Interview mit Jutta Schöler

Interview mit Jutta Schöler (PDF)

Ich fand es schon sehr spannend, also gerade diese Frage: Wie kommt man zur integrativen Pädagogik? Vielleicht kannst du es einfach noch mal kurz erzählen.

Eigene positive Schulerfahrung

Ich sag mal so, rückblickend kann ich zusammenfassen, dass das bestimmt auf ganz viele Zufälle zurückzuführen ist, welchen Weg ich dann tatsächlich gegangen bin. Und ja, ich habe auch immer wieder gerade LehrerInnen gehabt, die mich unterstützt haben. Ohne die wäre es nicht gegangen, ganz klar. Also zu meiner ehemaligen Klassenlehrerin in der Realschule, die jetzt dieses Jahr 90 wird, da habe ich immer noch Kontakt, besuche sie regelmäßig im Altenwohnheim, und sie ist stolz auf mich, was aus mir geworden ist. Und ich sag mir immer, das war diejenige, die zum Beispiel zu dem Lehrherrn von dem Reisebüro gegangen ist, weil ich innerhalb von zehn Tagen etwa den Lehrvertrag zurückgeben musste, den ich mir zuvor hart erkämpft hatte. Damals hätte man noch Strafe bezahlen müssen, wenn man einen Lehrvertrag kurzfristig kündigt. Meine Lehrerin hat mit dem Lehrherrn verhandelt, dass meine Eltern keine Strafe bezahlen mussten, sonst wäre das nicht gegangen. Und dass überhaupt jemand noch mal die Initiative ergriffen hat, ob ich nicht vielleicht doch auf die Gymnasiale Oberstufe gehe. Das war damals also 1958 etwa so ungewöhnlich, wie heute ein geistig behindertes Kind am Gymnasium. Ich habe es jetzt hinterher recherchiert: acht Prozent meines Geburtsjahrganges hatten überhaupt nur die Chance Abitur zu machen, dies war nicht so wie heute. Der Schulleiter ist über mein Zeugnis gestolpert, als er es unterschrieben hat. Und es war ein sehr gutes Zeugnis, weil ich sicherlich immer sehr fleißig war und auch lange eigentlich den Gymnasialstoff mir nebenbei erarbeitet habe und er hat mich aus dem Unterricht rausholen lassen und mich erst mal so quasi zusammengeschissen und über meine Eltern Böses gesagt, warum ich nicht auf das Gymnasium gegangen bin. Es sei unverantwortlich von den Eltern, mich nur auf die Realschule zu schicken. Ich habe da wirklich erst mal geheult und meine Eltern verteidigt, dass das einfach nicht ging. Dass das nicht ging, habe ich immer eingesehen, habe aber immer gehofft, dass mal so ein Wunder geschieht und mein Vater dann doch eine feste Arbeit bekommt. Ja, dann bin ich in die Klasse zurück und ich war in der Realschulzeit in derselben Klasse wie meine ein Jahr jüngere Schwester. Ich bin mal ein Jahr zurückgesetzt worden wegen meines Wechsels zwischen der Pflegefamilie in der Schweiz und Berlin. Und ich kam dann heulend in die Mathematikstunde zurück und die Lehrerin wusste nichts mit mir anzufangen, hat uns beide auf den Flur rausgeschickt. Dann hat mir meine Schwester zugeredet, ich soll doch noch einmal zu meinem Vater fahren, der gerade eine neue Arbeit bekommen hat und mit dem noch mal verhandeln. Meine Klassenlehrerin verhandelte mit dem Lehrherrn, der Schulleiter stolpert über mein Zeugnis, meine Schwester hat mir Mut gemacht und mein Vater hat mit mir ausgehandelt: Okay, wir können es versuchen unter drei Bedingungen: Er muss keine Strafe bezahlen, dass ich den Lehrvertrag abgebe, er behält seine Arbeitsstelle und wird nicht arbeitslos und nach dem ersten halben Jahr muss ich den Beweis bringen, dass ich das auch wirklich schaffe. Und das hat er daran festgemacht, dass ich als schlechteste Note höchstens eine vier auf dem Zeugnis haben darf. Ja und das haben wir geschafft, so bin ich auf dem Gymnasium gelandet. Dann war aber die nächste Frage, welches Spandauer Gymnasium ist bereit, so ein Experiment zu wagen. Abgänger von der Realschule gehen in die 11. Klasse eines Gymnasiums? Dafür gab es damals keinerlei Vorschriften. Der spätere Schulsenator Carl-Heinz Evers hat gesagt, als ich ihm mal die Story erzählt habe, er hätte dann glaube ich 1964 dafür gesorgt, so sechs Jahre später, dass es dazu formale Regelungen gibt. So und da weiß ich, dass mein Schulleiter da rumtelefoniert hat bei den Herren Schulleitern aller Spandauer Gymnasien – es waren glaube ich drei damals – und dann gab es in Siemensstadt – also ein bisschen weiter weg – ein Gymnasium, wo eine Frau die Schulleiterin war. Die Frau Dr. Miecha. Da habe ich dann mitgekriegt, dass es einen Spruch gab: »Naja, dann kann die Frau da ihre pädagogischen Künste zeigen.« So und dann war ich da in der Klasse drei Jahre lang wirklich die absolute Außenseiterin. Ich kam mit dem Fahrrad angeradelt und alle Mitschülerinnen und Mitschüler waren die »Siemens-Indianer-Kinder«, Töchter und Söhne von Siemens-Beschäftigten, die in Einfamilienhäusern wohnten und da ihre Feten gemacht haben. Da konnte ich nie mithalten, in der kleinen Zweizimmerwohnung meiner Eltern, wo wir zu fünft wohnten. Und die Mädchen in dem Alter hatten als wichtigeres Thema in den Pausen, wie sie sich schminken und wie sie sich kleiden und mit nix konnte ich mithalten. Aber ich wollte das Abi machen und ich wollte Lehrerin werden und da habe ich hart dran gearbeitet. Also das stand für mich fest. Das war sicherlich so die erste Hürde, sonst wäre ich Reisebürokaufmann geworden. Wäre dann jetzt vielleicht Leiterin irgendeines Reisebüros.

Geschlechterrollen

Das kann man sich heute auch nicht vorstellen. Reisebürokaufmann war Mitte der 50er Jahre ein reiner Männerberuf. Den hatte ich mir aber in den Kopf gesetzt, genauso meine Schwester, sie ist Technische Zeichnerin geworden. Sie war auch die erste Frau in diesem Beruf weit und breit. Beim Reisebürokaufmann wurde gesagt, dass Frauen mit den Zahlenkolonnen der Kursbücher nicht klarkommen. Es gab ja noch keine Computer. Man musste immer die ganzen Kursbücher wälzen. Da habe ich etwa ein halbes Jahr in einem großen DER-Reisebüro hier in Spandau nach der Schule gearbeitet, einerseits immer Prospekte gestempelt, nicht bezahlt, und immer wenn der Chef Zeit hatte, hat er mir irgendwelche Aufgaben gegeben. Ich soll die beste Zugverbindung von hier nach da raussuchen. Dann musste ich die Kursbücher lesen, musste ihm die Verbindungen sagen, musste gut aufpassen, ob es nun ein Sonntag war und ob dieser Zug auch sonntags fährt. Dann hat er mit mir eine richtige Prüfung gemacht. Ich habe einen Lehrvertrag bekommen. Inzwischen sind sowohl der Beruf der Technischen Zeichnerin wie der Beruf des Reisebürokaufmanns eigentlich abgewertete Berufe, die selten ein Mann macht. Ist ein Frauenberuf geworden, aber das war damals so.

