Wie kamst du selbst zur integrativen Pädagogik?
Erfahrungen an der Schule für Geistigbehinderte
Meine ersten Erfahrungen als Lehrerin habe ich an einer Berliner Schule für Geistigbehinderte29 gemacht. Damals, Anfang der 70er Jahre, fand ich das Konzept des geschützten Raums und eines speziellen Förderorts für Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen vollkommen überzeugend. Immerhin boten diese neu gegründeten Schulen für viele Kinder und Jugendliche mit ausgeprägten Lernschwierigkeiten oft eine erste Chance auf Bildung – jenseits privater Einrichtungen.
Beeinflusst von der Studentenbewegung ließen sich diese neu gegründeten Schulen als eine freie Spielwiese der Pädagogik nutzen. Der äußerst magere Berliner Rahmenplan der Schule für Geistigbehinderte verpflichtete praktisch zu nichts, die Klassen waren winzig klein, die Ressourcen großzügig. Gemeinsam mit den SchülerInnen, den Angehörigen und interessierten KollegInnen konnten wir vieles ausprobieren: Reformpädagogische Ansätze, die Projektarbeit und individuelles Lernen erlaubten; ganzheitliche, praxisorientierte und kreative Lernformen – alles was neu oder wieder neu war.
Unterstützte Kommunikation
Auch sonderpädagogische Neuheiten, wie z. B. das Konzept der »Unterstützten Kommunikation«30 wurden erstmals an einigen Schulen eingeführt. Dieses Angebot zur Verständigung über alternative Kommunikationsformen sollte SchülerInnen mit schweren Sprech- und Kommunikationsbeeinträchtigungen eine barrierefreie Verständigung, Rehabilitation und Teilhabe sichern.
Schule ohne Leistungsdruck
Vor allem aber war die Sonderschule für Geistigbehinderte eine Schule ohne Leistungsdruck – nichts musste in bestimmten Zeiträumen erreicht werden, statt Noten gab es Gespräche und Berichte zu den individuellen Entwicklungen der SchülerInnen. Kurz – diese Schulform erschien mir als Paradiesgärtlein des Lernens.
Tatsächlich sind es übrigens genau solche Bildungsprinzipien und Ressourcen, die heute gemeinsames Lernen in der allgemeinen Schule möglich machen. Bis in die 90er Jahre hinein galten solche Lernbedingungen aber als »Kuschelpädagogik« und waren meist ausschließlich Kindern und Jugendlichen vorbehalten, von denen man sich wenig erwartete.
Begrenzte
Lernmöglichkeiten an der Sonderschule
Trotz dieser fortschrittlichen Bedingungen zeigte sich, dass irgendetwas an dem Setting einer Förderung entlang ähnlicher Problematiken nicht aufging. Die SchülerInnen lernten trotz intensiver und zunehmend sachkundiger Förderung vergleichsweise wenig – gemessen z. B. an der Möglichkeit später ein übliches Leben in der Gesellschaft zu führen. Es gab viel Leerlauf im Unterrichtsalltag. Niedrigschwellige Beschäftigungsangebote und kleinschrittige Wiederholungen, die als unerlässlich galten, oder auch einschränkende Vorannahmen zu den Lernmöglichkeiten der SchülerInnen behinderten anspruchsvollere Bildungsangebote oft erheblich. Angebote z. B. zum Schriftspracherwerb waren selten – ebenso wie die Möglichkeiten übliche Kinder- und Jugendkulturen zu erleben oder von guten sprachlichen Vorbildern zu profitieren.
Gewalt in
Institutionen
Ein berufliches Angebot jenseits von geschützten Werkstätten und Tagesstätten schien daher undenkbar. Auch Wohnen und Freizeit wurden ausschließlich in Sondereinrichtungen gedacht.
Und schließlich gab es auch Gewalt gegen SchülerInnen. Demütigungen, das Vorenthalten von Grundbedürfnissen bis hin zu körperlicher Gewalt waren keine Einzelfälle.
