in Lateinamerika verliehen hat, Landgüter plus Bevölkerung – aufgegeben wurde, weil es dort zum gnadenlosen Tod von Indigenen geführt hat und dies es erst notwendig gemacht hat, dann massiv aus Afrika Sklaven einzuführen. Und damit verbunden ist die Etablierung des Begriffes der Rasse und der sich entwickelnde Kapitalismus – durch diese ungeheuren Goldströme und durch die Öffnung der Meere dann, nachdem erst mal der Atlantik erforscht ist und die neuen Grenzen da sind. Da kann natürlich Magellan den Seeweg nach Indien finden und mit dieser Entwicklung findet natürlich auch ein Vasco da Gama den Weg ums Kap, und das heißt, Europa eröffnet sich über diese Wege ungeheure Mengen an Reichtum, durch völlig neue Handelswege, die durch die Conquista entstehen. Das befördert den sich entwickelten Kapitalismus und natürlich den Eurozentrismus, so die lateinamerikanische Lektüre. Und dagegen entwickelt sich jetzt eine sehr gut durchdachte Dekolonialisierungstheorie, die verschiedene Ansatzpunkte hat: das Erste sind schon mal die Berichte von Bartolomé de Las Casas – der sich aber in Spanien nicht durchsetzen kann –, in denen er die Verbrechen der Conquista aufdeckt. Sein Gegner ist Juan Ginés de Sepúlveda, der sich durchsetzt in der Diskussion, dass die Weißen einfach eine höherwertige Rasse sind und von Natur aus Herren sind. Dann ist für die Dekolonialiserungstheorie ein Dokument wesentlich, das 1616 abgeschlossen wurde und 1902 erst in Kopenhagen wieder entdeckt wurde: ein Inka-Adliger, der die Conquista überlebt hat, der dann Christ geworden ist, der ein langes Manuskript geschrieben hat, was zu Händen des spanischen Königs gehen sollte, wo die gesamte Geschichte der Inkas niedergeschrieben wurde und das Wüten der Spanier beschrieben wurde, der den Spaniern auch vorhält, dass sie entgegen dem Christentum, das sie lehren, nur einen Gott kennen – das Gold – und dass sie alle in die Hölle kommen werden (Adorno & Guamán, 1988). Dies ist heute der früheste lateinamerikanische Bezugspunkt für eine dekoloniale Theorie. Und ein späterer Bezugspunkt, der dann aufgenommen wird und noch mal eine bedeutende Rolle spielt, ist Frantz Fanons Buch über Die Verdammten dieser Erde, das Manifest der dritten Welt. Und diese Debatte ist noch mal von großer Bedeutung, weil sie alle die Stimmen derer, die in Europa unsichtbar gemacht werden, zeigt (Fanon, 1969).

Noma

Haben Sie schon mal was von Noma gehört? Ich auch nicht, über lange Zeit nicht; ich habe es erst durch Jean Zieglers Report: »Wir lassen sie verhungern« erfahren (Ziegler, 2013). Das Thema hängt zusammen mit einer UNO-Vereinbarung – ich habe nicht die genaue Stelle, bei Jean Ziegler ist das genau zu lesen –, eine Vereinbarung, die nicht abgezeichnet wurde von den USA, Großbritannien, Neuseeland und Australien. Sie beinhaltet, dass alle Menschen ein Recht auf Nahrung haben, und das ist für diese neoliberal verseuchten Länder, so sagt es Ziegler, ein Werk des Teufels, aber auch für den IWF und die Weltbank, weil das die Kräfte dieses sogenannten freien Marktes außer Kraft setzen würde. Kommen wir also zu Noma. Noma ist eine bakterielle Erkrankung, die bei schwer hungergeschwächten Kindern greift, sehr früh. Spätestens beim vierten Kind haben die Mütter nicht mehr genügend Milch, die Kinder sind völlig geschwächt von Hunger und dann zerfrisst diese bakterielle Infektion den Mund und das ganze Gesicht und die Kinder sterben schließlich. Zum Teil werden durch die Mütter die Zähne herausgebrochen, damit sie überhaupt noch ernährt werden können. Und mit minimalen Mitteln könnte man sie ernähren. Jedes Jahr sterben 120.000 Kinder daran und es kann nicht eingegriffen werden, weil die Eingriffsmöglichkeiten nur beschränkt sind auf Infektionskrankheiten, ansonsten müssen die Länder selbst bitten, dass eingegriffen wird.