Und du hast ja gesagt, dass dieser Umgang mit benachteiligten Kindern schon dann auch ein Schwerpunkt für dich war.

Immer, ja.

Und spielte das im Studium damals irgendwie eine Rolle?

Studium des
Lehramtes für Sekundarstufe I

Eigentlich nicht. Also ich sag mal im Studium habe ich mich am ehesten selber engagiert, in dem Bereich der Didaktik, damals schon Didaktik der Sekundarstufe I. Damals gab es die Spezialisierung an der PH, entweder du hast von vornherein studiert mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik, also dann so mit den Kleinen, oder Sekundarstufe I und das war ja in Berlin ab 7. Klasse. Und ich weiß gar nicht warum, also ich hatte von Anfang an gesagt, nee, mit den Kleinen will ich nichts zu tun haben. Und da gab es Angebote für Didaktik der Sekundarstufe I, da konnte man sich auch entscheiden, ob man nachher seine Praktika in einer Sekundarstufenschule machen will, das sogenannte Didaktikum, das war ein ganzes Semester, was jetzt wieder neu eingeführt werden soll. Das Didaktikum habe ich an einer Hauptschule gemacht und auch meine erste Lehrstelle habe ich 1964 an einer Hauptschule begonnen. – Es ist ja so ein Treppenwitz mit dem Thema »Integration der Pädagogischen Hochschule« in die Universitäten – Ende der 70er Jahre sind diese Reformen der 60er, seit Anfang der 70er Jahre alle wieder abgeschafft worden. Sowohl dieses stufenbezogene Didaktikum wie auch der Schwerpunkt der Ausbildung, Differenzierungsformen usw. Richtung Gesamtschule. Naja, also ich habe mich in Didaktikseminaren auch Fachdidaktik, Deutschdidaktik engagiert und in der Allgemeinen Pädagogik. Da waren damals einige interessante Leute, HochschullehrerInnen (z. B. Paul Heimann, Wolfgang Schulz). Ja, aber so das Thema Benachteiligung war im Studium überhaupt nicht drin.

Studierendenunruhen und ihr Einfluss auf die Schule

Das kam eigentlich auch erst mit den ersten Studierendenunruhen, nach 1968. Als ich Lehrerin in der Gesamtschule war, da war ich auch als Mentorin für Studierende zuständig. Das weiß ich noch ganz genau, als dann die erste Studentengruppe kam und fragte: »Wo sind denn hier die Arbeiterkinder?« Ich hatte eine Schülerin und einen Schüler, die mir Kopfschmerzen gemacht haben. Das eine war der Sohn eines Arbeiters, eine Familie mit sieben Kindern, die Mutter war Engländerin, zu Hause wurde nur englisch gesprochen. Dieser Junge, der Gregory, der musste zu Hause eigentlich immer auf die kleineren Geschwister aufpassen oder seine Mutter begleiten; der war sicherlich auch benachteiligt. Aber meiner Einschätzung nach ein hochintelligenter Junge.

Arbeit an der Gesamtschule

Und dann war in meiner Klasse die Tochter des Schulrates, der gleichzeitig mein Vorgesetzter war. Das hat mir dann das Leben sehr schwer gemacht. Das war ja die erste Gesamtschule, die ersten Klassen, die 1968 eröffnet wurden. Die Gesamtschule war ein politisches Thema der SPD. Dieser Schulrat und ein Stadtrat, die in der SPD für Gesamtschulen engagiert waren, kannten mich, weil ich in den Planungsgruppen war. Ich war 1967/68 auch abgeordnet ins Pädagogische Zentrum für diese Planung: Diese beiden Väter hatten da wohl einen guten Eindruck von mir bekommen und haben entschieden, dass ihre Töchter in meine Klasse sollten. Dass ich aber, ich sag mal nicht nur fleißig war und vielleicht nicht nur guten didaktisch geplanten Unterricht gemacht habe, sondern dann auch so komische Sachen gemacht habe wie Gruppenunterricht und alle bekommen dieselbe Zensur, das hat denen gar nicht gepasst. Und dann, ein bisschen später, als hier die ersten Studierenden kamen und auch die ersten Ausuferungen von Studierendenunruhen der Universitäten in die Schule geschwappt sind, da war eben das Bedenken sehr groß, dass diese Schülerinnen und Schüler einseitig politisch beeinflusst werden. Ich hatte eigentlich immer einen sehr guten Kontakt zu meinen Schülerinnen und Schülern, mit einigen bin ich bis heute befreundet und im engen Kontakt. Klar, die waren Jugendliche und fanden mich auch einfach schick. Ich war eine junge Lehrerin, damals rannte ich mit so hohen Stöckelschuhen rum und kurzem Kleid. Wenn dann manchmal die Mädchen irgendwelche Probleme hatten, dann habe ich die zu mir nach Hause zum Schwatz eingeladen. Dann saßen wir auf diesem Teppich im Kreis; und das war diesen beiden Vätern total ein Dorn im Auge.

Politischer Druck

Und ich habe dann rausgekriegt, dass die selber und über den Schulleiter versucht haben, auszuhorchen was ich da so mache. Ich hatte dann eine Klassenfahrt vorbereitet, bin Ostern sogar da gewesen, nach Kulmbach sollte es gehen. Ich habe Fotos gemacht, den SchülerInnen schon gezeigt, wo es hingeht. Nach den Sommerferien sollte die Reise sein. Dann kriegte ich vor den Sommerferien einen Brief, wegen der Gefahr der einseitigen politischen Beeinflussung während der Klassenfahrt dürfe ich die Klassenfahrt nicht begleiten.

