Interview mit Rainer Maikowski

Interview mit Rainer Maikowski als PDF

Wie bist du denn selber zur integrativen Pädagogik gekommen?

Studium und Kontakt zur Gesamtschule

Ich bin Soziologe. An der FU-Berlin habe ich mit den Schwerpunkten empirische Sozialforschung, politische Ökonomie und Industriesoziologie – unter anderem bei Hübner, Claessens, Mayntz-Trier – studiert. Direkt nach dem Diplom bin ich am Psychologischen Institut bei Klaus Holzkamp als Assistent eingestellt worden, für Geschichte der Psychologie und Institutionenlehre. Nach und nach habe ich mich dann mehr zur Pädagogik und Pädagogischen Psychologie hinbewegt. Die Dissertation war noch über Arbeits- und Industriepsychologie nach 1945. Übrigens die erste und letzte Gemeinschaftsdissertation an der Wi-So-Fakultät in Berlin. Nach den fünf Jahren Assistententätigkeit bin ich dann ans Pädagogische Zentrum (PZ) gegangen und habe in einem Projekt über soziale Erfahrungen von Arbeiterkindern an der Gesamtschule mitgearbeitet. Es ging um ein Konzept von Gesamtschule, die auch Kindern aus unterprivilegierten Schichten mehr Chancen bieten sollte, und nicht mit dem FE/GA-System die Kinder wieder auseinanderdividiert.

Wissenschaftliche Begleitung
Fläming-Schule

Über das PZ kam dann etwas später der Auftrag, in der wissenschaftlichen Begleitung für die Fläming-Schule mitzuarbeiten, die 1984 mit der Integration von SchülerInnen mit Behinderungen begonnen hatte. Wolfgang Podlesch und ich haben im Grundschulbereich die Fläming-Schule begleitet. Für mich war dieses Thema, Integration von SchülerInnen mit Behinderung eine plausible Fortsetzung meiner Bemühungen um mehr Chancengerechtigkeit in der Schule. Es gab damals eine ziemliche Aufbruchsstimmung und viele Akteure innerhalb und außerhalb der Schule, die sich engagierten und die sich in der Fläming-Projektgruppe beteiligten. Wir sind wirklich noch mit Privatautos in anderen Ländern der Bundesrepublik rumgefahren, um auf Elternversammlungen und in Schulen die Idee der gemeinsamen Erziehung und Integration zu verbreiten. Auch in anderen Bundesländern gab es dann erste Versuche, etwa in Bonn. Es bildeten sich weitere Integrationsprojekte, die wissenschaftlich begleitet wurden, und es fanden in wechselnden Bundesländern Wissenschaftlertagungen zur Integration in der Schule statt. Das erste Treffen war in Berlin.

Rolle der
Begleitforschung

Eine kleine Anekdote in diesem Zusammenhang: Bei den Forschertreffen wurde die gewichtige Frage gestellt, wer eigentlich in diesen Projekten der Busfahrer/die Busfahrerin ist, und wer hinten drin sitzt. Die WissenschaftlerInnen sahen sich natürlich eher als die BusfahrerInnen, von LehrerInnen- und SchülerInnenseite wurde das natürlich anders gesehen. Es blieb dann ein gerne erinnerter Topos: die WissenschaftlerInnen als die vermeintlichen BusfahrerInnen.

Integration in der Sekundarstufe I

Und dann habe ich über das Pädagogische Zentrum oder Landesinstitut für Schule und Medien (LISUM) oder Landesinstitut für Lehrerbildung, da wurde dauernd der Name geändert, von 1977 bis 2004 im Bereich Integration, vor allem der wissenschaftlichen Begleitung, gearbeitet. Mein Untersuchungsschwerpunkt war die Integration in der Sekundarstufe I. Wolfgang Podlesch hat im Grundschulbereich weitergearbeitet, das Thema geistig Behinderte war sein Schwerpunkt. Damals gehörte es zum Konzept, dass pädagogische MitarbeiterInnen und LehrerInnen aus der Fläming-Schule nach der 6. Klasse mit in die Sekundarstufe I der Sophie-Scholl-Gesamtschule gingen. Was musste da an Lehrerbildung und anderen Dingen passieren, damit die Sekundarstufe überhaupt in der Lage war, die integrative Arbeit aus der Grundschule fortzusetzen? Äußere Differenzierung und Frontalunterricht waren dort immer noch Tradition, die auch bis heute noch fortwirkt. Das waren, neben der Hauptfrage, wie SchülerInnen mit und ohne Behinderungen von der Integration profitieren, Themen in den wissenschaftlichen Untersuchungen. Es gibt vier Berichte, die wir in diesen Jahren herausgegeben haben – zwischen 1991 und 1995. Weitere Fragestellungen waren etwa: Wie ändert sich das Methodenrepertoire der LehrerInnen, was ist da festzustellen? Nach zwei bis drei Jahren war zu sehen, dass gegenüber den hohen Ansprüchen an innere Differenzierung und Methodenpluralismus die realen Veränderungen anscheinend relativ geringfügig waren. Wenn man aber genauer hinsah, war kleinschrittig und personenabhängig eine Menge passiert und die Unterrichtsgestaltung vielfältiger geworden. Anspruchsvollere Differenzierungsformen, wie Wochenplan oder eine Gesamtkonzeption innerer Differenzierung verbreiteten sich nur langsam. Und es gab eine kritische Größe, ab der Veränderungen in den Schulen nachhaltiger wurden. Es gab Integrationsschulen, in denen eine oder zwei Klassen Integrationsklassen waren und die anderen nicht. Und dann war immer die Frage, unter welchen Bedingungen sie sich ausweitet, so bleibt oder wieder zusammenschrumpft. Es war – neben den Rahmenbedingungen –sehr von den LehrerInnen und den Schulleitungen abhängig, ob es einen qualitativen Sprung gab. Das ist ein Fazit dieser Untersuchung.