Neue Schulkonzepte
Die Erkenntnis, dass diese Missstände institutionell bedingt waren, haben viele LehrerInnen an Sonderschulen nach neuen Schulkonzepten suchen lassen – übrigens etwa zeitgleich mit ihren KollegInnen an den allgemeinen Kindergärten und Schulen, die schon erfolgreich Erfahrungen mit zielgleicher Integration gemacht hatten. Gesellschaftlicher Hintergrund dafür waren die großen Sozialbewegungen, die Ende der 80er Jahre einen Höhepunkt erreichten, wie z. B. die Bürgerrechtsbewegungen der Schwarzen in den USA, die Frauenbewegung, die Lesben- und Schwulenbewegungen oder eben die Selbstbestimmt-Leben-Bewegungen.
Einflüsse aus Italien
Was neue Konzepte für die Anerkennung der Rechte von Menschen mit Behinderungen anging, so haben wir, die Lehrpersonen in Deutschland, aber besonders auch die Angehörigen von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen, vor allem nach Italien geschaut. Es war beeindruckend zu sehen, wie sich dort die Psychiatrien öffneten und die Schulen sich erfolgreich hin zu vollständiger und kompromissloser Integration veränderten.
Schulversuch
in Berlin
In Berlin konnten Anfang der 90er Jahre LehrerInnen und engagierte Eltern einen Schulversuch zur »Integration von Kindern mit geistiger Behinderung und Kindern mit schweren Mehrfachbehinderungen« durchsetzen, nachdem eine glückliche politische Konstellation aus SPD und Alternativer Liste ihre Anliegen unterstützt hatte.
Wissenschaftliche Begleitung
An diesem Schulversuch habe ich, so etwa seit Mitte der 90er Jahre, als wissenschaftliche Begleitung teilgenommen. Die Erfahrungen dabei haben mich damals endgültig davon überzeugt, wie produktiv gemeinsame Bildungsmöglichkeiten für alle Beteiligten sein können.
Was waren das für Schulen?
Schulversuch zur zieldifferenten Integration
Es waren durchweg fortschrittliche Grundschulen, die meist schon einige Erfahrungen mit zielgleicher Integration hatten und es nun auch wagen wollten zieldifferent zu unterrichten. Diese Schulen haben verstanden, dass ein Schulversuch ihnen die Möglichkeit gab, neue Schulkonzepte zu erproben, die allen SchülerInnen zugute kommen sollten. Trotzdem war es damals geradezu unerhört mutig Kinder mit schweren Mehrfachbehinderungen aufzunehmen – immerhin war dieser Personenkreis erst wenige Jahre zuvor als SchülerInnen an Sonderschulen akzeptiert worden.
Integrative Kinderläden
Vorläufer der zieldifferenten schulischen Integration waren einige Kindergärten, besonders die selbst organisierten »Kinderläden«, die im Zusammenhang mit der Studentenbewegung als Orte selbstbestimmter Entwicklung von Kindern gegründet worden waren. Dort waren schon in den 60er Jahren die demokratischen Rechte von Kindern diskutiert und erfolgreiche Wege des gemeinsamen Lebens und Lernens entwickelt worden. Von diesen Erfahrungen konnten die Integrationsschulen nun profitieren.
Rahmenbedingungen des Forschungsprojekts
Der »Berliner Schulversuch zur Integration von Kindern mit geistiger Behinderung und Kindern mit schweren Mehrfachbehinderungen« bot die Chance die Entwicklungen zieldifferenter Integration über gut zehn Jahre hinweg zu betrachten – und die Konzepte für Schulversuche mitzudenken, die – um einige Jahre zeitlich versetzt – für die Sekundarstufe durchgeführt wurden. Die Bedingungen für dieses Forschungsprojekt waren großzügig angelegt. So wurden z. B. den teilnehmenden LehrerInnen Fortbildungen und Stundenermäßigungen für ihre eigenen Forschungsprozesse bewilligt, sowie ein regelmäßiger Austausch mit KollegInnen anderer Integrationsschulen.
Intensiv eingebunden waren übrigens auch die Angehörigen und die SchülerInnen selbst. Dieses Setting einer »Partizipativen Forschung« habe ich als sehr produktiv erlebt.
Gut. Wie war das angebunden, war das irgendwie an der Uni oder war das eine selbstständige Arbeitsgruppe, oder?
Anbindung der wissenschaftlichen Begleitung
Weder noch – die wissenschaftliche Begleitung war an das Berliner Institut für Fort- und Weiterbildung und Schulentwicklung (BIL)31, vergeben worden. Dort gab es nicht nur die geeigneten Rahmenbedingungen für die Fortbildung der PädagogInnen, die am Schulversuch beteiligt waren, sondern eben auch jahrelange Erfahrung zur Entwicklung und Beförderung zeitgemäßer Schulentwicklungsprozesse.