Globale
Herausforderungen

Also, so die Inklusionsdiskussion im Norden läuft ohne Kenntnis dieser Tatsachen – also wo sind wir eigentlich? In welcher Welt? – Das meine ich. Oder ohne Kenntnis der Müllmenschen in Lateinamerika, die es nach wie vor gibt, vor Kurzem ist dies erst aus Guatemala berichtet worden – nicht überall ist es so katastrophal, dass hier massenweise geistige Behinderung resultiert, zum Teil ist es auch eine geordnete Arbeit auf den Müllhalden. Jan Steffens hat entsprechend Leute interviewt, mit Mühe. Es gibt auch die entsprechenden Filmmaterialien, darüber diskutiert in unserem Fach keine Sau. Ich sage ja nicht, dass wir es ändern können, aber dass wir es verschweigen ist eine Schande. Genauso ist eine Schande, zu verschweigen, was hier in den Abschiebeeinrichtungen der Jugendhilfeeinrichtungen vor sich geht. Durch das Fernsehen ist ja erst rausgekommen, dass sie teilweise nach Ungarn abgeschoben haben, unter miserablen Verhältnissen. Ich bin in einer Begutachtung in Hamburg, da ist ein junger Mann eineinhalb Jahre in einer Einrichtung mit Sicherheitspersonal und Betreuern ohne vernünftige Tagesplanung, und jetzt ist er in der Forensik gelandet, weil die Betreuer Anzeige gegen ihn erhoben haben, weil er sie angegriffen hat, aber genau deswegen war er dort. Ja, danke! Mit Zwangsfixierung und allem. Und es gibt ein Bundesgerichtshof-Urteil, das Zwangsfixierung bei Jugendlichen ins Belieben der Eltern stellt – völlig gegen die Behindertenrechtskonvention, völlig gegen den Mendéz-Report, der noch mal sehr stark auf Foltersituationen auch in Gesundheitseinrichtungen aufmerksam gemacht hat. Und wenn das Fach das alles nicht wahrnimmt, dann sollen sie sich ihre ganze Inklusionsdebatte in den Arsch stecken! Oder? Das ist meine Meinung. Wir können das nicht alles ändern, aber wir haben es wenigstens zur Kenntnis zu nehmen und wir haben ein Netzwerk zu bilden, das offen ist. Ja, und wo wird im Fach ernsthaft über die Situation der Flüchtlinge diskutiert?52

Es war bei der diesjährigen I-Forschungstagung, da fand das statt.

Sonderschulen

Das sind meine Sachen, die ich betone. Und wo ich im Widerspruch bin und etliche Leute sehr ärgere damit, da ich meinen Widerspruch artikuliere. Genauso: Man kann nicht Bremen als Ort der Inklusion hervorheben, ohne zu sagen, dass sie die Schule für Körperbehinderte Louis-Seegelken-Straße für einen Ort erklären, wo Inklusion nicht möglich ist. Schwer Körperbehinderte kann man ersichtlich nicht inkludieren in Bremen, wobei inkludieren sowieso das falsche Wort ist. Wenn sich jemand zu inkludieren hat, sind wir es. So, ich glaube so langsam kapieren Sie ein bisschen, was ich so mache und gemacht habe. Und weshalb ich eigentlich so richtig in die Integrations- und Inklusionsdebatte nicht reinpasse, aber doch reinpasse.