Anspruch und
Wirklichkeit
unter widrigen Bedingungen

Wir dürfen bei dem Prozess, der sich ja schon relativ weit entwickelt hat, gerade in Berlin und in einigen anderen Bundesländern, nicht vergessen, dass der theoretische Anspruch an die Schul- und Unterrichtsgestaltung sehr hoch ist und die Realisierung in der Praxis, vor allem in der Breite, da gar nicht so schnell mitkommt. Und dass diese hohen Ansprüche von LehrerInnen oft in einem Umfeld realisiert werden sollen, das auch noch nicht optimal ist.

Gemeinsamer Gegenstand

Das ist auch ein Punkt, warum ich denke, dass man noch einmal das Konzept von Feuser bezogen auf den gemeinsamen Gegenstand aus heutiger Sicht neu reflektieren sollte. Das ist damals ganz schnell kritisiert worden und dann wieder weggeschoben worden, weil es angeblich nicht realisierbar war und nur mit Projektunterricht und nur am gemeinsamen Gegenstand zu arbeiten nicht machbar sei. Aber da steckt eigentlich der Kern dessen drin, was ich unter dem Spannungsverhältnis zwischen Vielfalt und Individualität fasse. Wie realisiere ich individuelle Förderung in Gemeinsamkeit? Gleichzeitig geht es um die Frage, wie die hohen Ansprüche an eine solche Unterrichtsgestaltung so allmählich realisiert werden können, dass möglichst viele dabei mitgenommen werden. Einerseits bedarf es anspruchsvoller Ziele, andererseits der Einsicht in das jeweils Realisierbare.

Restschulen als
Folge der Integration

Auf dem Hintergrund solcher Spannungen ist auch das folgende Beispiel zu verstehen. Ich hatte mal relativ früh in der Zeit, als wir die ersten Integrationsklassen mit geistig Behinderten realisieren konnten, einen scharfen Disput mit einem alten Bekannten von mir. Der war inzwischen Leiter der Charité und selbst Vater eines schwer mehrfachbehinderten Kindes und der war wütend auf diese ganze Integrationsbewegung, weil wir mit diesen schulischen Angeboten den damaligen »Spastiker-Zentren«, Schulen für geistig Behinderte und andere Schwerbehinderte, alle halbwegs beschulbaren oder vermeintlich beschulbaren Kinder entzogen haben. Und er blieb mit seinem schwer mehrfachbehinderten »Rest« sitzen. Damit war die Frage verbunden, was sind denn eure moralischen Wertmaßstäbe und was sind denn eure Ansprüche, ihr teilt doch die Integration auch auf in Machbares und nicht Machbares. Also die ernsthafte Frage, was sind die Kosten von solchen Reformprozessen? Auf wessen Rücken findet das statt? Und was wären die Alternativen?

Implementation
von Reformen

Es ist wohl auch nicht ganz zufällig, dass ich in meiner Entwicklung immer eher qualitativen Methoden der Innovationsberatung in der Forschung gefolgt bin. Und beim Übergang in die Senatsbildungsverwaltung habe ich das Ganze noch mal mehr von der Verwaltungsseite mit begleitet, was natürlich auch Konsequenzen hat: Da ist man nicht mehr der reine Forscher, da ist man sehr stark auch mit der Organisation dieser Arbeit beschäftigt und muss den gesamten Prozess der Implementation solcher Reformen im Auge behalten.

Gibt es eigene Interessenschwerpunkte? Du hast schon die Sekundarstufe genannt, gibt es noch andere?

