Ulrike Schildmann: Die Geschlechterdimension in der Integrationspädagogik

Zuerst veröffentlicht in: Schildmann, U. (1997). Die Geschlechterdimension in der Integra-
tionspädagogik. In W. Jantzen (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse in der Behindertenpädagogik.
Subjekt/Objekt-Verhältnisse in Wissenschaft und Praxis (S. 129–136). Luzern: Edition SZH.

Ulrike Schildmann:
Die Geschlechterdimension in der Integrationspädagogik als PDF

Einleitung

Sowohl die (traditionelle) Heil- und Sonderpädagogik als auch die (moderne)
Integrationspädagogik weisen Ansätze zu einer Auseinandersetzung mit den
verschiedenen Geschlechterverhältnissen ihres Faches auf. Für die Integrations­pädagogik – die gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder
und Jugendlicher – habe ich in den letzten zwei Jahren versucht, die Geschlech­terdimension als Gesamtkomplex zu bearbeiten.

In der Integrationspädagogik finden wir unterschiedliche Geschlechter­konstellationen:

  • zwischen behinderten und nichtbehinderten Mädchen und Jungen als primärer Zielgruppe der Integrationspädagogik
  • zwischen Müttern und Vätern als Initiatoren und Zielgruppe dieses neuen pädagogischen Ansatzes
  • zwischen den beruflich an der Integrationspädagogik beteiligten Frauen und Männern

Ich habe versucht, alle Daten und Forschungsergebnisse zu den genannten Konstellationen zusammenzutragen, auszuwerten und zu neuen Forschungs­fragen zu verarbeiten. Auf dieser Basis ist zu prüfen, welche Relevanz die Geschlechterdimension für die Inhalte der Integrationspädagogik in Theorie und Praxis hat und haben sollte. Die Ergebnisse meiner Arbeit wurden im März dieses Jahres publiziert (Schildmann, 1996). In dem vorliegenden Beitrag werden zentrale
Thesen, Forschungsfragen und Forschungsperspektiven vorgetragen und zur Diskussion gestellt.41

Behinderte und nichtbehinderte Mädchen und Jungen

Die Integrationspädagogik wird von dem Gedanken geleitet, ungleiche, hierarchische Verhältnisse zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen bewusstzumachen und zu überwinden. Ihr Fokus liegt auf der gemeinsamen Förderung und Unterrichtung aller Kinder. Die Kinder und Jugendlichen stehen also eindeutig im Zentrum des integrationspädagogischen Interesses, wie exemplarisch an der Definition von Georg Feuser deutlich wird:

»Integration bedarf einer Pädagogik, in der

  • alle Kinder
  • in Kooperation miteinander
  • auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau
  • an und mit einem gemeinsamen Gegenstand spielen und lernen«
    (Feuser, 1986, S. 129).

Wenn wir die Geschlechterspezifik der genannten zentralen Zielgruppe der Integrationspädagogik untersuchen wollen, dann ist dies sowohl unter quantitativen als auch unter qualitativen Gesichtspunkten sinnvoll. Die Fragen lauten:

  • Welches quantitative Verhältnis zwischen behinderten und nichtbehinderten Mädchen und Jungen kennzeichnet die gemeinsame Erziehung in Kindergarten und Schule?
  • Wie lässt sich die Geschlechterspezifik der vier Untergruppen zueinander qualitativ beschreiben und interpretieren, das heißt vor allem, in welchem Interaktionsverhältnis stehen die vier Untergruppen zueinander? (Schildmann, 1996, S. 37)

Für den Elementarbereich des Bildungswesens gibt es bisher keine ausgewiesenen Daten zu diesen Fragen – deshalb konzentriere ich mich hier ausschließlich auf die Schule. Annedore Prengel hat für die ersten zehn Jahre der Schulversuche/Integrationsklassen an Grundschulen (1977/78 bis 1985/86) eine Statistik (Prengel, 1990, S. 39) erarbeitet, die zu einem interessanten Ergebnis kommt, nämlich auf der Seite der nichtbehinderten Kinder: Überrepräsentanz von Mädchen; auf der Seite der behinderten Kinder: extreme Überrepräsentanz von Jungen.