Wechsel an die PH

Und kurz vorher hatte mich Wolfgang Schulz gefragt, der Professor für Pädagogik an der PH war, ob ich nicht als Lehrerin in den Hochschuldienst kommen will. Und da habe ich gesagt, nein, ich möchte wenigstens einmal bis zur 10. Klasse meine Klasse als Klassenlehrerin weiterführen. Ich war ja zwei Jahre Fachleiterin für Deutsch in der gerade aufbauenden Schule, das wollte ich nicht so nach zwei Jahren gleich abbrechen. Aber als ich den Brief gekriegt habe, da habe ich gesagt: »Nee.« Die hatten schon die anderen LehrerInnen eingeteilt, wer die Klasse begleiten sollte und ich sollte in der Zeit zu Hause bleiben. Und da kannst du wieder sagen, wenn ich diesen Brief nicht gekriegt hätte, dann wäre ich wohl auch nicht an die PH gegangen. Ich wollte das eigentlich nicht. Wenn ich da weiter ohne Widerstände hätte arbeiten können, wäre ich vermutlich irgendwann mal in absehbarer Zeit gerne Schulleiterin einer Gesamtschule geworden. So, aber nun war ich da an der PH.

Und der Kontakt zur Integrationspädagogik wann kam der?

Professur für
Didaktik der
Sekundarstufe

Der kam erst viel, viel später, erst 1989. Da kommt jetzt noch mal der nächste Schritt. Also ich war im Bereich Grundschulpädagogik Lehrerin im Hochschuldienst, so nannte sich das, bei dem Wolfgang Schulz an der PH und dann wurden neue Professuren ausgeschrieben für Didaktik Sekundarstufe I, weil geplant war, es war 1971/72, die Gesamtschulen auszubauen. Ich sag mal so, wie man heute an der Uni Potsdam zusätzliche Hochschullehrstellen schafft, weil man es ernst meint mit der Inklusion, dafür müssen wir die LehrerInnen ausbilden. Es war so ähnlich. Nun mussten wir LehrerInnen für Gesamtschulen ausbilden und es sind neue Professuren gebildet worden. Und da habe ich mich beworben. Da habe ich gedacht, dies ist genau das Richtige. Ich war nicht promoviert, ich hatte ein paar klitzekleine Sachen veröffentlicht. Es waren Rahmenbedingungen, damit würdest du heute nicht mal eine Stelle als wissenschaftliche/r MitarbeiterIn kriegen. Aber es war eben gefragt: Wer hat in diesem Bereich überhaupt Erfahrungen? LehrerInnen, die schon an Gesamtschulen unterrichtet hatten, gab es ja faktisch nicht. Und mit meinem einen Jahr in der Planung am Pädagogischen Zentrum da hatte ich auch ein bisschen was geschrieben. Es gab nur zwei LehrerInnen in Berlin für diese Planungen, einer für Britz-Buckow-Rudow und ich hier für Spandau. Da habe ich mich beworben und es war sicherlich so, dass ich da neben den anderen BewerberInnen gute Chancen gehabt hätte.

Geschlechterdiskriminierung an der PH

Das war dann der nächste große Zufall in meinem Leben, ich habe die Eingangsbestätigung für meine Bewerbung bekommen und dann habe ich nichts mehr gehört. Dann ruft mich eines Tages einer von den Studenten an, die bei mir an der Gesamtschule ein Praktikum gemacht hatten, und der sagte: »Du hattest doch gesagt, du hättest dich für die Stelle ›Didaktik der Sekundarstufe I‹ beworben?« Der war studentisches Mitglied im Akademischen Senat, der über diese Bewerbung zu entscheiden hatte. Da sagt er: »Wir haben das morgen auf der Tagesordnung. Da kommt dein Name überhaupt nicht vor, keine Bewerbungsunterlagen, kein gar nichts.« Also dann bin ich zu dem hin, habe alle meine Bewerbungsunterlagen, so einen kleinen Stapel an Veröffentlichungen, die Eingangsbestätigung für meine Bewerbung alles mitgenommen. Und er – Klaus Wiese – hat gleich eine Synopse gemacht im Vergleich zu demjenigen, der an erster Stelle von meinen Herren Kollegen auf die Berufungsliste gesetzt worden war. Also dies war so eine durchgängige Erfahrung von mir: Ich war mehr oder weniger zufällig irgendwo die erste Frau in einer Männerwelt. Im Reisebüro, im Pädagogischen Zentrum. Viel habe ich auch mitgekriegt von meiner Schwester, die als Technische Zeichnerin die einzige Frau unter männlichen Kollegen war. Meine Kollegen, das waren sieben Männer. Derjenige, der den Vorsitz in dieser Berufungskommission hatte und der das dann auch im Akademischen Senat vertrat, stand kurz vor seiner Pensionierung und hat wohl nicht im Traum damit gerechnet, dass so was auffliegen könnte, eine Bewerbung zu unterschlagen. Das war ja nun ein totaler Zufall, dass dieser Student, der als studentisches Mitglied im Akademischen Senat war, dass der mich kannte und dass wir uns zufällig auch getroffen haben und ich ihm erzählt habe, dass ich mich für diese Stelle beworben habe. Und das war dann ganz eindeutig, dass ich eigentlich in Bezug auf alle Punkte die besseren Voraussetzungen hatte. Dieser Student hat in der Senatssitzung praktisch so eine Bombe platzen lassen. Es war die Zeit, Herbst 1971, wo an den Berliner Hochschulen wirklich die studentischen Unruhen hochkochten. Wenn die Studentische Selbstverwaltung für irgendwelche Demos aufgerufen hat, da waren selbst an der Pädagogischen Hochschule in Lankwitz draußen alle auf den Beinen, Polizeieinsatz und sonst was. Kann man sich heute gar nicht vorstellen, muss man sich alte Filme angucken, um das nachvollziehen zu können. Jedenfalls hat Klaus Wiese gesagt: »Schaut euch diese Unterlagen an, daraus machen wir ein Politikum, wenn das nicht geändert wird.« Dann haben die in der Senatssitzung die Liste geändert, dass ich auf den ersten Platz kam. Ich weiß auch nicht, ob ich es noch einmal versucht hätte, wirklich. Den Studenten habe ich es eindeutig zu verdanken, dass ich die Professur bekommen habe. Klaus Wiese war damals schon Filmemacher, hat ein Lehrerstudium zur Sicherheit zusätzlich gemacht. In seinem Film »Schneeglöckchen blüh’n im September« habe ich eine Rolle als Lehrerin gespielt.

Gesamtschule

Die ganze Zeit – 60er und 70er Jahre – hatte ich Gesamtschule im Kopf. Ich wollte Gesamtschule entwickeln. Und ich habe damals die Lehrpläne von Hauptschule, Realschule, Gymnasium angeschaut und geplant, wie die für Gesamtschule vereinheitlicht werden können. Das war eine Zeit, wo die Hauptschulpflicht in Berlin nur neun Jahre war. Es gab einen Schulversuch, ein freiwilliges 10. Schuljahr. Dafür musste man die Schülerinnen und Schüler extra vorbereiten und die mussten einen bestimmten Zensurenschnitt erreichen, um dann nach der 8. Klasse zu Extraklassen zusammengeführt zu werden, um das freiwillige 10. Schuljahr zu machen.