Blau-Haus

Wo ich im Moment noch mit drinhänge, ist in Bremen die Entwicklung des Blau-Haus; das ist ein Wohnprojekt, initiiert von der Blauen Karawane, die aus der Blankenburgauflösung und der Antipsychiatriebewegung kommt. Das soll ein Wohnprojekt für Behinderte und Nichtbehinderte, für Leute in prekären Lebenslagen sein, eine Gruppe für demente Menschen wird mit drinnen sein, mit Café, Werkstätten, großem Innenhof und in einem Teilbereich ein Kindergarten. Das entsteht in der Überseestadt und wird gleichzeitig auch dann aktive Politik gegen Gentrifizierung der Überseestadt sein. Dann arbeite ich besonders im Bereich der Planung der Demenzgruppen mit, nur ergänzend noch (Jantzen, 2014).

Das finde ich ja ganz spannend, die Kombination aus tatsächlich praktisch tätig sein und der theoretischen Arbeit.

Verbindung
zur Praxis

Die Theorie wäre nie gegangen, wenn ich nicht dauernd auch den Fuß in der Praxis gehabt hätte. Und ich habe mir die Praxis auch bewusst gesucht. Also mein erstes Forschungssemester in der Großeinrichtung in Neuerkerode habe ich mir ganz bewusst gesucht, weil ich merkte, die Praxis verblasst immer mehr, das brauchst du wieder.

Welche zukünftigen Aufgaben und Herausforderungen sehen Sie für die Forschung?