Während behinderte Mädchen in Sonderschulen seit Jahren durchschnittlich mit knapp 40 % vertreten sind, waren sie in den ersten Integrationsklassen gar nicht repräsentiert, in den späteren Schuljahren des untersuchten Zeitraums von zehn Jahren nahm ihr Anteil an den behinderten Schülern bis auf 34 % zu. Die nichtbehinderten Mädchen, die im untersuchten Zeitraum durchschnittlich knapp 49 % aller Grundschulkinder stellten, waren in den Integrationsklassen in einzelnen Schuljahren mit bis zu 70 % der nichtbehinderten Schüler extrem überrepräsentiert und näherten sich dem genannten Durchschnitt erst in den letzten drei Jahren des Untersuchungszeitraumes an. Die Aufstellung zeigt ein deutliches geschlechterspezifisches Ungleichgewicht, welches auf der hier angesprochenen quantitativen Ebene für die Gruppe der behinderten Mädchen als Benachteiligung bei der Auswahl von Kindern für die bisher relativ wenigen Integrationsklassen gewertet werden kann (Schildmann, 1996, S. 41f.).

Erklären lassen sich Daten wie diese nur durch eine Untersuchung qualitativer Aspekte im Rahmen der Integrationspädagogik. Die Frage von Annedore Prengel »Sind Mädchen die Integrationshelferinnen par excellence?« (Prengel, 1993) zeigt die Richtung an, in die alle vorliegenden Interpretationsversuche gehen. An dieser Stelle soll exemplarisch – in vier Thesen – der Ansatz von Prengel genannt werden, der sich auf die nichtbehinderten Mädchen und Jungen konzentriert (die behinderten Kinder werden bei ihr nicht geschlechterspezifisch betrachtet):

  • »Mädchen ermöglichen Integration« (Prengel, 1993, S. 55). Prengel fasst Berichte zusammen, nach denen sich vor allem (nichtbehinderte) Mädchen mit behinderten Kindern in ihrer Klasse beschäftigen, für sie sorgen etc.
  • Mädchen kompensieren ihre eigene – gesellschaftlich strukturell bedingte – Macht-/Hilflosigkeit schon früh durch Hilfsangebote an Schwächere (vgl. Motivationen für soziale Frauenberufe).
  • Jungenverhalten wird im Vergleich zu Mädchenverhalten durch Kontaktvermeidung oder Aggressivität gegenüber behinderten Kindern auffällig.
  • Damit wird ein deutlich geschlechtsspezifisch unterschiedliches Verhalten gegenüber behinderten Kindern aufseiten der nichtbehinderten Kinder konstatiert (Prengel, 1993, S. 55ff.; vgl. Schildmann, 1996, S. 43f.).

Auch andere Untersuchungen zu den kindlichen Interaktionen in Integrationsklassen (vgl. Kron, 1988; Daniels, 1994; Mentzendorff, 1994) sowie Untersuchungen zur sozialen Akzeptanz zwischen nichtbehinderten und behinderten Mädchen und Jungen (Preuss-Lausitz, 1990; Wocken, 1993) ermitteln deutliche geschlechterspezifische Differenzen.

Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild: Die Geschlechterspezifik der zentralen Zielgruppe der Integrationspädagogik wurde sowohl in quantitativer
als auch in qualitativer Hinsicht bisher kaum und nicht systematisch untersucht.
Die wenigen vorliegenden Daten und Ansätze der Analyse lassen jedoch auf Ungleichverhältnisse sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht schließen. So erscheint mir besonders bemerkenswert die Tatsache, dass zu Beginn
der Integrationsarbeit an Grundschulen – laut Analysedaten von Annedore Prengel (s. o.) – nichtbehinderte Mädchen überrepräsentiert und behinderte Mädchen gar nicht oder kaum einbezogen waren. Vor dem Hintergrund der Aussagen über das interaktive Verhältnis zwischen behinderten und nichtbehinderten Mädchen und Jungen könnte vermutet werden, dass – mehr oder weniger bewusst – auf der Seite der behinderten Kinder zunächst Jungen ausgewählt wurden, weil sie in der Sonderpädagogik überrepräsentiert sind und deshalb das System der Aussonderung an ihnen besonders sichtbar wird, zum Beispiel für Eltern, während auf der Seite der nichtbehinderten Kinder vor allem Mädchen ausgewählt wurden, da sie bekanntlich – nicht erst seit Beginn der Integrationspädagogik – Sensibilität für soziale Problemlagen zeigen bzw. entwickeln, sich auf andere Menschen konzentrieren, zu Hilfeleistungen bereit sind und so das Lehrpersonal in der Integrationsarbeit unterstützen, während nichtbehinderte Jungen in ihrer Sozialisation eher mit eigenen Problemen und deren Bewältigung beschäftigt sind. Diese These wird durch die wenigen Daten zu den qualitativen Aspekten des Miteinanders (Einstellungen und Verhaltensweisen) von behinderten und nichtbehinderten Mädchen und Jungen genährt; jedoch ist die Datenlage bisher zu keiner Fundierung und Verifizierung ausreichend. Vielmehr zeigt sich, dass sowohl quantitative als auch qualitative Analysen notwendig sind, um die primäre Zielgruppe der Integrationspädagogik detaillierter charakterisieren zu können (Schildmann, 1996, S. 49).