Benachteiligte SchülerInnen

Die Hauptschule, an der ich unterrichtete, war unmittelbar neben einem großen Flüchtlingsheim. Die Familien dort kamen aus der DDR. Ein Stückchen weiter gab es die sogenannte »Mau-Mau-Siedlung«. Das war eine Wohnsiedlung, die zum Teil auch keine Wohnungstüren hatte, weil die Leute diese immer eingeschlagen haben. Dort wurden Leute hingeschickt, die ihre Miete nicht mehr bezahlen konnten. Diese Jugendlichen waren meine SchülerInnen, die waren mir wichtig.

Integration der PH in die Universitäten

Ja, das war also von 1972 bis 1980 an der PH. Da habe ich gearbeitet für die Ausbildung künftiger Lehrerinnen und Lehrer der Gesamtschulen. Dann hieß es: Auflösung der PH und Integration in die Universitäten. Es war die Frage, welche Leute gehen an die TU und welche gehen an die FU oder an die Hochschule der Künste? Da ist entschieden worden, dass die Sonderpädagogik an die FU geht, die vorher auch an der PH war. Aber mit denen hatte ich in meiner PH-Zeit oder auch als Lehrerin nie was zu tun.

Gesamtschulbewegung und die Dimension Behinderung

Nicht allzu weit weg von meiner Hauptschule, wo ich unterrichtet habe, gab es das Johannis-Stift. Dass dort auch eine Heimsonderschule für körperbehinderte Kinder ist, das wusste ich damals überhaupt nicht, war nie Thema. Und in der gesamten Planungszeit für Gesamtschulen waren Kinder mit Behinderungen nie das Thema. Der Erste, der das Thema aufgegriffen hat, war dann Ulf Preuss-Lausitz mit seiner Promotion Fördern ohne Sonderschule. Aber der hatte auch nur Kinder mit Lernbehinderung im Kopf. In diesen damaligen Planungsphasen haben alle gesagt: »Nee, Leute lasst mal die Finger davon. Hauptschule, Realschule, Gymnasium zusammen zu unterrichten, das ist schon fast unmöglich. Wenn wir jetzt noch von Kindern mit Lernschwierigkeiten reden, nee nee, dann kriegen wir das politisch nie durch.« Und das war ja zu einer Zeit auch »Hoch-Zeit des kalten Krieges«. Nach außen hin stellte sich die DDR-Schule ja so dar, dass dort die Schule für alle war. Deswegen mussten damals die Gesamtschulen demokratische Leistungsschule heißen. Politisch argumentiert wurde gegen die Gesamtschulen: »Wenn ihr hier so was wollt, so was Ähnliches, wenn euch das hier nicht passt, das Schulsystem, dann geht doch gleich rüber.« Aber Integration von Kindern mit Behinderung war in der Planungsphase der Gesamtschulen, Mitte der 70er Jahre, kein Thema absolut nicht und ich hatte auch selber nichts damit zu tun.

Abschaffung des Arbeitsgebietes und Neuorientierung

Und dann sind es wieder zwei Zufälle, dass ich mich doch damit beschäftigt habe. Die eine Sache: Dieses Lehrgebiet »Didaktik der Sekundarstufe I« wurde mit der Auflösung der PH einfach abgeschafft. Ich hatte keine Lehrveranstaltungen mehr. So ein oder zwei Semester waren noch eine Übergangszeit, aber ich war ordentlich berufen. Einige wenige StudentInnen brauchten noch Seminare. Es hat sich wirklich kein Mensch darum gekümmert, was mit diesen Professuren »Didaktik der Sekundarstufe I« wird, die alle an die TU gegangen sind und die sich alle unterschiedlich orientiert haben.

War Ulf auch mit dabei?

Ja, aber der war ja nicht in der Didaktik, der hatte ja eine Stelle an der PH schon in der Erziehungswissenschaft: Allgemeine Erziehungswissenschaft, Allgemeine Pädagogik. Mit Sonderpädagogik hatte er auch nichts am Hut. Ja, und dann kam noch dazu, dass ich 1976 und 1978 meine Kinder bekommen habe. Mit Tagesmutter und meinen Eltern war ich so organisiert, dass ich weiter voll berufstätig war. Also es war Sommer 1980, meine Hochschullehrstelle war nichts mehr wert, mein Mann hatte sich 1979 von mir getrennt, ich musste sehen, wie ich alleine mit den Kindern klarkomme, die ich vorher in so einer Links-Alternativen-Eltern-Initiativ-Kita hatte. Da mussten die Eltern selber putzen und kochen und haben sich einmal in der Woche gestritten, ob es Sternchennudeln oder gesundes Gemüse gibt, war alles nicht mehr drin. Ich musste sehen, dass ich die Kinder in der normalen Kita dann untergebracht habe, kam alles zusammen.

Italien: Inspiration aus Italien durch Ludwig-Otto Roser

Und da habe ich etwas gemacht, was ich eigentlich die zehn Jahre vorher an der PH-Zeit oder auch die vier Jahre vorher oder fünf oder sechs Jahre als Lehrerin nie konnte. Ich habe mich ab und zu mal ganz ruhig in die Bücherei gesetzt und mir die neuesten Zeitschriftenveröffentlichungen angeschaut. Nichts richtig gesucht, aber ich habe gedacht: »Na okay, mal schauen, was mich interessiert.« Und da war wieder so ein Auslöser, dieser Aufsatz von Ludwig-Otto Roser in der Zeitschrift Päd. Extra, Heft 3/1981: »Wo es keine Behinderungen mehr gibt: Schule ohne Aussonderung in Italien«. Ich habe diesen Aufsatz gelesen und dachte: »Das kann nicht wahr sein. Wir kommen hier überhaupt nicht voran mit der Zusammenführung von Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien.« Dies ging einfach nicht voran, der politische Widerstand war, wie sonst was, heftig. Und die schaffen in Italien die Sonderschulen ab. Das Gesetz war ja da schon seit 1976 gültig. Und da habe ich gesagt, Papier ist geduldig, aber ich war neugierig und habe Ludwig-Otto Roser zu einem Vortrag eingeladen. Das war noch in den Räumen der PH, eigentlich waren wir schon TU, aber das Gebäude in der Franklinstraße war noch nicht fertig, kann ich mich noch genau erinnern. Und dann hat Ludwig-Otto Roser seinen Vortrag gehalten. Das hat sicherlich auch zur Wirkung für mich beigetragen und für alle diejenigen, die dazugehört haben.