Chancengerechtigkeit

Ich komme ja aus der Studierendenbewegung. Ich war Mitglied im SDS und 1969 Hochschulreferent im ASTA. Da liegen eine kritische Haltung gegenüber den Auswirkungen des Kapitalismus und die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit nahe. Dazu gehörten dann Fragen nach der gesellschaftlichen Verfassung der Bundesrepublik und nach Chancengerechtigkeit vor allem im Bildungssystem. Auf diesem Hintergrund ist mein beruflicher Weg relativ gut nachvollziehbar. Nach der Assistentenzeit am Psychologischen Institut beschäftigte ich mich am PZ/LISUM zunächst mit Fragen der Gesamtschulreform und dann 25 Jahre mit Themen der Integration bzw. der wissenschaftlichen Begleitung von Integrationsprojekten. Nach dem Wechsel in die Senatsschulverwaltung ging es zunächst um Themen der Qualitätssicherung und Unterrichtsentwicklung, in den letzten Jahren, dann um die Projektleitung zum Aufbau der Gemeinschaftsschulen. Von daher lagen meine Interessenschwerpunkte auf verschiedenen Ebenen im Bildungsbereich, wobei es immer darum ging, zu schauen, welche Gruppen stehen am Rande, seien es MigrantInnen, Behinderte oder Sozialschwache und wie können ihre Chancen auf Teilhabe in dieser Gesellschaft verbessert werden.

Welche MitstreiterInnen waren aus deiner Sicht denn auf diesem Weg besonders wichtig?

MitstreiterInnen

Also Wolfgang Podlesch habe ich ja schon genannt. Dann gab es eine ganze Reihe von Lehrerkolleginnen und -kollegen, die sehr schnell über ihr Engagement in der Schule hinaus die Idee mit auf Tagungen vertreten haben. Gerda Dicke gehört zum Beispiel dazu, die viele dieser Prozesse in der Schule mit realisiert hat, erst in der Fläming-Schule, dann in der Sophie-Scholl-Schule. Wir haben zusammen Artikel geschrieben und Tagungen mitgestaltet. Aber auch eine ganze Reihe von WissenschaftlerInnen waren so etwas wie WeggefährtInnen, allen voran Hans Wocken, dann Helga Deppe, Georg Feuser, mit dem wir ja am Anfang viel gearbeitet haben und auch Auseinandersetzungen hatten. Einer der »Urväter« war Jakob Muth, er hat auch schon an den ersten Fläming-Tagungen teilgenommen. Und dann Helmut Reiser, Jutta Schöler, Ulf Preuss-Lausitz, Alfred Sander oder Hans Eberwein. Er hat damals das erste große Handbuch zur Integration herausgegeben.

Projekte in der Schulpraxis

Mit Ellen Kubail-Dörrie habe ich damals bei Bröndby ein interessantes Projekt realisiert. Das war etwas, das wissenschaftliche Begleitung sonst eher selten gemacht hat. Wir haben gemeinsam eine ganze Unterrichtseinheit zur »Liebeslyrik« durchgeführt. Und wir haben eine Broschüre dazu herausgegeben: Gedichte sind wie … Sterne am Himmel, in welcher die Gedichte von NeuntklässlerInnen zum Thema Liebeslyrik gesammelt waren, die sich mit Themen wie Liebe und eigenen Gefühlen einerseits und Gedichtformen und Bildern andererseits auseinandergesetzt hatten. Es war spannend zu sehen, wie sie nach und nach die anfängliche Scheu überwunden haben und dazu gekommen sind, eigene Gedichte zu schreiben. Es war nachher ein großes »Hallo«, wenn wir Gedichte vorgelesen haben und sie nicht mehr genau unterscheiden konnten, war das jetzt von einem Dichter oder von einem aus der Klasse. Das Themenspektrum wurde noch erweitert, so produzierte ein Schüler ein Gedicht über Erwachsene: »Erwachsene sind wie Geier, sie kreisen über dir und stürzen sich auf dich und saugen dich aus bis aufs letzte Blut« oder über die Aufgaben in der Schule: »Aufgaben, dies muss ich machen, jenes muss ich machen, nur keiner fragt mich, was ich machen will«. Oder eine Schülerin mit einer Behinderung schrieb, »In manchen Augen gibt es mich, in manchen Augen gibt’s mich nicht«. Das waren schon eindrucksvolle Erfahrungen. Solch ein Praxisbezug ist für die (wissenschaftliche) Begleitung solcher Projekte ein großer Gewinn.

Und das lohnt sich aber noch mal ein bisschen auszuweiten, weil es ja tatsächlich eine andere wissenschaftliche Begleitung war oder eine andere Form der wissenschaftlichen Begleitung, als es heute oft ist. Wie war das so organisiert im Großen und Ganzen?