Mütter und Väter behinderter und nichtbehinderter Kinder

Ich komme zu der zweiten – hinter den behinderten und nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen stehenden – Zielgruppe der Integrationspädagogik, nämlich zu deren Müttern und Vätern. Mütter und Väter sind vor allem als Initiatoren der Integrationsbewegung in die Geschichte der Integrationspädagogik eingegangen. Die bundesweit arbeitenden Gruppen »Gemeinsam leben – gemeinsam lernen. Eltern gegen Aussonderung behinderter Kinder« belegen dies. Aber haben alle vier Untergruppen dieser Eltern – Mütter und Väter behinderter Kinder, Mütter und Väter nichtbehinderter Kinder – ein gleichgelagertes, vergleichbares Interesse an der Integrationspädagogik? Dieser Frage wurde in den Untersuchungen, die die »Elternfrage« in der Integrationspädagogik überhaupt behandeln, an keiner Stelle nachgegangen. Vielmehr erscheinen die Eltern, wenn zum Beispiel nach ihren Erwartungen an die Integrationspädagogik gefragt wird, als quasi geschlechtsneutrale Vertreter ihrer Kinder ohne eigene – geschlechterspezifische – Interessenlagen (vgl. Wocken, 1987; Dumke et al., 1989). Die Beschäftigung mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern, mit der Krisenverarbeitung sowie den Arbeitsbedingungen von Müttern und Vätern behinderter Kinder weist dagegen auf markante geschlechterspezifische Differenzen hin, die auch in die Integrationspädagogik hineinwirken (vgl. Schildmann, 1996, S. 50ff.). Ich habe folgende Konstellation von Thesen entwickelt, die zu überprüfen wären:

  • Das engste Verhältnis zur Integrationspädagogik haben Mütter und Väter behinderter Kinder, jedoch mit geschlechterspezifisch unterschiedlichen – an der Arbeitsteilung und familiären Position orientierten – Hintergründen und Schwerpunkten. Beide sehen in der Integrationspädagogik die Möglichkeit, die eigene Isolation und Arbeitsbelastung durch ihr behindertes Kind zu reduzieren. Die Mütter sind – im gesellschaftlichen Durchschnitt – in jeder Hinsicht am stärksten betroffen. Für Väter behinderter Kinder hat die mögliche Arbeitsbelastung – je nach Beteiligung an den familiären Aufgaben – einen anderen, tendenziell geringeren Stellenwert als für Mütter. Dagegen lastet der Normalitätsdruck gegebenenfalls auf den Vätern stärker als auf ihren Frauen, nämlich dann, wenn sie im Bewusstsein eines traditionellen Rollenverständnisses die Familie nach außen hin vertreten. Die anfallenden Fragen sind differenziert zu untersuchen, sowohl im Geschlechtervergleich als auch je spezifisch für Mütter und Väter.
  • Mütter nichtbehinderter Kinder, die sich für die gemeinsame Erziehung engagieren, sind bereit zu einem sozialen Engagement, das heißt zur »Bündnispartnerschaft«, erkennen aber gleichzeitig Vorteile für sich und ihre Kinder: Die individualisierte, binnendifferenzierte Förderung ihrer Kinder wird nicht nur als kindgerecht erlebt, sondern auch als mütterfreundlich; denn das individuell geförderte Kind reduziert die unterstützende (Schul-)Arbeit der Mutter.
  • Väter nichtbehinderter Kinder schließlich, so meine These, haben – zumindest im traditionellen Rollenverständnis der Geschlechter – den vergleichsweise geringsten Bezug zur Integrationspädagogik. Sie engagieren sich für diese, wenn sie – zum Beispiel aufgrund eines eigenen Bezugs zu behinderten Menschen – das Bedürfnis nach einem sozialen Engagement haben oder einen persönlichen Vorteil – zum Beispiel öffentliche Äußerungsmöglichkeiten – von diesem Engagement erwarten (Schildmann, 1996, S. 57f.).