Der Schulversuch hatte nicht nur das Ziel förderliche Bedingungen für gemeinsame Bildungsprozesse zu erforschen und die Qualität von Lernen und Bildung aller Beteiligten SchülerInnen zu ermitteln, sondern auch die Aufgabe, das Wahlrecht der Eltern zwischen den unterschiedlichen Schulformen zu sichern.
In seinen Methoden hat sich der Berliner Schulversuch an anderen wissenschaftlichen Begleitungen zur schulischen Integration orientiert, wie sie z. B. durch Nicola Cuomo32 in Italien und in Deutschland durch Jakob Muth, Helmut Reiser u. a. durchgeführt worden sind.
Und du hast es ja schon angesprochen, dass UK dein Interessenschwerpunkt war. Gab es darüber hinaus noch andere Sachen, wo du gesagt hast, das wären Sachen wo du dich drauf konzentriert hast?
Qualität und Quantität kommunikativer Prozesse
Mich haben die Effekte gemeinsamer Bildung bei ALLEN SchülerInnen interessiert. Bei den Verständigungsprozessen ließ sich das einfach besonders gut zeigen. UK war dabei ein geeignetes Konzept die Verständigungsprozesse zu erleichtern. Die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Unterstützung der Kommunikation lassen sich in einem gut sprechenden Umfeld der allgemeinen Schule meist richtig gut nutzen. Qualität und die Quantität der kommunikativen Kontakte der SchülerInnen untereinander waren in integrativen Settings deutlich besser zu fördern, als in Sonderschulen.
SchülerInnen
mit Autismus
Auch bei SchülerInnen mit Autismus ließen sich solche Peer Effekte nachweisen. Das Aufwachsen und Lernen in üblichen Bildungsinstitutionen bietet Kindern mit Autismus, bei geeigneter Unterstützung, oft eine Chance das Verhalten der Mehrheitskultur verstehen zu lernen – ohne ihre individuelle Persönlichkeitsstruktur verleugnen zu müssen.
Kurz – es ging mir um die Entwicklung einer guten Praxis für die Bildungsprozesse aller SchülerInnen – nicht um die isolierte Förderung für einzelne SchülerInnen mit Behinderungen im Rahmen der allgemeinen Schule.
Und wer würdest du sagen, war von den MitstreiterInnen für dich besonders wichtig?
SchülerInnen und Angehörige als MitstreiterInnen
Für die Entwicklung einer geeigneten Praxis zum gemeinsamen Unterricht waren es zunächst einmal die SchülerInnen selbst. Sie haben uns gezeigt, was sie lernen wollten und wie sie lernen konnten. Sie sind während des Schulversuchs auch immer wieder befragt worden. Ihre Perspektive ist als wesentlicher Aspekt der Qualitätssicherung in die Ergebnisse des Schulversuchs einbezogen worden.
Ebenso wichtig waren die Erfahrungen der Angehörigen. Sie wurden nicht nur zu ihren Einschätzungen der integrativen Prozesse befragt, sondern auch immer als ExpertenInnen zu den Fortbildungen eingeladen.
Wissenschaftliche Begleitungen anderer (Bundes-)Länder
Der beständige Diskurs der LehrerInnen und der wissenschaftlichen Begleitung wurde durch die regelmäßigen Treffen der Beteiligten aus allen teilnehmenden Schulen gesichert. In diesem Rahmen waren Hospitationen und kollegiale Beratung vorgesehen.
Wesentliche überregionale MitstreiterInnen waren natürlich die wissenschaftlichen Begleitungen anderer Bundesländer in Deutschland, aber auch in Österreich oder der Schweiz. Anders als in Berlin waren diese Begleitungen meist an die Universitäten vergeben worden. Von dort aus etablierten sich Forschungszirkel, die als Tagungen der IntegrationsforscherInnen bis heute das zentrale Forum für einen Austausch zum Stand der Forschung in den deutsch sprechenden Ländern sind. Das große Interesse der Erziehungswissenschaften an integrativer Schule und später an inklusiver Bildung hat mit Sicherheit dafür gesorgt, dass Politik und Verwaltung diese Bewegungen nicht mehr ignorieren konnten. Ich habe sehr von diesen regelmäßigen Treffen profitiert.