Form der
wissenschaftlichen Begleitung

Wolfgang Podlesch und ich hatten den Auftrag vom PZ, zunächst für die Fläming-Schule und dann für die sich immer mehr ausbreitenden Projekte in Berlin die wissenschaftliche Begleitung zu übernehmen. Am Anfang war Norbert Stoellger noch dabei, von der Sonderpädagogikseite aus. Wolfgang und ich hatten schließlich die Federführung, haben die meisten Untersuchungen gemacht, aber dann immer mehr LehrerInnen hinzugezogen, die dann in diesem Prozess mitgearbeitet haben und Teile der Berichte mit verfasst haben, indem sie über ihren Unterricht und über Förderkonzepte und alle möglichen anderen Dinge geschrieben haben.

Untersuchungsschwerpunkte

Wir haben über die Innovationsberatung hinaus verschiedene Aspekte im Fokus gehabt. Zum Beispiel Untersuchungen über die Wortanteile von Schülern und Schülerinnen im Unterricht. So konnten wir zunächst feststellen, dass in einem normalen Frontalunterricht die Möglichkeiten der Kinder, sich selbst zu artikulieren, relativ gering waren. Dann gingen wir der Frage nach, in welchen Unterrichtssettings – etwa bei Formen innerer Differenzierung – die Wortanteile der SchülerInnen größer werden und dadurch mehr Chancen zur Selbstregulation geboten werden.

Lernentwicklung von nichtbehinderten SchülerInnen

Und natürlich gab es Untersuchungen über die Lernentwicklung besonders von nichtbehinderten Schülern und Schülerinnen in Integrationsklassen. In der Öffentlichkeit ging es damals oft gar nicht so sehr um die Förderung der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen, sondern immer vor allem darum, ob die Nichtbehinderten nicht zu kurz kommen.

Vorurteilsforschung

Damals habe ich parallel an der Universität der Künste, an der es ja auch Lehrerbildung gab (später dann auch an der Technischen Universität), Seminare in Behindertenpädagogik durchgeführt. Das war ein Pflichtschein für LehramtstudentInnen. Hier ging es unter anderem um Vorurteilsforschung, für mich auch ein wichtiges Thema. Denn warum machen wir das eigentlich mit der Integration? Es geht ja nicht nur und nicht so sehr darum, dass die, die jetzt akut in der Schule sind, bessere Bedingungen haben, sondern dass sich die gesellschaftliche Sichtweise und die gesellschaftlichen Verhaltensweisen dieser Gruppe gegenüber ändern. Und wenn nicht in der Schule Vorurteile abgebaut werden können, in der man über eine längere Zeit gemeinsame Erfahrungen macht, wo dann? Und die Hoffnung ist ja, dass diese Erwachsenen mit dieser Problematik mal anders umgehen.

Was sind aus deiner Sicht die größten Herausforderungen gewesen, persönlich und dann auch für das Feld?

Verbreitung von Innovationen

Eins habe ich schon genannt, eine große Herausforderung ist jetzt aus der Sicht meiner Arbeit, die bisherigen Prozesse in die Breite zu bekommen. Da sind wir schon ziemlich erfolgreich, wenn wir über 50 % Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben, die in die allgemeine Schule integriert sind in Berlin. Das halte ich weiterhin für einen der wichtigsten Punkte, wie man die Qualität der gemeinsamen Erziehung weiterentwickeln kann und wie man die Chancengerechtigkeit in dieser Richtung in der Gesellschaft verbreitern kann.

Rückschritte in
der Entwicklung

Wobei die letzten Entwicklungen von der Integration hin zur Inklusion uns nicht nur weiter vorangebracht haben. Ich sehe darin auch eine Problematik, nämlich, dass mit Etiketten der Inklusion teilweise Schritte der Integration wieder infrage gestellt werden, weil alle sich die Inklusion auf die Fahne schreiben, wir aber real da noch gar nicht sind. Inklusion kann man durch Integration anstreben als einen utopischen Zustand, den wir wohl nie ganz erreichen können. Denn wenn Inklusion realisiert wäre, dann brauchten wir nichts mehr zu tun in der Richtung. Das, was heute als Inklusion gilt, ist oft weniger als das, was in der Integration schon erreicht wurde.

Widerstände

Ich habe Bedenken, dass die Schwierigkeiten bei der Realisierung des hohen Anspruchs von Inklusion und die angestrebte Ausdehnung in Schule und Gesellschaft eher noch mal Widerstände und Vorurteile verstärkt. Jetzt sollen wir auch noch Inklusion und nicht nur Integration machen, das ist zu viel, wie kriegen wir das eigentlich hin? Das geht bis in die Diskussionen des Berliner Beirats für Inklusion.

Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma

Im Beirat melden sich ElternvertreterInnen behinderter Kinder zu Wort, die natürlich dagegen sind, dass ihre Kinder ausgesondert werden, die aber vehement gegen die Poolfinanzierung sind, mit der es keine Etikettierung der Kinder mit Behinderung mehr geben soll. Sie wollen lieber weiterhin die Huckepackfinanzierung für ihre behinderten Kinder, weil sie befürchten, dass sie sonst nicht genug Mittel bekommen. Das nennt man das Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma. Das ist ein reales Problem, das wir kaum ganz lösen können, aber wo wir trotzdem versuchen müssen, möglichst viele mitzunehmen. Das ist das, was ich vorhin meinte, theoretisch ist man vielleicht schon viel weiter und natürlich wäre es sinnvoll, wenn man generelle Finanzierungen über Quoten hätte.

Du hast gesagt, dass du stellenweise schon Rückschritte siehst, gegenüber dem, was schon erreicht worden ist.

Rückschritte in
der Entwicklung

Wenn SonderschulvertreterInnen das, was in ihrer Sonderschule passiert, als Inklusion verkaufen oder wenn die Integration so schlecht finanziert wird, dass auf dem Weg hin zur Inklusion uns diejenigen verloren gehen, die bisher die Integration auf ihrem Rücken getragen haben, dann sehe ich das als Rückschritt oder als Gefahr von Rückschritten an.

Welche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte sollten aus deiner Sicht nicht in Vergessenheit geraten?

Gesellschaftlicher Umgang mit
Heterogenität

Das, was ich schon betont habe, dass man den menschlichen Faktor nicht vergessen sollte. In diesen Reformprozessen haben wir teilweise Positionen entwickelt, die langfristig realisierbar sind. Schulische Integration ist nicht in einem Theorie-Korsett zu fassen, sondern das ist ein Prozess, der sehr differenziert und teilweise widersprüchlich verläuft. Um da die richtigen Positionen herzustellen braucht es immer wieder den Dialog. Wie realisieren wir den erforderlichen gesellschaftlichen Interessenausgleich, ohne das Ziel von Integration und Inklusion aus den Augen zu verlieren? Diesen Anspruch, den wir an Lehrernnen stellen, dass sie ihre Lerngruppe als eine heterogene Gruppe ansehen, wo differenziert geschaut werden muss, wie man mit ihnen umgeht und jeder individuell auf seine Kosten kommen kann, den wünsche ich mir manchmal auch für die Auseinandersetzung mit den anderen gesellschaftlichen Gruppen. Ob das LehrerInnen sind, WissenschaftlerInnen, andere InteressenvertreterInnen oder wer auch immer. Das sind die heterogenen Gruppen, mit denen wir umgehen müssen und denen wir gerecht werden müssen. Es spricht auch nichts gegen einen produktiven Disput. Aber dieser Anspruch, der geht mir manchmal ein bisschen verloren.

Was waren aus deiner Sicht die wichtigsten Erkenntnisse, die eigenen und aber auch die von den anderen in dieser Zeit der wissenschaftlichen Begleitung?

Sonderpädagogisierung vs. Vernachlässigung behinderungs-
spezifischer Bedürfnisse

Neben dem, was wir gerade besprochen haben, ist ein weiterer Aspekt der Paradigmenwechsel, der in den letzten Jahren in großen Teilen der Integrationspädagogik stattgefunden hat. Von der sonderpädagogischen Ausrichtung des Gemeinsamen Unterrichts hin zu einer allgemeinpädagogischen Orientierung. Also Stichwort: Individualisierung und Differenzierung. Inzwischen besteht auch die Gefahr, dass es über die Vermeidung einer Sonderpädagogisierung des Gemeinsamen Unterrichts nur noch zu einer Realisierung eines guten allgemeinen Unterrichts kommt und die behindertenspezifischen Aspekte lediglich unter dem Sonderpädagogik-Verdacht gesehen und kritisiert werden und damit drohen, im Unterricht zu kurz zu kommen. Für die Gruppe Lernen, Emsoz und Sprache (LES) ist das auch vielleicht eher vernachlässigenswert, weil es da nicht so im Zentrum steht. Obwohl das bei Sprache teilweise schon eine wichtige Rolle spielt. Eine Besinnung auch auf diese behinderungsspezifischen Ebenen eines allgemeinen Unterrichts mit SchülerInnen mit Behinderung ist aber wichtig. Natürlich besteht auch weiter umgekehrt die Gefahr, dass viele Schulen nach SonderpädagogInnen schreien und meinen, nur mit SonderpädagogInnen könnten sie differenzierten Unterricht machen. Aber die Reform der Lehrerbildung hat hier ja schon erste Schritte in die richtige Richtung unternommen: behinderungsspezifische Fragestellungen werden als Teil bzw. Spezialisierungsmöglichkeit der Allgemeinen Pädagogik gesehen.