Italien:
Praxisbeispiele

Es gibt die Monika Aly, ich weiß nicht ob du von der was gelesen hast? Das ist eine Krankengymnastin hier aus Berlin. Eine Krankengymnastin, die sich spezialisiert hat und bis heute immer noch engagiert tätig ist in der guten Förderung von Kindern mit einer spastischen Behinderung. Sie hatte vorher ein Jahr ein Praktikum in Florenz gemacht, im Ambulatorium von Adriano Milani-Comparetti. Er war in Florenz der Arzt, der dort in Italien im Wesentlichen dieses Thema Integration von Kindern mit Behinderung voran gebracht hat. Monika Aly kam da gerade frisch von diesem Praktikum zurück. Dieser Raum, in dem der Vortrag stattfand, war knacke voll. Sie kam dann rein mit einem Schäferhund. Es war damals noch üblich, während Lehrveranstaltungen zu rauchen, auch ich habe vorne gesessen und geraucht. Manchmal musstest du in so einen Raum reingehen und erst mal nach Luft schnappen und es war durchaus üblich, Hunde mitzunehmen, Kinder mitzunehmen, zu stricken, so. Und dann gab es also den Vortrag von Ludwig-Otto Roser. Er war sehr beeindruckend. Und es gab ganz viel Widerstand. Da waren dann auch die SonderpädagogInnen, die damals noch in der PH waren, und wollten Ludwig-Otto Roser klein machen: »Das sei doch alles irgendwie gesponnen, dass man Sonderschulen auflösen kann und es muss doch immer noch einen Rest geben.« Und Monika Aly platzte: »Ich war jetzt ein Jahr da und ich habe es mir angesehen und ich kann das vergleichen und ich weiß, wie es den Kindern hier geht, die ich in der Therapie habe, wenn die nicht in die Schule um die Ecke gehen dürfen, wie die Geschwisterkinder[…]« und so.

Italien:
Hospitationen

Naja, ich habe also dann geglaubt, was ich erst gelesen habe. Nach dem Vortrag habe ich zu Ludwig-Otto Roser gesagt: Ich möchte mir das vor Ort mal anschauen, ob er mich unterstützen könnte, dass ich da auch mal hospitieren kann. Er sagte, ja – ich muss nur Italienisch lernen. Also es hat überhaupt keinen Sinn da in irgendwelche Schulen zu gehen. Die LehrerInnen können kein Deutsch und in der Regel auch kein Englisch. Jahre später hat er mir gesagt, dass er damit die meisten Leute abgewimmelt hat. Ich hatte dann noch das Zusatzproblem, dass ich alleine mit zwei kleinen Kindern war und ein Quartier brauchte. Na, dann habe ich etwa zwei Jahre lang in verschiedenster Art und Weise italienisch gelernt, überall gefragt ob nicht jemand jemanden kennt, der in der Nähe von Florenz ein Haus zu vermieten hat. Das habe ich tatsächlich gefunden.

Italien: Exkursionen mit Studierenden

Dann habe ich in Seminaren gefragt, welche StudentInnen mitkommen wollen, damit wir uns das teilen: Kinderbetreuung und in die Schulen gehen. Da sind auch fünf StudentInnen mitgekommen, zwei von denen waren nachher die ersten, die hier in Berlin als RegelpädagogInnen an einer Regelschule in einer Integrationsklasse ihr Referendariat machen durften, hart erkämpft, in der Rothenburg-Grundschule war das. Ich bin mit den zwei Kindern, mit fünf StudentInnen, mit Fahrrad, mit der Bahn nach Florenz gefahren. Es gab noch kein Internet, es gab keine Handys, man konnte ungefähr schauen, wie weit das Haus vom Bahnhof entfernt ist. Das Haus haben wir gefunden. Zum Erstaunen der LehrerInnen, die ich dann da kennengelernt habe, bin ich zum Teil mit den Kindern auf Kindersitzen in die Schulen gefahren, und zum Teil sind die Kinder im Haus bei den StudentInnen geblieben, sechs Wochen lang. Mit einigen dieser LehrerInnen bin ich bis heute befreundet. Von dem Haus war es eine Stunde Busfahrt bis in die Stadt, der Bus fuhr so etwa vier mal am Tag und um zu der Bushaltestelle zu kommen, musste man noch etwa eine halbe Stunde mit dem Fahrrad fahren, die Berge hoch und runter. Dann waren wir da und dann kommt der nächste große Zufall. Ich hatte diese Exkursion vorbereitet über Ludwig-Otto Roser. Wir hatten von Berlin aus einen Termin für ein erstes Gespräch gemacht. Briefe haben damals entweder drei Tage oder drei Wochen gedauert. Man wusste bloß vorher nie, wie lange. Es gab kein E-Mail, kein Fax, kein Handy und auch keine Anrufbeantworter. Das Ferienhaus gehörte einer Frau, die ziemlich viel von ihrem eigenen Wein getrunken hat. Das Haus war groß genug für fünf StudentInnen. Das Haus war nicht zu heizen oder nur mühsam, nur wenige Räume, das war im Frühjahr manchmal ziemlich kalt. Dann hatte ich also mit Ludwig-Otto Roser einen Termin gemacht. Die Kinder habe ich bei den StudentInnen gelassen und bin mit meinem damaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter zusammen mit dem Fahrrad zur Bushaltestelle gefahren, um dann mit dem Bus in die Stadt zu fahren. Da haben wir gerade noch die Rücklichter von dem Bus gesehen. So haben wir Autostopp gemacht. Da kam, ein glücklicher Zufall, die Vermieterin von unserem Haus. Sie fragte, warum ich überhaupt da bin, was ich denn da vorhabe? Mit meinem mühsam erworbenen Italienisch, was ich vorher zweimal schon im Urlaub angewandt hatte, mit Wörterbuch, habe ich ihr klargemacht, welches Interesse ich habe. Sagte sie: »Ach wissen Sie, wenn das Ihr Interesse ist, da lade ich mal den Milani-Comparetti zum Kaffeetrinken ein.« Milani-Comparetti war dort der unmittelbare Nachbar. Mit Ludwig-Otto Roser hatte ich ein schön vorbereitetes Interview. Er war ja Deutsch-Italiener, konnte gut Deutsch, war dann kein Problem. Ich habe ihn über das italienische Schulsystem und Integration in Italien und die Reformen in Italien ausgefragt. Er hat mir die ersten Adressen von Schulen genannt, wo ich hospitieren konnte. Am Ende des Interviews sagte er: »Wenn Sie noch mehr wissen wollen, auch wie das so in den Anfängen war, dann verschaffe ich Ihnen auch einen Termin bei Milani-Comparetti.« Und da habe ich ihm erzählt, wo wir wohnen, er sagte: »Ach so, na dann ist ja klar und so.« Gut, und dann hat die Señorita gleich für den nächsten Sonntag zum Kaffeetrinken eingeladen und der Milani-Comparetti konnte auch sehr gut Deutsch. Der kam aus einer reichen jüdischen Familie und hatte immer deutsche Kindermädchen, hat er mir erzählt.