Für die gezielte Elternarbeit im Rahmen der Integrationspädagogik wäre es wichtig, die Positionen und Problemlagen der Mütter und Väter differenziert aufzunehmen. Für die Elternarbeit in integrativ arbeitenden Kindertagesstätten habe ich die Problematik – aus der Sicht der beteiligten Erzieherinnen – an anderer Stelle empirisch untersucht (Schildmann, 1989). Auf Ausführungen dazu soll an dieser Stelle verzichtet werden, da wir uns hier als Arbeitsgruppe auf die Institution Schule konzentrieren. Damit leite ich über zu der dritten an der Integrationspädagogik beteiligten Gruppe, den beruflich mit der Erziehung befassten Personen, hier speziell Lehrerinnen und Lehrer.42

Lehrerinnen und Lehrer in der Integrationspädagogik

Sowohl an Grundschulen als auch an Sonderschulen beträgt der Anteil der weiblichen Lehrkräfte circa zwei Drittel oder mehr (vgl. Voit, 198943).

Innerschulisch gibt es eine klare geschlechterspezifische Hierarchie: In leitenden Positionen befinden sich überwiegend Männer, an der Basis überwiegend Frauen (vgl. v. a. Hack-Zürn, 1994). Für unseren Diskussionszusammenhang ist folgender Hinweis wichtig:

Die in der Statistik sichtbar werdenden hierarchischen Strukturen innerhalb des Regel- und Sonderschulwesens werden auf die Integrationspädagogik übertragen; denn die Integrationsklassen sind an den traditionellen Regelschulen (insbesondere Grundschulen) angesiedelt, ohne im Prinzip deren formale Hierarchien zu beeinflussen. Daraus ergibt sich, dass im Rahmen der schulischen Integrationspädagogik die Basisarbeit weitgehend von Frauen geleistet wird. Die Leitungs- und Planungspositionen, die zum Beispiel die Bewilligung von Integrationsklassen umfassen, haben dagegen überwiegend Männer inne. Die Integrationspädagogik in der Schule wird also durch ein geschlechterspezifisch hierarchisches Verhältnis zwischen den dort tätigen Männern und Frauen geprägt, wodurch die berufliche Nähe bzw. Distanz zum eigentlichen Integrationsgeschehen eine geschlechterspezifische Dimension erhält. Dies wird am Beispiel einer Untersuchung von Annedore Prengel zur Frage des Bewusstseins von Pädagoginnen und Pädagogen über das geschlechterspezifische Verhalten von Kindern in Integrationsklassen deutlich: Dort zeigt sich nämlich, dass mit der Nähe zur alltäglichen Integrationsarbeit auch das Bewusstsein über geschlechterspezifisches Verhalten bei Kindern wächst, während mit der Distanz davon die Sensibilität für die Geschlechterspezifik abnimmt. Praktisch bedeutet das: Frauen – als Lehrerinnen – sind sich des konkreten geschlechterspezifischen Verhaltens der Kinder bewusst und beeinflussen dieses möglichst direkt, Männer – als Vorgesetzte – erleben die Problematik nicht selbst und beziehen sie daher in ihre Überlegungen und Entscheidungen, zum Beispiel in die Lehrplangestaltung, kaum ein (Schildmann, 1996, S. 70f.).

Der Teil der Integrationsforschung, der bisher die Lehrer in den Blick nimmt – unter Stichworten wie Zweipädagogensystem, Kooperation zwischen Regel- und Sonderschullehrern einschließlich der Ausbildungsfragen oder der allgemeinen Akzeptanz der schulischen Integration bei Lehrern –, hat die geschlechterspezifischen Hierarchien dieses Berufes meines Wissens bisher an keiner Stelle berücksichtigt. Die genannten Themenbereiche wären meines Erachtens vor dem Hintergrund der Geschlechterhierarchien im Lehrerberuf nochmals und dann erweitert zu bearbeiten.