Welche anderen theoretischen Grundlagen findest du noch wichtig, die hier aus der Zeit stammen?

Pädagogik
der Vielfalt

Die ganzen Diskussionen um Vielfalt und Differenziertheit, die von Prengel, Hinz und anderen weitergeführt wurden, die spielen eine Rolle, wie auch genderspezifische Fragestellungen.

Unteilbarkeit
von Inklusion

Eine weitere offene Frage ist die nach der Unteilbarkeit der Integration/Inklusion. Welche Zwischenschritte hin zur Inklusion sind theoretisch und moralisch zu vertreten? Siehe das Beispiel oben mit dem schwer behinderten Kind. Diese Diskussion wird jetzt am Beispiel des Konzepts der Schwerpunktschulen geführt, das sich die Kritik gefallen lassen muss, dass dabei die Gefahr besteht, verschiedene Stufen der Integration zu etablieren.

Und bei den empirischen Forschungen, du hattest einige schon so ein bisschen angesprochen?

Ressourcen-
verteilung ohne
Statusdiagnostik

Einmal geht es weiterhin darum zu untersuchen, welche Formen der Förderdiagnostik optimal für gelungenen integrativen Unterricht sind. Etwa was die Fragen angeht, die auf der Schwelle zwischen Feststellungsdiagnostik und Förderdiagnostik diskutiert werden. Wir zielen etwas an, was theoretisch auch noch gar nicht so durchdrungen ist. Etwa wie eigentlich eine konsequente Förderdiagnostik im allgemeinen Unterricht stattfinden kann, was dazu auch vonseiten der LehrerInnen an Erfordernissen notwendig ist, um diese Prozesse zu realisieren, ohne dass die Kinder etikettiert werden. Wir wollen von der Feststellungsdiagnostik weg und zu einer prozessorientierten Förderdiagnostik, aber wie die sich in Bezug auf die Fragen nach den Ressourcen im Unterricht realisiert, ist offen. Wenn wir davon ausgehen, dass die Schule die Ressourcen schon hat, geht es trotzdem darum, wie die Entscheidungen getroffen werden: In welche Klassen, in welchen Unterricht muss was an Ressourcen reinkommen. Und davon hängt wieder eine genaue förderdiagnostische Konzeption ab, die deutlich macht, was gebraucht wird. Also was an realen pädagogischen oder behindertenspezifischen Ressourcen für diesen Unterricht notwendig ist. Wir brauchen ein wirklich konsequentes Konzept dafür, wie diese Förderdiagnostik aussieht. Das ist ja der Anspruch der Differenzierung des Unterrichts, der voraussetzt, dass der Lehrer/die Lehrerin sich ein Bild von jedem Kind machen muss. Und das ist ja nichts anderes als Diagnostik, und das, was da in der bisherigen pädagogischen Diskussion stattgefunden hat, hat das getrennt. Also, es hat Differenzierungsschritte in der Vermittlung von Lernen gegeben und verschiedene diagnostische Instrumente, um festzustellen, wo das Kind denn steht. Aber die waren selten oder nie den behinderungsspezifischen Fragestellungen verbunden, die für diese Diagnostik noch eine Rolle spielen.

Rolle von
SpezialistInnen

Das führt dann zu der Frage, wer das alles machen kann. Brauchen wir dazu wieder besser qualifiziertes Personal, können das zumindest bei LES eigentlich alle LehrerInnen oder brauchen die noch mal eine Ausbildung, damit sie diese Art der Förderdiagnostik jetzt mit dem ganzen Spektrum von SchülerInnen mit Behinderung, die im Unterricht sind, realisieren können? Ab wann brauchen wir auch SpezialistInnen? Sprich Beratungs- und Unterstützungszentren (BUZ) oder andere Institutionen, die dann helfen. Die Aufgabenteilung im Gemeinsamen Unterricht wird noch einmal eine ganz spannende Frage, wenn alle wirklich zusammen sind, also wenn der Anspruch realisiert ist und die Sonderschulen wegfallen. Das wäre ein Punkt, der auch Forschungsfragen betrifft.