Kontakt zu
Milani-Comparetti

Ja, und dann haben wir bei der Señora Kaffee getrunken. Milani-Comparetti hat sich mehr mit den Kindern beschäftigt als mit mir. Wir haben ein bisschen über Garten, Kinder und sonst was beim Kaffee trinken geplaudert, so als Nachbarn. Zum Schluss habe ich dann gesagt, dass ich auch so ein bisschen aus fachlichem Interesse hier bin und darüber würde ich mich auch gerne mal mit ihm unterhalten. Und da sagte er: »Aber nicht hier. Da machen wir einen Termin im Ambulatorium. Hier können sie jederzeit vorbeikommen, ja, aber dann geht es nur um Pflanzen und Kinder.« Und so war ich da regelmäßig und meine Kinder liebten ihn. Aber ich habe auch offizielle Termine mit ihm gemacht. Milani-Comparetti ist leider 1986 relativ früh verstorben. Ich habe alle seine Schriften gelesen und über ihn und über seine Arbeit etwas veröffentlicht.

Scuola di Barbiana

Das war ein Bruderpaar: Don Lorenzo Milani, ein katholischer Priester, der sich in Italien in den 60er Jahren vor allem mit benachteiligten Kindern beschäftigt hat. Dieses Buch »Brief an eine Lehrerin« ist eine Anklage an das selektive Schulsystem in Italien, das es in den 60er Jahren gab. Da gab es eine riesige Lehrerbewegung, auch gerade engagierte katholische Priester haben versucht, die italienische Schule zu reformieren, dass möglichst mehr als 40 % der SchülerInnen auch wirklich mehr als fünf Jahre Unterricht bekommen. Anfang der 60er Jahre war das ein ganz großes Problem. Und Don Lorenzo Milani hat dadurch auch viele Probleme mit seiner eigenen katholischen Kirche bekommen. Der ist strafversetzt worden nach Barbiana, einem kleinen Bergdorf im Appenin. Wenn du mal nach Italien kommst und mit LehrerInnen dort sprichst: Die Scuola di Barbiana ist die italienische Reform, um für benachteiligte Jugendliche wirklich eine Schulbildung zu bekommen. Und parallel dazu ist von ganz anderen Gruppen eine Bewegung ausgegangen, zum Beispiel von ÄrztInnen zur Auflösung der Sonderschulen und da war eben Adreano Milani-Comparetti dabei. Das waren die VorkämpferInnen, parallel zur Psychiatriereform. Auflösung von Sonderinstitutionen, Auflösung der Sonderschulen und konsequente Integration in die Regelschulen.

Integration als Aufgabe

Ja, dies habe ich gründlich auf diese Art und Weise kennengelernt, hatte dann danach auch noch mehr Hospitationen, Exkursionen organisiert über die GEW. Ich habe mir da richtig vorgenommen, dass ich mit meiner Arbeit jetzt versuchen will, dazu beizutragen, dass auch hier bei uns in Deutschland Kinder mit Behinderung eine Regelschule besuchen können. Und das sicherlich auch aufgrund meiner Erfahrungen in einer Gesamtschule, wie da mit einem Schulversuch umgegangen wurde, hatte ich eine abgrundtiefe Abneigung gegen alles was sich Schulversuch nennt. Ich sage immer, Schulversuche sind in Deutschland das raffinierteste Mittel, um von wahren strukturellen Veränderungen abzulenken. Dass strukturelle Veränderungen notwendig sind und möglich sind, habe ich in Italien gesehen.

Italien:
Gewerkschaften

Aber ich weiß auch, welche anderen Bedingungen die in Italien in den 60er und 70er Jahren hatten, unter anderem eine völlig andere Gewerkschaftsorganisation. Die politisch orientierten Gewerkschaften haben das durchgesetzt, dass zum Beispiel die Klassenfrequenzen gesenkt werden, aber nicht, dass die Lehrergehälter erhöht werden. Und dann habe ich hier in Berlin überlegt, wie ich mich hier engagieren kann. Das ging eigentlich los, indem ich Kontakt aufgenommen habe hier zu der Behindertenfürsorge Spandau. Es war damals schon ein sehr engagiertes Team, die schon Anfang der 80er Jahre was im Kindergartenbereich gemacht haben.

Modellversuch
im Kindergarten

Also es war die Zeit, wo es die ersten Modellversuche gab, Kindergarten Adalbertstraße, Kinderhaus Friedenau, auch hier in Spandau gab es einen Modellkindergarten. Damals war Hanna Renate Laurien von der CDU Schulsenatorin, sie war auch für die Kindergärten zuständig. Es gab hier in Berlin drei Modellkindergärten und es gab weitere Eltern, die auch so ähnlich wie im Kinderhaus Friedenau wollten, dass ihre behinderten Kinder in Regelkindergärten gehen können. Das ist nicht genehmigt worden, weil angeblich erst die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung ausgewertet werden müssen. Eine Leiterin von der damaligen Kita Adalbertstraße hat es auf die eigene Kappe genommen, die guten Ergebnisse vorweg zu veröffentlichen und hat dafür ein Disziplinarverfahren bekommen, weil sie das nicht durfte, ja, das waren so die Zeiten.

Einzelfallhilfe in Schulen zur
Einzelintegration

Und ich habe über die Behindertenfürsorge Spandau Kontakt zu einzelnen Eltern von einzelnen Kindern mit Behinderungen bekommen, am Anfang körperbehinderte Kinder, in einem Fall auch ein schwer mehrfach körperbehindertes Kind, was damals in einem Krankenhaus Einzelunterricht hatte, da es selbst an einer Körperbehindertenschule als nicht beschulbar galt. Auf Bitten der Mutter habe ich es dann geschafft, dass sie in dieselbe Klasse kam wie meine eine Tochter. Und das ganze Team, aber allen voran Margot Krischok von der Behindertenfürsorge, die haben von ihrer Seite aus das unterstützt. Da kamen wir gemeinsam auf die Idee, dass man das Thema Einzelfallhilfe in die Schule verlagern könnte. Damals war das so, dass Eltern den Anspruch hatten, für eine bestimmte Stundenanzahl zu Hause entlastet zu werden, wenn sie ein Kind mit Behinderung hatten. Nur für die Eltern zu Hause, Anfang der 80er Jahre. Niemals ist da eine zusätzliche Person mit einem behinderten Kind in die Regelschule gegangen. Und die MitarbeiterInnen der Behindertenfürsorge haben Verträge entworfen, dass die Eltern dieses Anrecht in die Schule verlagern können. Und damals waren also die Eltern die Auftraggeber, das ging nur über ein Honorar. Das war auch die Zeit, als sich die Vereine »Eltern beraten Eltern« und »Eltern für Integration« zusammengeschlossen hatten. Es gab etliche engagierte Sozialarbeiter, Sozialarbeiterinnen in den Bezirksämtern von West-Berlin, sehr unterschiedlich. Die Mauer stand noch in Berlin – zu Ost-Berlin gab es keine Kontakte. Spandau war Vorreiter, Reinickendorf hat viel gemacht, aber es gab auch andere Bezirke, wo dies nicht lief. Dann brauchte ich die Genehmigung des zuständigen Schulrates, damit diese Einzelfallhelfer dann auch wirklich in die Schule gehen dürfen. Und dafür war dann in Spandau wieder Herr Virian zuständig, der Jahre vorher dafür gesorgt hatte, dass ich die Klasse seiner Tochter bei der Klassenfahrt nicht begleiten durfte. Inzwischen war seine Tochter selbst fertig mit dem Medizinstudium. Aber ich kam um Herrn Virian nicht herum. Da habe ich eine Tischvorlage gemacht, habe die Einzelintegration in der Sekundarstufe im Bezirk Spandau beschrieben und was man da auch wissenschaftlich untersuchen könnte. Ich brauchte die Genehmigung des zuständigen Schulrates. Und da schaute er sich das an und sagte: »Frau Schöler, ich habe ja schon lange die Erfahrung mit Ihnen gemacht, was sie sich in den Kopf gesetzt haben, das setzen sie durch, hat ja wohl keinen Sinn, dass ich mich hier noch wehre.« Da hat er einen Brief an die beteiligten Schulen aufgesetzt, man möge mich unterstützen.