Italien
Aber auch wenn später außereuropäische Kontakte zum Thema Integration/Inklusion immer wichtiger wurden, zum Beispiel in die USA und nach Kanada, blieb Italien für mich ein Vorbild dafür, wie sich gemeinsame Bildung unkompliziert und qualifiziert umsetzen lässt. Bei meiner späteren Tätigkeit als Dozentin an der Freien Universität Bozen hab ich zumindest die Südtiroler Region mit ihren unterschiedlichen Bildungseinrichtungen gut kennengelernt. Es war befreiend, endlich einmal nicht mehr darüber streiten zu müssen, ob Kinder mit Beeinträchtigungen überhaupt in der allgemeinen Schule unterrichtet werden können, sondern WIE GENAU sich unter den Bedingungen von Verschiedenheit Schule organisieren lässt. Auch der Weg zu inklusiven Lebensweisen über die Schule hinaus wird in Italien/Südtirol meist schon mitgedacht. Alle Bildungsinstitutionen sind eng vernetzt. Die Übergänge werden gut geplant und gut begleitet. Fachkräfte sind für die inklusiven Prozesse zuständig – nicht nur für ein spezielles Kind und die Kommunen sind intensiv eingebunden.
Bezüge zur Praxis haben wir schon ausreichend beleuchtet. Was sind aus deiner Sicht die größten Herausforderungen gewesen oder auch immer noch?
Institutionelle Vorgaben und Vielfalt
Ja, solche Herausforderungen gibt es immer noch – auch wenn viele Schulen heute weit erfahrener sind in differenzierenden Lernangeboten und sehr viel offener für die Verschiedenheit ihrer SchülerInnen.
Aus meiner Sicht behindern vor allem ein gegliedertes Schulsystem, starre Curricula und Notengebungen ein inklusives Bildungskonzept – da hat sich wenig geändert.
Einstellungen der Lehrpersonen
Einstellungen zu Verschiedenheit spielten und spielen ebenfalls eine große Rolle.LehrerInnen, die ihre bunte Mischung von SchülerInnen interessant finden oder Vielfalt sogar als Gewinn betrachten, sind zufriedener und erfolgreicher, als ihre KollegenInnen, die mit der Unterschiedlichkeit ihrer SchülerInnen nicht zurecht kommen.
Eine weitere Ursache für das Scheitern von Lehrpersonen im Gemeinsamen Unterricht sind oft mangelnde Handlungskompetenzen. Künftige LehrerInnen müssen schon während des Studiums auf eine heterogene Schülerschaft und eine geeignete Unterrichtspraxis für dieses Setting vorbereitet werden. Dazu gehört, neben der Fähigkeit differenzierte Lernangebote machen zu können, die Fähigkeit in multiprofessionellen Teams zu arbeiten.
Was denkst du, welche Erkenntnisse aus den letzten Jahrzehnten nicht in Vergessenheit geraten sollten?
Die Erkenntnis der 90er Jahre, dass Schädigungen und Funktionsbeeinträchtigungen zwar Barrieren für Teilhabe sein mögen, aber nicht behindern müssen, hat sich bis heute nicht völlig durchgesetzt. Behinderung wird oft immer noch als unveränderliches Persönlichkeitsmerkmal festgeschrieben – mit großem Schaden für die Bildung von Menschen mit Beeinträchtigungen.
Freiräume gemeinsam gestalten
Als typisch für die integrative Praxis der 90er Jahre habe ich die Freiräume für kreative Vorgehensweisen erlebt. So haben zum Beispiel einige LehrerInnen die Kinder der ersten Klasse in einem vollständig leeren Klassenzimmer begrüßt und gemeinsam mit ihnen überlegt, wie ihr Klassenraum aussehen sollte. Damals sind mit Hängematten, Teppichen, Lesesofas, Kochmöglichkeiten usw. erstmals in Schulräume eingezogen und Tischgruppen für spezielle Arbeitsbereiche, schöne Lernräume für Ruhe und Aktivität entstanden. Die Laborschule Bielefeld zum Beispiel hat die Bedeutung eines Raumkonzepts für Bildungsprozesse schon früh erkannt und fest in ihrem Schulkonzept verankert. Die LehrerInnen der ersten Generation in Integrationsklassen waren besonders daran interessiert, Barrierefreiheit herzustellen – zumindest würden wir es heute so nennen. Und zwar sowohl bei den sozialen Kontakten der Kinder untereinander, als auch beim Lernen und bei der Bewältigung des Alltags.