Migrations-
hintergrund

Dann die Verbindung der beiden Integrationsstränge Migration und Behinderung. Wir haben zum Beispiel in der wissenschaftlichen Begleitung alle Gemeinschaftsschulen in drei unterschiedliche Belastungsbereiche eingeteilt, was das soziale Umfeld angeht. Setzen sich die sozial belasteteren Gruppen aus Sozialschwachen und/oder aus MigrantInnen zusammen, sind die MigrantInnen immer die Sozialschwachen und so weiter. Da geht es nicht nur um den sozialen Hintergrund allgemein im Elternhaus, also prekäre Situationen und niedriger Bildungsstand, sondern es muss vielmehr auch um die Fragen von Effekten kultureller Dissimilation gehen. Also welche kulturellen Traditionen behindern oder befördern eigentlich integrative Unterrichtsformen. Ein banales Beispiel ist, dass Kinder nicht mit zum Schwimmen gehen dürfen, oder Fragen wie, wer interessiert sich in der Familie überhaupt für das Lernen und den Unterricht und all diese Themen. Und all die weiteren Ansprüche, die mit Inklusion verbunden sind, sind nicht ganz so stark im Fokus, dass wirklich alle in der Schule gleichermaßen partizipieren. Und dazu gehört auch die Schnittmenge zwischen SchülerInnen mit Behinderung und SchülerInnen mit Migrationshintergrund – ein merkwürdiges Wort. Ein Fußballer hat mal gesagt, er habe einen Migrationsvordergrund.

U

Untersuchung von Implementierungsprozessen

nd das Dritte ist für mich die breitere Untersuchung von bildungspolitischen Rahmenbedingungen. Etwa regional- und verwaltungsspezifische Besonderheiten von Integration, Fusion von Schulen, schulorganisatorische Effekte der Implementierung dieses ganzen Prozesses. Hier stellt sich die Frage nach den kontextbezogenen Variablen. Wir haben ja mit dem Beirat und den Foren zur Inklusion schon ein Stück weit eine Begleitung von Implementierungsprozessen, um im gesellschaftlichen Diskurs zu klären, was sich bewährt und was sich weniger bewährt. Zum Thema Gelingensbedingungen von Implementierungsprozessen gibt es noch wichtige Evaluationsaufgaben für die Wissenschaft.

Und für den Praxisbereich, wo siehst du da die wichtigsten zukünftigen Aufgaben?

Verbreitung
inklusiver Strukturen, Praktiken und Kulturen

Hier geht es um die Verstetigung und Verbreiterung des ganzen Prozesses. Viele Reformen im Bildungsbereich sind ja Reformen von oben. Das hat auch seine Berechtigung. Aber darin liegt auch zugleich ein Problem. Das sehe ich an den Gemeinschaftsschulen und das gilt für die Integration oder Inklusion auch. So entstehen Leuchtturmprojekte wie die Schulpreisschulen, aber das in die Breite zu bekommen, ist die Herausforderung. Wir schauen uns immer wieder die Schulpreisschulen an. Die sind unter ganz unterschiedlichen Bedingungen über Jahre gewachsen und erreichen dann irgendwann mal das, wovon ich vorhin auch gesprochen habe, dass es einen qualitativen Sprung gibt. Die Frage ist also: Wie bekommt man es für die Integration hin oder auch für die Gemeinschaftsschulen? Wie erreichen wir, dass es in einer Schule nicht nur einzelne LehrerInnen sind, die guten Unterricht machen, sondern dass es der Spirit der ganzen Schule wird und es auch konzeptionell bestimmte Methoden, bestimmte schulinterne Curricula gibt, die das prägende Profil einer Schule sind, mit denen sie auch nach außen wirkt? Das mehr in die Breite zu bekommen und bei mehr Schulen hinzukriegen, sehe ich als eine wichtige Aufgabe.

Nachhaltige
Fortbildungen

Wobei wir beim Stichwort Qualifizierung und nachhaltige Fortbildung sind und das ist immer noch ein Problem, was ganz unzureichend gelöst ist. Also weg von der Individualisierung von Fortbildungsangeboten hin zu Gruppen von Teams in Schulen und von Fachkonferenzen. Das ist immer wieder versucht worden, aber es versandet immer wieder. Wir machen die Erfahrung, dass man ein vorgeblich nachhaltiges Konzept erstellt und dass das im Alltag der Schulen untergeht. Oft stehen schulorganisatorische Hürden im Weg, der Schulleiter/die Schulleiterin schickt für die zweite Folge einer Fortbildung, die aufeinander aufgebaut ist, andere LehrerInnen, weil er die ursprünglichen gerade wieder braucht, und damit ist die ganze Kontinuität über den Haufen geworfen.

Aber das ist ja ein Problem, das wir jetzt schon seit Längerem haben und auch das jahrgangsübergreifende Lernen hatte genau dasselbe Problem. Wir hatten die Pionierschulen, die das irgendwie im Modellversuch mit ganz viel Herzblut engagiert gemacht haben und dann sollten es alle anderen auf einmal machen und überraschenderweise hat es nicht auf Anhieb so funktioniert wie der Modellversuch.