Grenzen quantitativer Forschung

Einen Weg aus dem Empirismus herauszufinden, der eine Katastrophe ist. Sagt Ihnen der Name Arjun Appadurai etwas? Ist ein indischer Soziologe, einer der wichtigsten der Globalisierungskritiker, der eine Menge zu Graswurzelbewegungen geschrieben hat, zudem ein sehr spannendes Buch, wie er sich denkt, dass die Geografie des Terrors zu beschreiben wäre. Also er ist einer der meist gelesenen Globalisierungskritiker und der schreibt mal, man müsste sich die Wissenschaft heute so vorstellen wie den Festlandschelf: Alles sieht, dass es nach oben kommt und sich vernetzt und die Hauptsache ist es, an der Oberfläche zu sein, das heißt aber, alles andere wird nach unten getreten, erscheint nicht an der Oberfläche (Appadurai, 2001). Und natürlich sind dann Citation-Index und Peer-Reviews entscheidend. Und man sieht es ja auch, wenn man es liest, dass auch Teile naturwissenschaftlicher Publikationen gefälscht und erlogen sind. Das ist ja bekannt unterdessen. Bruno Latour hat vor Jahren mal einen blendenden Artikel in den Lettre International veröffentlicht, »Der Biologe als wilder Kapitalist«: Was da ein Biologe alles an Intrigen angestellt hat, um möglichst auf einen Nobelpreis zuzusteuern (Latour, 1994), das ist unglaublich. Ja, und wenn ich das sehe, was in der Zeitschrift für Heilpädagogik oder sonst wo im Fach erscheint oder auch in der Teilhabe, mir sträuben sich die Haare. Mit so einer Empirie, da wäre man im Psychologiestudium rausgeflogen. Ein Großteil der Arbeiten in der Zeitschrift für Heilpädagogik hätte bei uns in Gießen das Vordiplom nicht passiert. Und wir hatten wirklich die besten Empiriker damals, ich habe eine hervorragende Empirie-Ausbildung, was die meisten Leute gar nicht wissen. Statistik I und II, Faktorenanalyse I und II, Testtheorie I, II, III und IV. ergänzend dazu drei Experimentalpraktika im Grundstudium, eine experimentelle Vordiplomarbeit, eine empirische Diplomarbeit und eine empirische Doktorarbeit, das wissen die meisten Leute ja nicht. Ja, ich habe mich dann einfach für qualitative Forschung entschieden, weil ich finde, dass das sehr viel mehr bringt, weil die Welt zu komplex ist, sodass die entscheidenden Fragen in qualitativer Forschung gelöst werden müssen. Klaus Holzkamp hat das mal mit Bezug auf Kurt Lewin Möglichkeitsverallgemeinerung genannt. Wenn ich in einem Feld genau beschreibe, was der Fall sein kann, und dann der Fall eintritt, kann ich eine ganze Theorie verifizieren oder falsifizieren, dass tun ja die Physiker im CERN. Gibt es nun das »Gottesteilchen« oder nicht? Das heißt, durch Theorie ist ganz klar eingegrenzt, was geht oder was nicht. Und können nun Menschen mit Anenzephalie lernen oder nicht, das ist eine Frage, die beantwortet werden kann. Und es reichen einige dokumentierte Fälle. Ich kann noch weitere hinzufügen, zwei weitere Geschichten, das eine filmisch dokumentiert, dass dem so ist, dass sie lernen und Dialog führen können (Jantzen, 2001). Also mache sich nie jemand wieder anheischig und sage, bei Anenzephalie gibt es kein Erleben, gibt’s keine Bindung, das kann man vergessen. Insofern bin ich auch im großen Widerspruch zum Großteil der empirischen Forschung an Tieren, weil die unendlich oft das wiederholen, was man längst schon sagen kann, wenn man genau das Feld untersucht, in dem man arbeitet, weil man die Bedingungen der Möglichkeit eingrenzt, und dann könnte man auf einen Großteil aller Versuche heute sofort verzichten ohne jeglichen Erkenntnisverlust. Und damit bin ich wirklich in der wissenschaftstheoretischen Debatte auch der Naturwissenschaften, nicht in dem Quatsch, was da so an Empirismus durch unser Fach geistert: Arbeiten zum Teil, da wird einem schlecht, wenn man sie liest, ausgebreitet über endlose Seiten und Zahlenkolonnen, die nichts anderes aussagen als was man ohnehin schon weiß. Die Zeitschrift für Heilpädagogik ist ein Musterexemplar davon. Also dies erhoffe ich mir sehr, ich hoffe, dass wir ein theoretisches Denken wieder ins Fach kriegen, aber theoretisches Denken nicht im Sinne von Ideologie, sondern von einer Theorie als Erklärungswissen und einer Systematisierung von Erklärungswissen, so wie man das beim Bauen von verallgemeinerten Theorien hat, wie Sie es in der Allgemeinen Behindertenpädagogik sehen, wo ich versucht habe, das mit der Entwicklungspsychologie zu machen, oder wie man es in meinem Jugendberichtsgutachten später noch lesen kann, wo ich versucht habe, Wallon noch zusätzlich aufzuarbeiten (Jantzen, 2002). Man muss einfach sehen, was sind die Leistungen der einzelnen theoretischen Zugänge, was sind die Widersprüche und was ist der gemeinsame Kern, den man mit einer neuen Theorie beleuchten kann, aus dem heraus man fraktal alle anderen Theorien entwickeln kann. Das ist eigentlich Theorie. Also dafür ist natürlich Heinz von Foersters kybernetische Denkweise sehr gut und ebenso vieles andere in der modernen naturwissenschaftlichen Wissenschaftstheorie (Foerster, 1993).

Dann habe ich die Fragen zu den wichtigsten eigenen Buchveröffentlichungen und Textveröffentlichungen, das könnten wir aber auch per Mail machen.

Da nenne ich nur zwei. Die wichtigste Textveröffentlichung ist dieser Text, den ich als Vortrag in Reutlingen 1975 gehalten und dann 1976 in der Demokratischen Erziehung publiziert habe: »Materialistische Erkenntnistheorie, Behindertenpädagogik und Didaktik«. Der ist sozusagen, mit dem auf die Hegel’sche Philosophie verwendeten Begriff ausgedrückt, ein Systemprogramm. Und die Ausführung des Systemprogramms ist die Allgemeine Behindertenpädagogik.53 Und dann könnte man ergänzend nennen, dass in dem Handbuch eine Reihe von Artikeln sind, die eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung in der Humanwissenschaft haben. Ich selbst habe insgesamt 23 Artikel schreiben müssen, deutlich mehr als ich wollte, darunter etliche Hauptstichwörter. Da würde ich keines besonders hervorheben wollen.54

Und für das Buch war die Idee auch mal das Interview zu nehmen und dazu einen ausgewählten Artikel von damals sozusagen, gibt es da einen wo sie sagen …?