Probleme gemeinsam lösen
Dabei waren die Kinder immer wieder aufgefordert, Probleme selbst zu lösen und gute Kontakte herzustellen, z. B. im Rahmen von Klassenräten oder bei Patenmodellen.
Selbstentwickelte »Hilfsmittel«
Selbstentwickelte »Hilfsmittel« standen hoch im Kurs. Ich erinnere mich an ein großes Tragetuch mit vielen Schlaufen, in denen sich die Kinder gegenseitig tragen konnten – ganz nebenbei auch ihre MitschülerInnen mit schweren motorischen Beeinträchtigungen. Lernen fand nach Möglichkeit auf Augenhöhe statt, z. B. am Boden oder durch unbefangenes Lagern von Kindern mit motorischen Beeinträchtigungen auf den Tischen – damit sie bequem an einer Arbeitsrunde beteiligt sein konnten. Gebärdensprache, Verständigung über Kommunikationstafeln oder erste elektronische Sprechhilfen, Unterstützung beim Essen, beim Trinken, bei der Mobilität auf dem Schulhof oder bei der Organisation gemeinsamer Spiele – überall wurden alle SchülerInnen einbezogen. Mit den schönsten Synergieeffekten für Lernen und Persönlichkeitsentwicklung. Heute sind viele dieser sozialen Aspekte des Lernens in die Hort- und Nachmittagsbereiche der Schulen gewandert – mit dem möglichen Effekt, dass sie als Spiel und nachrangig betrachtet werden.
Zeit und Raum für die Entwicklung von guten Lernorten und Anerkennung von Lernkonzepten in sozialer Kohäsion würde ich den LehrerInnen von heute wünschen.
Fähigkeitsorientierte Diagnostik
Neu waren damals übrigens auch die sorgfältigen Planungen, die allen SchülerInnen individuelle Lernangebote entlang ihrer Interessen anbieten sollten. Das Interesse an einer pädagogischen, fähigkeitsorientierten Diagnostik33 war hoch, ebenso wie an internen Evaluationen34 zur Schulentwicklung. Erstmals wurde nicht nur von Experten geplant, sondern im Rahmen von Unterstützerkreisen. Dort konnten sich die SchülerInnen selbst, die Angehörigen und »außerschulische« Fachleute, wie ÄrztInnen oder TherapeutInnen auf geeignete Vorgehensweisen verständigen. Oder auch nicht. Kontroverse Sichtweisen und Widersprüche waren ausdrücklich erwünscht. Erstmals wollten auch alle Beteiligten wissen, wie erfolgreich die Ergebnisse gemeinsamen Lernens waren und welche Auswirkungen ein verändertes Bildungskonzept auf die Ebene der Schule und deren Umgebung hatten.
Derartige Veränderungen waren von hohem Engagement getragen und wurden fast immer in besonderer Weise von den Schulleitungen unterstützt, die Freiräume für diese Entwicklungen möglich machten.
Was denkst du, waren die wichtigsten Erkenntnisse, sowohl deine eigenen und auch die der anderen, die Integrationsforschung oder Praxis gemacht haben?
Zwei-Gruppen-Theorie
Zu den wichtigsten Erkenntnissen der Integrationsforschung gehört – aus meiner Sicht – vor allem die Überzeugung, dass das Konzept von Integration nicht ausreicht, um die demokratischen Rechte aller BürgerInnen zu wahren. Integrative Konzepte basieren auf Zweigruppen-Modellen, bei denen Verschiedenheit nicht als typisch für Lerngemeinschaften erkannt wird und deshalb nur unter bestimmten Bedingungen gesellschaftliche Akzeptanz erfährt. Zugleich ist der Begriff der Integration, soweit es um Bildung geht, oft immer noch eng an Menschen mit Beeinträchtigungen gebunden.
Menschenrechte
Es war also vor allem die Erkenntnis, dass Inklusion, als Konzept, das die demokratischen Rechte aller BürgerInnen in allen Lebensbereichen einfordert, eher geeignet ist der Vielfalt einer Gesellschaft zu entsprechen.
Und was würdest du sagen, waren dann die wichtigen StreitpartnerInnen?