Zusammenfassend sei hier gesagt: Die aus der traditionellen Regel- und Sonderpädagogik in die Integrationspädagogik übertragenen geschlechterhierarchischen Verhältnisse des Lehrerberufes widersprechen dem prinzipiellen Anliegen der Integrationspädagogik, gesellschaftliche Hierarchien bewusstzumachen und zu überwinden. Dieser Grundsatz ist keineswegs auf hierarchische Verhältnisse zwischen nichtbehinderten und behinderten Kindern/Jugendlichen zu beschränken.

Zu den Inhalten der Integrationspädagogik unter Berücksichtigung der Verhältnisse zwischen den Geschlechtern

Wie den bisherigen Ausführungen zu entnehmen ist, habe ich mich in meiner Untersuchung vor allem mit den Geschlechterverhältnissen innerhalb der an der Integrationspädagogik zentral beteiligten Personengruppen beschäftigt. Zum Schluss möchte ich auf ein Arbeitsspektrum hinweisen, das sich aus dem Gesagten ergibt: Die Erkenntnisse über die genannten Geschlechterverhältnisse sollen nicht oder nicht nur für sich selbst stehen und gegebenenfalls konstruktiv auf die Interaktionen zwischen den hier angesprochenen Gruppen wirken. Vielmehr sollten sie auch in die inhaltliche Gestaltung der Integrationspädagogik Eingang finden. Dies betrifft die Praxis ebenso wie die Theoriebildung.

Auf der Praxisseite angesprochen ist die gezielte pädagogische Arbeit in den Integrationsgruppen, die ja bewusst als heterogen definiert werden. Wie kann dieser heterogene Ansatz Geschlechterdifferenzen und -heterogenität aufnehmen? Welche Themenbereiche wären geeignet, die Geschlechterproblematik inhaltlich integrativ umzusetzen? Eine angemessene Ausgangsfrage scheint mir die des sozialen Lernens zu sein, welches in der Integrationspädagogik eine zentrale Position einnimmt. In meiner Arbeit habe ich einzelne Bereiche des sozialen Lernens identifiziert, die im Alltagsbewusstsein aller Beteiligten klare Geschlechterbezüge aufweisen:

  • Freundschaft
  • Körperbewusstsein, Körpererziehung
  • Lebensentwürfe, Leitbilder

Für diese Themen wurden Fragen entwickelt, die den Weg zu einem geschlechterbewussten Lernen aufzeigen und in die konkrete Unterrichtsplanung hineinführen (vgl. Schildmann, 1996, S. 77ff.).

Auf der Seite der Integrationsforschung habe ich zwei Frageperspektiven entwickelt, die meines Erachtens die Geschlechterdimension des Faches aufzunehmen hätten:

  • Die integrationspädagogische Curriculum- und Lehrplanforschung mit der Frage im Hintergrund, ob sich die Integrationsarbeit vollziehen solle auf der Basis der herkömmlichen Lehrpläne der Regel- und Sonderpädagogik, oder ob nicht ein neues, integrationspädagogisches Gesamtcurriculum und entsprechende Lehrpläne notwendig wären? Diese hätten nicht nur eine Hierarchieebene zu berücksichtigen, nämlich die zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen, sondern innerhalb eines an Heterogenität orientierten Leitbildes auch andere hierarchische Verhältnisse, dabei zuoberst die Geschlechterhierarchien.
  • Zweitens zu nennen ist das Verhältnis von Selbstverständnis und Fremdverstehen in der Integrationspädagogik. Dieses Verhältnis, das aus der traditionellen Heil- und Sonderpädagogik als ein extrem kompliziertes, bisher wenig bearbeitetes bekannt ist (vgl. Schildmann, 1993), nimmt in einer Pädagogik mit Integrationsanspruch einen noch höheren Stellenwert ein und fordert zur Bearbeitung heraus. Auch bei diesem Thema – Selbstverständnis und Fremdverstehen – sind geschlechterdifferenzierende Betrachtungen und Einschätzungen von zentraler Bedeutung (Schildmann, 1996, S. 85ff.).