Theoriearbeit

Das wäre »Materialistische Erkenntnistheorie, Behindertenpädagogik und Didaktik«. Das ist der zentrale, da sind alle Grundgedanken entwickelt. Die dann Stück für Stück aufgenommen und entwickelt werden und ich bin in theoretischer Hinsicht immer sehr vorsichtig und misstrauisch, bevor ich einen Begriff übernehme. Man muss immer sehr genau untersuchen, was ein Begriff am gesamten Begriffsgefüge macht. Und dann hat man eine Menge Begriffe, die man so noch auf der Liste hat, die muss man vertieft bearbeiten. So auch der Begriff der Grenze, wir könnten uns zufrieden geben, dass wir bei Juri Lotman eine sehr gute semiotische Theorie und Kulturtheorie der Grenze finden (Jantzen, 2013b), genügt uns aber nicht, dieser Begriff muss in den gesamten Sozialwissenschaften verankert sein, damit er tragfähig ist und es lohnt sich sehr, sich auf den Weg zu machen. Allein schon Lotman und Bachtin zusammen zu lesen, was viele Leute nicht machen, das ist ein Anfang. Und dann kommen jetzt Mignolo und andere dazu. Und wenn man das alles hat, dann wird’s was. Also Theoriearbeit ist wirklich eine sehr disziplinierte Arbeit und die Begriffe fliegen einem nicht leichtfertig zu und man muss genau hinsehen – genauso wie die Physiker genau sehen mussten, wenn sie vereinheitlichten Theorien entwickelt haben. Man geht immer wieder runter zur Praxis und hoch zu den empirischen Befunden und zu den Sachlagen und zu den qualitativen Befunden und schließlich zum vorhandenen Erklärungswissen und erneut zur Praxis. Und wir haben natürlich andere qualitative Befunde, weil die letzte Instanz unsere Ideen zu verifizieren die betroffenen Personen sind, über die und mit denen zusammen wir Aussagen machen. Ich erhoffe mir, dass durch unser Fach langsam mal ein Ruck durchgeht, der es zu einer wissenschaftlichen Entwicklung bringt, aber das ist wohl wo bald nicht zu erwarten. Jedenfalls in großen Teilen nicht.

Aber wie sollte das dann aussehen?

Veränderungen
der Universität

Ich will Ihnen eines sagen, was ich unbedingt für nötig halte – das haben wir in all den Jahren gemacht in der Ausbildung und das war wahrscheinlich eine der Grundlagen unseres Erfolgs –: Die Uni muss Studentinnen und Studenten so behandeln, wie sie erwartet, dass die Studentinnen und Studenten nachher mit behinderten Menschen umgehen und wenn sie das nicht tut, wird sie niemals erreichen, dass Leute sich selbstständig in dem Fach engagieren und denken, dass sie mit dem, was sie in der Uni lernen, was anfangen können und nicht bloß mit Bulimie-Wissen herausgehen. – Das ist für mich der absolut entscheidende Punkt.

Also auch da Projektarbeit?