Beratung von Grundschulen zur Einzelintegration

Dann habe ich Anfang der 80er Jahre angefangen, Seminare anzubieten, die ich »Schulorganisation« genannt habe. Wie Schule hier organisiert ist und wie sie in anderen Ländern organisiert ist. Es waren nur wenige Studenten, die da hingekommen sind und da habe ich viel Zeit in der Beratung von Schulen und von LehrerInnen für diese Einzelintegrationsmaßnahmen verbracht. Dann entstand so nach und nach auch der Kontakt zu den KollegInnen der Fläming-Grundschule, aber in der Sekundarstufe war das Thema damals noch nicht angekommen.

Erfahrungen
aus der Kita des eigenen Kindes

Und dann gibt es noch eine Parallele für mein Interesse am Thema Kinder mit Behinderung. Meine ältere Tochter ist 1976 geboren, die war die ersten zwei Jahre in einer Elterninitiativkita. Dort war eine Erzieherin tätig, die vorher im Johannesstift mit den behinderten Kindern gearbeitet hatte. Und die hat einmal im Monat die Gruppe der behinderten Kinder in unsere schöne Einrichtung gebracht. Das war so eine große Laube in einem großen Laubengelände. Da kam dann eine Gruppe von acht bis zehn Kindern mit Behinderung, die sonst immer nur irgendwo weit weg im Wald waren. Da habe ich selber beobachtet, wie problemlos die behinderten und nichtbehinderten Kinder miteinander umgegangen sind. Und gleichzeitig, da war ja nun immer Elterndienst und Kochdienst, dass dann immer die Diskussion unter den Erwachsenen war: »Die Christa hat wieder die Behinderten eingeladen.« Und dann ging das Geschiebe los. »Wer hat denn an dem Tag Dienst?« Da habe ich festgestellt: Mir macht das nichts aus, an so einem Tag Dienst zu haben. Und ich habe die mit Interesse beobachtet, wie die Kinder da so miteinander gespielt haben. Also dies kam für mich so parallel genau zur selben Zeit, Italien und Kindergarten der Tochter. Das hat mich sicherlich auch beflügelt in dem Gebiet weiter zu machen. Du hast ja deine Frage von der Theorie her gestellt, welches meine Bezüge zur Praxis sind. Meine Motivation geht von der Praxis aus, total und ich habe mich nur mühsam Theorien angenähert. Manches, was ich dann versucht habe, dass musste ich ja wohl lesen, weil ich das vielleicht auch den StudentInnen dann empfehle.

Und gibt es Leute, wo du sagst, die waren besonders wichtig als MitstreiterInnen?

Lokale Netzwerke mit der Behindertenfürsorge und LehrerInnen

Noch mal hier für die Arbeit in West-Berlin eigentlich wirklich im Wesentlichen diese KollegInnen von der Behindertenfürsorge, die waren damals ein richtiges Team und haben richtig gut gearbeitet. Haben sich da auch gegenüber anderen Bezirken unbeliebt gemacht. Es war damals wirklich so, das hat sich unter betroffenen Eltern rumgesprochen. Da sind etliche Eltern deswegen von sonst woher nach Spandau umgezogen, weil sie wussten, hier werden sie unterstützt. Dann habe ich darüber relativ früh auch Kontakt mit Ulla Widmer-Rockstroh gehabt. Die gehörte damals zu einem Team von LehrerInnen hier in der Christian-Morgenstern-Grundschule im Falkenhagener Feld. Das war auch eine Grundschule, wo damals schon viele benachteiligte Kinder waren. Ein engagiertes Lehrerteam wollte auch, so wie die Fläming-Grundschule oder dann später die Uckermark-Grundschule auch, Integrationsmodellschule werden. Damals hat aber die SPD von dem Thema nicht allzu viel gehalten. Es war hier in Spandau ein SPD-Stadtrat und für dieses Gebiet auch der SPD nahestehende Schulräte, die vor der einseitigen politischen Beeinflussung Angst hatten. Die haben das Team der LehrerInnen der Christian-Morgenstern-Schule kaputt gemacht. Acht LehrerInnen haben ein Disziplinarverfahren bekommen. Von etwa 45 LehrerInnen sind 20 verteilt worden an andere Schulen. Vorgeworfen wurde ihnen, dass sie andere Formen der Leistungsbewertung erprobt haben. Die haben den SchülerInnen neben den Ziffern-Zensuren Wortzeugnisse gegeben ohne die Obrigkeit zu fragen. An einem Freitag vor der Vergabe der Zeugnisse haben acht von denen erfahren, dass sie ab Montag Hausverbot haben. Also so was kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Also gerade Ulla Widmer-Rockstroh, die war auch eine wirkliche Kämpferin. Sie ist danach an die Uckermark-Schule gegangen. Also mit diesen LehrerInnen habe ich viel gemacht.

Kooperation mit KollegInnen vor Ort

Dann an der TU hat sich das so nach und nach entwickelt, dass es eine zwiespältige Kooperation zwischen Ulf und mir gab. Wir waren uns nicht so besonders grün, vor allem aus den Gesamtschulerfahrungen. Da gab es nämlich Situationen, wir hatten da als Lehrerinnen und Lehrer zum Beispiel auch, den Kampf mit den ersten Drogenerfahrungen. Dann wurde eine Konferenz angesetzt, ob ein Jugendlicher, den sie da als Dealer erwischt haben, ob er der Schule verwiesen wird oder nicht. Und dann gab es eine Spaltung im Kollegium, die einen, die gesagt haben: »Wir können ihn nicht einfach wegschicken und was ist dann?« Vor allem weil sich kein Mensch darum gekümmert hätte, wo er denn dann hinkommt, einfach nur weg. Und die anderen, die gesagt haben: »Dies ist nicht unsere Aufgabe.«

Rolle der
wissenschaftlichen Begleitung

Und da habe ich Ulf mal angerufen, da er ja wissenschaftliche Begleitung war, und habe ihm gesagt, wann diese Konferenz ist und dass der damalige Schulleiter, Herr Dr. Verdenhalven, doch immer so darauf schielt, was die wissenschaftliche Begleitung sagt. Und da hat sich Herr Preuss-Lausitz, wir haben uns damals noch distanziert gesiezt, bei mir bedankt, dass ich ihn darüber informiert habe, dass das so läuft. Dann kommt er auf keinen Fall, denn das wäre ja eine mögliche Beeinflussung seiner Tätigkeit als objektiver wissenschaftlicher Begleiter. Der Jugendliche wurde der Schule verwiesen.