Mit diesen Fragestellungen sollen Forschungsrichtungen markiert werden, die die bearbeiteten soziologischen und sozialpsychologischen Problemstellungen innerhalb der zentralen Gruppen der Integrationspädagogik auf die pädagogische Ebene heben und für die konkrete Pädagogik – die Integrationspraxis und die Integrationsforschung – fruchtbar machen.

Literatur

Daniels, S. von (1994). Mädchen mit Behinderungen – ein neues Thema der Integrationsforschung. Behindertenpädagogik, 33(2), 122–127.

Dumke, D., Krieger, G. & Schäfer, G. (1989). Schulische Integration in der Beurteilung von Eltern und Lehrern. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.

Feuser, G. (1986). Unverzichtbare Grundlagen und Formen der gemeinsamen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder in Kindergarten und Schule. Behindertenpädagogik, 25(2), 122–139.

Hack-Zürn, I. (1994). Sonderschullehrerinnen als professionelle Mütter? Die Sonderschule als Bildungsinstitution mit Familiencharakter. Bielefeld: Kleine.

Kron, M. (1988). Kindliche Entwicklung und die Erfahrung von Behinderung. Eine Analyse der Fremdwahrnehmung von Behinderung und ihre psychische Verarbeitung bei Kindergartenkindern. Frankfurt a. M.: AFRA.

Mentzendorff, M. (1994). Mädchen und Jungen in Integrationsklassen. Behindertenpädagogik, 33(2), 127–147.

Prengel, A. (1990). Statistische Daten aus Integrationsprojekten 1976–1986. In H. Deppe-Wolfinger, H. Reiser & A. Prengel (Hrsg.), Integrative Pädagogik in der Grundschule. Bilanz und Perspektiven der Integration behinderter Kinder in der Bundesrepublik Deutschland 1976–1988 (S. 35–40). München: Juventa/DJI.

Prengel, A. (1993). Sind Mädchen die Integrationshelferinnen par excellence? – Mädchen im Modernisierungsprozeß. In P. Gehrmann & B. Hüwe (Hrsg.), Forschungsprofile der Integration von Behinderten (S. 54–62). Essen: Neue Deutsche Schule.

Preuss-Lausitz, U. (1990). Soziale Beziehungen in Schule und Wohnumfeld. In P. Heyer,
U. Preuss-Lausitz & G. Zielke (Hrsg.), Wohnortnahe Integration. Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder in der Uckermark-Grundschule (S. 95–128). Berlin, Weinheim und München: Juventa.

Schildmann, U. (1989). Aufbruch im Erzieherinnenberuf? Erfahrungen von Erzieherinnen in Kindergartengruppen für behinderte und nichtbehinderte Kinder. In M. Kalweit,
U. Schildmann & T. Wobbe (Hrsg.), Frauenberufe – hausarbeitsnah? Zur Erziehungs-, Bildungs-
und Versorgungsarbeit von Frauen (S. 197–217). Pfaffenweiler: Centaurus.

Schildmann, U. (1993). Zum Verhältnis von Selbstverständnis und Fremdverstehen. In C. Mürner & S. Schriber (Hrsg.), Selbstkritik der Sonderpädagogik? (S. 13–27). Luzern: Edition SZH/SPC.

Schildmann, U. (1996). Integrationspädagogik und Geschlecht. Theoretische Grundlegung und Ergebnisse der Forschung. Opladen: Leske+Budrich.

Voit, H. (1989). Allgemeine Schulen 1987/88. Wirtschaft und Statistik, 3, 171–175.

Wocken, H. (1993). Bewältigung von Andersartigkeit. Untersuchungen zur sozialen Distanz in verschiedenen Schulen. In P. Gehrmann & B. Hüwe (Hrsg.), Forschungsprofile der Integration von Behinderten (S. 80–106). Essen: Neue Deutsche Schule.

Wocken, W. (1987). Eltern und schulische Integration. Meinungen und Einstellungen von Eltern zur gemeinsamen Unterrichtung von behinderten und nichtbehinderten Kindern. In
H. Wocken & G. Antor (Hrsg.), Integrationsklassen in Hamburg. Erfahrungen – Untersuchungen –
Anregungen (S. 125–202). Solms-Oberbiel: Jarick.