Streit mit der
Schulverwaltung
In Berlin haben Lehrpersonen und Angehörige zusammen mit Schulleitungen, Fortbildungseinrichtungen und Arbeitsgruppen an den Universitäten intensive Auseinandersetzungen mit den Schulverwaltungen geführt. Diese breit angelegte Diskurskultur hat sich in unterschiedlichen Foren widergespiegelt, wie z. B. dem Elternverein »Eltern für Integration«, einer Arbeitsgruppe zur Integration innerhalb der GEW35 und dem »Arbeitskreis Gemeinsame Erziehung (AK Gem)36« an der TU Berlin, in denen Fragen der Schulentwicklung nachhaltig, sachkundig und theoriegeleitet diskutiert wurden und werden. Dabei wurden und werden nicht nur regelmäßig die Entwicklungen gemeinsamer Erziehung dokumentiert und weiter gedacht, sondern auch der Senatsverwaltung in zähen Verhandlungen Zugeständnisse für Bildungsreformen abgerungen.
Netzwerk der IntegrationsforscherInnen
Überregional war es das Netzwerk der IntegrationsforscherInnen, die mit regelmäßigen Tagungen37, Auseinandersetzungen um Fragen integrativer/inklusiver Theorie und Praxis geführt haben. In diesem Zusammenhang ist auch »Bidok«38 entstanden, eine Volltextbibliothek im Internet zu den unterschiedlichsten Themen von Integration und Inklusion und unterschiedlicher Autonomiebewegungen. Dort wird auch sog. »graue« Literatur veröffentlicht, also Texte, die oft nur in kleinen Auflagen oder speziellen Fachzeitschriften erschienen sind.
Welche Arbeiten zu den theoretischen Grundlagen erachtest Du für besonders wichtig?
Emanzipatorische Bewegungen
Im Zusammenhang mit der Bildungsentwicklung in Deutschland haben mich besonders die Studentenbewegungen der Nachkriegsgeneration und die emanzipatorischen Sozialbewegungen der 70er und 80er Jahre interessiert. Das war aus meiner Sicht der Ausgangspunkt aller Debatten um die unbeschränkten Grundrechte aller BürgerInnen und damit auch die Aufhebung von Diskriminierung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Diese Frage der Umsetzung demokratischer Rechte in allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens bestimmt bis heute den Diskurs um Integration und Inklusion in der Forschung.
Welche empirische Forschung fandest du besonders wichtig?
Praxisbezogene Forschung und Entwicklung
Forschung zu integrativer, später inklusiver Bildung ging fast immer mit der Entwicklung einer Pragmatik für gemeinsame Bildungswege einher. Das fand und finde ich bei diesen Forschungsanliegen sehr glaubwürdig, weil damit der Wille zu einer Umsetzung inklusiver Lebensweisen manifestiert wird. Im Zusammenhang mit schulischer Bildung wurde daher sehr frühzeitig ein ganzes Instrumentarium zur Qualitätssicherung gemeinsamer Bildungsprozesse entwickelt, wie z. B. zu einer fähigkeitsorientierten Diagnostik, zu Planungsmodellen, bei denen die betreffenden Personen einbezogen wurden oder auch zur Evaluation auf der Ebene eines ganzen Kindergartens oder einer ganzen Schule und deren kommunalen Umgebung.
Wohnen, Beruf und Freizeit als Forschungsfeld
Auch Fragestellungen zu weiteren gesellschaftlichen Aspekten, wie Wohnen, Beruf und Freizeit waren und sind immer auch Anlass empirischer Forschung. Diese wissenschaftlichen Forschungen werden übrigens bis heute durch immer neue Dokumentationen zu guter Bildungspraxis unterstützt, die Angehörige oder Lehrpersonen in entsprechenden Fachzeitschriften veröffentlichen oder auf Fachtagungen präsentieren.
Und welche Bezüge zu den anderen Teildisziplinen der Pädagogik, also gerade auch jetzt im Sinne von den anderen Emanzipationsbewegungen, die du jetzt schon angesprochen hast, gibt es?