Projektstudium

Möglichst ein Projektstudium, aber auch eine Anerkennungsstruktur, wo jede Form von Rassismus und Diskriminierung – auch in den Veranstaltungen – sofort sanktioniert wird und wo es freies Lernen gibt, wo die Leute nicht durch Anwesenheitslisten und Zwang gebunden sind: freiwilliges Lernen unter Gleichen. Und wenn einer mal öfter fehlt, dann spricht man einfach und fragt was los ist: Was ist mit deinem Leben los oder verlierst du die Lust am Fach, was können wir tun? Und alles andere ist gerade für so ein Fach wie das unsrige gänzlich unangebracht. Man müsste sozusagen versuchen, Freires Pädagogik der Befreiung in der Universität zu etablieren (Freire, 1974). Ein Stück weit haben wir das versucht, das wird man sich kaum vorstellen von außen, niemals war es mit irgendeiner Form von Indoktrination verbunden. Alle wussten, dass ich marxistisch denke, aber ich habe in meiner ganzen Uni-Zeit nur eine einzige Veranstaltung zu Marxismus gemacht, das war in meinem letzten Semester, und die hat dann in der Abschlussvorlesung geendet (Jantzen, 2006c). Aber es musste auch nie jemand Sorge haben, dass er oder sie einen Schein nicht gekriegt hat, da brauchten wir gar nicht drüber reden, es konnte nachgebessert werden. Entscheidend war letztlich der Abschluss. In den Prüfungen ist nichts geschenkt worden. Aber es wurde nicht abgefragt, sondern geguckt, ob Leute denken können, das wussten sie auch und das ging gut. Und so was wünsche ich mir. Dann kriegen wir eine vernünftige Anerkennungsstruktur ins Fach und die ist die Basis dafür, dass sich Wissenschaft entwickeln kann, weil dann StudentInnen durch ihre Fragen auch HochschullehrerInnen nötigen werden, weiter zu denken und nicht bloß Wissenschaft zu verwalten. Das verlangt natürlich eine andere Universitätsstruktur.

Der Weg ist ja gerade der andere.

Ja, natürlich und ganz brutal.

Das ist für mich ja auch so ein bisschen die Frage im Moment, wo man sagt, die sozialen Bewegungen, die es ja in den 60ern, 70ern und in den 80ern noch gab, liegen so ein bisschen darnieder oder kriegen nicht mehr die Aufmerksamkeit und Energie?

Ach, die werden aber wiederkommen, es gibt Anzeichen dafür.

Wo kommt zum Beispiel die Kraft der Veränderung her?

Oh, ich merke, ich sollte es endlich mal publizieren. Bei meinem ersten Aufenthalt in Brasilien, ich war zweimal da, das erste Mal 2009 an der Katholischen Pontifikatsuniversität in São Paulo, das ist die Universität, wo Paulo Freire gelehrt hat, und im Jahr darauf an der staatlichen Universität in São Carlos und in einem Forschungsprojekt zur Bildungssituation indigener Völker am oberen Rio Negro. In einem Projekt in São Paulo wurde versucht auf dem Hintergrund kulturhistorischer Theorie Lernkulturen in den Favelas zu entwickeln. Eine sehr interessante Sache. Da habe ich Lehrveranstaltungen über kulturhistorische Theorie gemacht und einen öffentlichen Vortrag gehalten, nämlich über die »Kraft des Widerstands aus Sicht der kulturhistorischen Theorie und des Marxismus«. Das sollte ich wirklich mal verschriftlichen. Es war so was von spannend. Drei Kolleginnen, drei Brasilianerinnen saßen da, ich habe auf Englisch vorgetragen und die wollten jeden Satz gleich übersetzen. Wir haben uns so was von amüsiert! Das war ein sehr interessanter Vortrag, das müsste ich mal schreiben. Die Kraft des Widerstandes, die kommt aus einer humanen Resonanz, aus einer Rückbindung, aus dem was die religiös Gläubigen Gott nennen. Wenn aber Gott eine Konstruktion ist, die in der Weltgeschichte entstanden ist, eine soziale Konstruktion, einfach als »Summe der guten Beziehungen unter den Menschen«, wie Dorothee Sölle hierzu eine amerikanische Theologin zitiert, wenn die messianische Kompetenz nicht bei irgendeinem Messias liegt, sondern bei jedem von uns Einzelnen, dann binden wir uns auch emotional anders zurück (Jantzen, 2010b). Dann wären wir nicht mehr anrufbar für die Oberen, sondern die ganze Anrufungsstruktur verändert sich. Da ist es uns beispielsweise wichtiger, uns neben einem behinderten Mann im Kaufhaus hinzuwerfen, als zu gucken, was die Passanten dazu sagen. Ja, und aus dem, wie gesagt, man kann das Offenbarung nennen, ergibt sich ein zweiter Begriff, den man hier verwenden kann. Der Kumpel hat den behinderten Mann erlöst und der behinderte Mann hat den Kumpel erlöst. Das ist gänzlich immanent gedacht, es ist ein philosophischer Begriff der Erlösung, den ich hier benutze. Wenn man das so anlegt, dann gibt es viele Dinge, aus denen man Kraft ziehen kann – es klingt zwar ganz banal und gar nicht wissenschaftlich –, man könnte einfach sagen, indem man sein Herz öffnet. Übrigens, die spanischen Begriffe »zustimmen«, »sich erinnern«, »übereinstimmen«, haben alle was mit Herz zu tun: »acordar« – zustimmen, »concordar« – übereinstimmen, »recordar« – sich erinnern. Und wenn man das, was dort Herz benannt wird, als eine Dimension sozialen Sinns begreift, die uns eingeschrieben ist durch das, was Trevarthen die Suche nach einem freundlichen Begleiter nennt, dann macht das ganze doch Sinn, dann kann man sagen: »Ja, daher kommt die Kraft.« Nazim Hikmet sagt mal in einem Gedicht: »Die Kraft kommt aus den Menschen nur allein« (Hikmet, 1977).