Einführung
von Reformen

Ja, das ist genau das, was ich mit dieser Reformfrage meine, dass man möglichst viele auf diesem Weg auch mitnimmt. Wenn ich irgendwann mal von oben aus der Verwaltung verordne: Das ist ein gutes Konzept, das machen wir jetzt alle. Dann kann das auch schiefgehen. Man muss das also langsamer einführen und sehen, dass die Leute entsprechend qualifiziert werden. Es gibt natürlich immer Punkte, wo man dann sagen muss, jetzt wird es so gemacht. Bei den SchülerInnen mit Migrationshintergrund fragt heute – Gott sei Dank – auch keiner mehr, ob sie denn im Unterricht sein dürfen. Aber wenn ich zu viele auf dem Weg verliere, dann fällt mir das wieder auf die Füße.

Ja, was ich bei dieser Verbreitungsdiskussion noch ganz spannend finde, ist die Frage, welche Unterstützungsmöglichkeiten es tatsächlich gibt, um Lehrkräften zu ermöglichen ihren Unterricht zu verändern. Und dies jenseits von: Wir stecken da einen Sonderpädagogen/eine Sonderpädagogin rein, der/die dann aber immer zur Vertretung rausgezogen wird.

Interschulische Vernetzung

Da gibt es ja viele gute Ideen und Ansätze, aber die konsequente Umsetzung ist auch nicht so leicht. Hospitationskonzepte und -projekte, das haben wir versucht in den Gemeinschaftsschulen ein bisschen konsequenter hinzukriegen. Dass etwa im Aufbau der Schule und in der Veränderung des Unterrichts immer diejenigen, die schon einen Schritt weiter waren, KollegInnen aus anderen Schulen zu sich eingeladen haben und darüber ein Dialog stattfand und man sich dann umgekehrt selbst wieder andere Schulen gesucht hat, die bei bestimmten Inhalten und Methoden bzw. der Realisierung bestimmter Reformvorhaben und Unterrichtsveränderungen eine Pilotfunktion hatten. Es gibt ja auch ein entsprechendes bundesweites Projekt »Blick über den Zaun«. Die interschulische Vernetzung darf nicht aus dem Blick geraten, wenn sie auch im Schulalltag schwer durchzuhalten ist und es entsprechender Unterstützung auch von außen bedarf.

Du hattest die Bezüge zu den anderen Teildisziplinen der Pädagogik schon angesprochen, sowohl in der eigenen Motivation als auch jetzt bei den zukünftigen Aufgaben. Wo siehst du diese Verschränkungen zwischen den anderen Heterogenitätsdimensionen: Armut, Migration, Geschlechterfragen? Wo müssten die aus deiner Sicht noch gestärkt werden oder wo klappt die Zusammenarbeit schon eigentlich ganz gut?

Integration der
Beratungsangebote

Wir sind ja jetzt zum ersten Mal auf einem Weg, auf dem über das BUZ-Konzept stärker die ganzen Begleitinstitutionen mit in den Blick genommen werden, etwa die Lebenshilfe und andere Sozialhilfeeinrichtungen in der Stadt. Immer schon hatten Eltern von SchülerInnen mit Behinderungen das Problem, dass sie durch einen Wald von Institutionen laufen mussten, um für ihre Kinder etwas zu erreichen. Das ist ein wichtiges Ziel, dass es hin zu Integration/Inklusion hier eine systematischere Zusammenführung der verschiedenen Zuständigkeiten gibt und von daher zum Beispiel die Psychologie und die SchulpsychologInnen genauso eingebunden werden müssen, wie SonderpädagogInnen oder andere Berufsgruppen. Ähnlich besteht die Notwenigkeit einer stärkeren Verzahnung des Themas der Integration von Menschen mit Behinderungen mit Migrations- und Genderfragen. Besonders Vera Moser und Annedore Prengel haben solche grenzüberschreitenden Dimensionen der Integrations-/Inklusionsdebatte bearbeitet.

Und internationale Leute, die für dich bedeutsam waren, gab es da welche?

Internationale Vernetzung

Toni Booth etwa haben wir auf Tagungen noch vor dem Index für Inklusion kennengelernt. Da hat es einen regen Austausch gegeben. Ansonsten habe ich mit italienischen, norwegischen und anderen ForscherInnen partielle Kontakte gehabt. Momentan spielt die Hattie-Studie eine Rolle in der pädagogischen Diskussion hinsichtlich der Frage der Wirksamkeit struktureller versus pädagogischer und unterstützender Maßnahmen. Der Studienpool bei Hattie besteht aber überwiegend aus älteren Unterrichtsbeispielen, in denen moderne Individualisierungs- und Differenzierungskonzepte noch keine große Rolle gespielt haben. Zu Beginn der Integrationsdebatte spielten Haeberlin aus der Schweiz und seine vergleichenden Untersuchungen über das Lernen in Sonderschulen und Regelschulen eine wichtige Rolle.