Emanzipationsbewegungen als Basis des Inklusionskonzepts
Als Teildisziplinen der Pädagogik würde ich diese Emanzipationsbewegungen nicht bezeichnen – tatsächlich waren Entwicklungen im pädagogischen Bereich eher die Folge solche Bewegungen. Aber schon das Konzept von Integration war bei vielen AutorenInnen breit angelegt und auf alle Gruppen menschlicher Gesellschaft gerichtet – wenn auch der Fördergedanke und die Ressourcenverteilung entlang von Beeinträchtigungen als Voraussetzung für gelingende Integrationsprozesse gesehen wurden.
Erst auf der Ebene von Inklusionskonzepten oder im Rahmen von neuen Demokratiebewegungen wird die bedingungslose Anerkennung von Gesellschaften der Vielfalt festgeschrieben und damit auf jeden Bereich gesellschaftlichen Lebens, jedes Lebensalter, jede Herkunft, jedes Geschlecht oder auch alternative Lebensweisen bezogen.
Und in der Pädagogik, wie hast du das da erlebt, also so auf der Ebene von universitärer Ausbildung?
Konservative Ausrichtung der Universitäten
Der Rahmen universitärer Ausbildung ist im Bereich der Rehabilitationspädagogik oft noch sehr konservativ angelegt. Das spiegelt sich meist schon in den ausdifferenzierten Arbeitsbereichen wieder, die oft immer noch eine spezifische Pädagogik für unterschiedliche »Behinderungsbilder« anbieten. An meiner Universität, der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, gab es aber immerhin schon Ende der neunziger Jahre am Institut für Rehabilitationspädagogik einen übergeordneten Arbeitsbereich für »Allgemeine Rehabilitationspädagogik und Integrationspädagogik«, der ausgesprochen fortschrittlich besetzt war. Damit hatten die Studierenden in vielen Arbeitsbereichen die Möglichkeit sich schon während der universitären Ausbildung mit Theorie und Praxis inklusiver Bildung auseinander zu setzen.
Ausrichtung auf inklusive Praxis im Studium
Heute können sich alle Studierenden an den Fakultäten für Erziehungswissenschaften, die in den unterschiedlichen Bildungsbereichen arbeiten werden, auf einen Gemeinsamen Unterricht vorbereiten und oft schon während des Studiums Praxiserfahrungen an Integrationsschulen erwerben. Das sehe ich als unverhandelbare Voraussetzung für das Gelingen inklusiver Bildung, wie sie in der UN-Behindertenrechtskonvention vorgesehen ist.
Und da gab es dann aber keine Kooperation mit den anderen Teildisziplinen, also gerade emanzipatorische Geschlechterforschung oder?
Na klar! Aber das waren individuelle Kontakte innerhalb emanzipierter wissenschaftlicher Forschungszirkel. In den konventionellen Arbeitsbereichen war aber die Sorge, dass die Grundsätze einer speziellen Behindertenpädagogik leiden könnten, sehr hoch. Integration unter der Bedingung intensiver, sonderpädagogischer Betreuung ließ ich allenfalls noch vorstellen, aber die Befürchtung, dass die jahrelang vertretenen Positionen nun nicht mehr zu halten seien und damit auch die eigene Forschung beschädigt würde, war sehr hoch. Am ehesten war noch eine Verbindung zu den Disability Studies denkbar – nicht gerade in ihren emanzipatorischen Anteilen, aber doch als Beispiele gelungener Rehabilitation.
Und wie war das, gab es aber trotzdem irgendwie noch die Kooperation? Gerade der Bereich UK ist ja doch von vielen Integrationsleuten nicht so berücksichtigt worden und eher in der klassischen Sonderpädagogik verortet.
Beratung und Fortbildung zu spezifischen Unterstützungsangeboten
Ja, das stimmt. Integrations-/Inklusionsschulen haben naturgemäß wenig Erfahrung mit speziellen Unterstützungsangeboten und die begleitenden SonderpädagogInnen waren und sind nicht unbedingt auf sämtliche Barrieren des Lernens und der Entwicklung vorbereitet. Diese Problematik gibt es auch in Italien, obwohl dort ein außerschulisches System der sozialen Dienste die sachgerechte Unterstützung von SchülerInnen mit Beeinträchtigungen übernimmt. Dort und bei vielen Fortbildungen können sich Lehrpersonen, insbesondere die sog. IntegrationslehrerInnen, beraten lassen.
Beratungsangebote sicherstellen
Kurz – lernen in inklusiven Settings darf nicht bedeuten, Erkenntnisse aufzugeben, die bei speziellen Bedarfen Barrierefreiheit sichern. Das gilt auch für die Forschung im Bereich der Rehabilitationspädagogik bezogen auf inklusive Settings.