Und dann in der Vernetzung …

Gleichberechtigte solidarische
Beziehungen

Und dann muss man sehen, dass man gleichberechtigte solidarische Beziehungen bekommt. Das ist das, was die Lateinamerikaner in ihrer Philosophie der Dekolonialisierung an die Stelle von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« setzen. An ihre Stelle treten »Alterität, Solidarität, Befreiung«. Alterität heißt, die oder der Andere (Schwesterlichkeit und Brüderlichkeit) ist als Unbedingtes außerhalb von mir, Solidarität heißt gemeinsames Bewohnen der Grenze mit der oder dem Anderen, und Befreiung heißt Prozess gegenseitiger Befreiung des Kolonialisierten und des Kolonisators. Das ist keine schlechte Umwandlung. An der Stelle bin ich nicht besorgt, da finde ich viele Leute, die immer wieder in diese Richtung denken und sich engagieren, ob es reicht weiß man nie, aber es ändert ja nichts daran, dass es vernünftig ist, so zu tun. Spinoza schreibt mal nach den Geboten der Vernunft zu handeln heißt, Gutes zu tun und fröhlich zu sein. Und Marx sagt mit einem Zitat von Dante: »Geh deines Wegs und lass die Leute reden.« Passt doch, oder?

Wenn der Anspruch ist, sozusagen die Schulwirklichkeit auch insgesamt die gesellschaftliche Wirklichkeit …

Wir brauchen Leute, die nicht hektisch sind, die in sich selbst ruhen und die trotzdem jeden Tag bereit sind, etwas zu wagen. Die bereit sind, diesen Bereich der Grenze mit zu bewohnen und das heißt, immer sich selbst zur Disposition zu stellen. Und natürlich ist das eine Situation auf Messers Schneide. Zygmunt Bauman in seiner Postmodernen Ethik (Bauman, 1995) erläutert das sehr schön an der Levinás’schen Formel: Sich zur Geisel des Anderen zu machen, das ist auf Messers Schneide handeln; ich kann mich dem oder der Anderen unterwerfen und ich kann sie oder ihn mit Wohltätigkeit unterdrücken. Zwischen beiden muss ich den Weg finden. Und ich finde, dass das dann diese Formeln aus der lateinamerikanischen Philosophie und Soziologie sehr hilfreich sind.

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