Zur Sicherung von barrierefreier Bildung sollten Lehrpersonen der allgemeinen Kindergärten und Schulen, sowie FörderpädagogInnen, die in Bereichen inklusiver Bildung arbeiten, zuverlässige Beratungsmöglichkeiten haben und bei der Wahrnehmung regelmäßiger Fort- und Weiterbildungen unterstützt werden. Räumliche, personelle und sächliche Ressourcen, wie sie den Förderschulen zur Verfügung stehen, müssen auch der allgemeinen Schule zugestanden werden.
Wo siehst du zukünftige Aufgaben und Herausforderungen für die Praxis?
Handlungsbedarfe zur Umsetzung der UN-Konvention
Eine allgemeine und qualitätvolle Umsetzung der UN-Konvention ist noch lange nicht erreicht. Neben den genannten Bedingungen zu den Ressourcen und zu den Ausbildungs- und Studienbedingungen, müsste vor allem ein Umdenken stattfinden, das den Fördergedanken weniger ins Zentrum stellt – zumindest solange Förderung an Defizite gebunden ist. Noch glaubt man Deutschland an die Erfolge von exklusiver Förderung in homogenen Gruppen – die es so nicht gibt! Etwas mehr Vertrauen in den originären Lernwillen der SchülerInnen, eine passende Differenzierung bei den Unterrichtsangeboten und die Erkenntnis, dass die Verschiedenen erheblich voneinander profitieren können – das wäre schon viel …
Eine Frage am Rande: Das UN-Handbuch für Parlamentarier sieht ja vor irgendwie ein inklusives Schulsystem das 80 bis 90% der SchülerInnen mit Behinderung gemeinsam unterrichtet werden. Wie siehst du das?
Schule ohne
Aussonderung
Inklusiv gedacht ist das nicht – tatsächlich sind ALLE SchülerInnen gemeint. Ausschlusskriterien gibt es in inklusiven Settings nicht. Es gibt sehr wenige Ausnahmesituationen, z. B. bei schwerer Krankheit oder bei kindlicher Schizophrenie – aber da entscheiden die SchülerInnen mit den Angehörigen selbst, ob ein Schulbesuch infrage kommt. Meist stellt sich aber heraus, dass die Schule sich nicht auf die Bedürfnisse von SchülerInnen einstellen kann oder darf, die in der Tat sehr individuelle Bildungsangebote brauchen.
Behindernde
Rahmenbedingungen
Bezogen auf Schule bleibt es ein grundsätzliches Problem, dass mit Inklusiver Bildung das Richtige im Falschen etabliert werden soll. Starre Curricula, ein gegliedertes Schulsystem, Notengebungen und so weiter vertragen sich nicht mit der Vorstellung einer Schule der Vielfalt.
Im Grunde würde uns nichts daran hindern Bildungslandschaften zu schaffen, die allen Beteiligten, den Lehrenden und den Lernenden, gerecht werden und barrierefreies Lernen ermöglichen. Wir wissen wie’s geht. Es hat viele, ausgesprochen erfolgreiche Schulversuche dazu gegeben und es gibt auch jetzt schon wunderbare Schulen, die als Vorbilder dazu dienen können.
Welche zukünftigen Aufgaben, Herausforderungen siehst du für die Forschung?
Inklusion als gesellschaftliches Modell
Ich würde mir wünschen, dass Inklusion grundsätzlich als gesellschaftliches Modell erforscht wird und nicht auf Bildung bezogen bleibt. Vielleicht würde es sich auch lohnen die Barrieren für ein gutes Leben in sozialem Zusammenhalt aufzuzeigen und Lösungsstrategien zu entwickeln.
Dazu wären größere, interdisziplinäre Forschungsgemeinschaften nötig, die auch Wirtschaft, Politik, Medien, Kunst, Literatur und Philosophie einbeziehen – und besonders die BürgerInnen selbst natürlich …
Hast du noch Punkte, wo du sagst, das wäre mir wichtig?
Nö, das war’s schon – oder vielleicht noch ein Zitat aus einem Lied von Leonard Cohen, weil derart beziehungsvolle Zitierungen damals besonders beliebt waren: »There is a crack, a crack in everything – that’s how the light get’s in«.39