Lesbarkeit von
Veröffentlichungen

Dann hatte ich damals auch Schwierigkeiten am Anfang mit seiner Art zu schreiben. Das war meiner Einschätzung nach immer sehr abgehoben und sehr Fremdwörter gespickt und wenig wirklich praxisbezogen. Aber es ging so los, dass er wohl doch auf mein Urteil ein bisschen gehört hat und mir auch häufiger Texte gegeben hat, die ich anschauen sollte, bevor er sie veröffentlicht hat und sich dann auch auf Kritik eingelassen hat. Und so haben wir uns dann nach und nach angenähert. Es ist schon eindeutig, dass er eher was mit Zahlen und Fakten macht, ich bin ja ganz froh, dass er das macht und ich begreife meine Arbeit dann eher als eine qualitative Sache.

Teamarbeit für das Land Brandenburg

Dann bin ich noch mit Peter Heyer auch immer sehr gut klargekommen. Den kannte ich auch schon aus den Zeiten am Pädagogischen Zentrum. Und die Art und Weise, wie er gearbeitet hat, was er wollte, war immer gut. Wir haben dann nach dem Fall der Mauer in Brandenburg zusammen gearbeitet. Bei der wissenschaftlichen Begleitung der Einführung von Integration im Land Brandenburg waren wir drei glaube ich ein ganz gutes Team. Das war ja dann aber Anfang der 90er Jahre.

Einzelkampf für Einzelintegration

Also in den 80er Jahren war das wirklich Einzelkampf für Einzelintegration. Ich bin dann auch zum Beispiel einmal zu einer Lehrerkonferenz in die Fläming-Schule geladen worden, quasi vorgeladen. Man warf mir vor, dass ich mit meinem Engagement für Einzelintegration ja die guten Rahmenbedingungen für Schulversuche wie in der Fläming-Schule kaputt mache. Das ist wirklich die Kontroverse und das bis heute.

Schwerpunktschulen als Irrweg

Heute dafür zu sein, dass es Schwerpunktschulen gibt, das halte ich wirklich für absolut falsch, gerade für die relativ seltenen Behinderungen. Ich habe mal eine empirische Erhebung gemacht hier für Spandau. Ich konnte alle Akten der Behindertenfürsorge Spandau mithilfe einer Tutorin auswerten. Da konnte ich die Kinder mit den unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkten jeweils ihren Wohngebieten zuordnen. Da wurden pro Jahr zwei hochgradig hörgeschädigte Kinder eingeschult – das eine irgendwo im Süden, das andere im Norden. Und ich bleibe dabei: Für Kinder ist die wichtigste Ressource ihrer Entwicklung der Kontakt zu anderen gleichaltrigen Kindern. Im Kindergartenalter ist es inzwischen überhaupt kein Thema mehr. Als ich mit dem Thema mal angefangen habe, hieß es: »Kindergarten könne man sich noch vorstellen, aber Schule […].« Aber damals gab es hier auch in Spandau einen großen Sonderkindergarten für körperbehinderte Kinder und die meisten Sonderschulen hatten eigene Vorklassen. Ich denke, das ist im Kindergartenalter überwunden und in der Grundschule geht es noch und ich sage in der Sekundarstufe ist es nur vertretbar, wenn diese Kinder denselben Schulweg, dieselben Entfernungen haben wie Nachbar- oder Geschwisterkinder und nicht irgendwo hinfahren müssen. Das finde ich total falsch bis heute.

Und was sind aus deiner Sicht die größten Herausforderungen für den Bereich integrative Pädagogik? Sowohl aus deiner persönlichen Sicht als auch allgemein.

Kooperation als Herausforderung

Dass LehrerInnen wirklich Kooperation lernen müssen. LehrerInnen müssen kooperationsfähig werden. Die allermeisten LehrerInnen sind nicht beruflich für Kooperation sozialisiert. Man kann manchmal auch den Verdacht haben, dass Leute sich für diesen Beruf entscheiden, weil sie denken, dann habe ich nicht so viel Auseinandersetzungen mit anderen im selben Ausbildungsniveau. Ich habe nun wirklich viele Schulen beraten. Ich kann verallgemeinern: Da, wo es gut geht, da gelingt die Kooperation. Und da, wo es immer wieder knirscht, wird dies meistens an den Kindern festgemacht. Die Kinder müssen raus. Aber wenn man genau hinschaut, dann sind es Rivalitäten zwischen den LehrerInnen. Dann kriegen die das nicht hin, dass es verbindliche Absprachen gibt.

Best-Practice-Beispiele

Ein positives Beispiel ist eine der Preisträgerschulen für den Jakob-Muth-Preis. Die Gemeinschaftsgrundschule Wolperath-Schönau. Das Kollegium hat gemeinsam die Entscheidung getroffen, sie sind täglich von 7.30 Uhr bis 16.30 Uhr alle in der Schule. Und in der Zeit wird alles an Kooperation organisiert. Aber wenn sie dann um 16.30 Uhr nach Hause gehen, dann haben sie auch Feierabend. Dann haben die LehrerInnen auch am Wochenende nicht noch alles Mögliche für die Schule zu tun. Und daran hakt es immer wieder, auch wenn Kooperationen mit Außenstehenden nötig wären. Es wäre so gut, wenn man für die Kinder, die unbedingt Therapien brauchen, das auch mit der Schule koordinieren könnte. Es wäre gut, wenn die sich einigen könnten, vielleicht mit den Eltern und mit dem Kind selber klären, in welchen Stunden es am sinnvollsten ist, dass die Therapeutin/der Therapeut in die Klasse kommt und nicht das Kind einzeln raus nimmt. Diese Frage der Kooperation ist das Wichtigste.

Bandbreite
verhindert syndromspezifische Rezepte

Wenn du in die Lehrerbildung gehst, das ist meine Empfehlung: Die spezifischen, behinderungsspezifischen Fragen, die sollte man sich in dem Moment aneignen, wo das Kind vor der Tür steht. Jedes Kind mit Down-Syndrom oder jedes Kind mit Autismus ist anders.

Teamarbeit
auf Augenhöhe

Aber die künftigen Lehrerinnen und Lehrer müssen schon während des Studiums das Bewusstsein in die Köpfe kriegen: Ich muss im Team arbeiten und ich muss mich im Team absprechen mit Leuten, die auf demselben Niveau sind. Es geht nicht um Hierarchien. Kooperationsfähigkeit ist die »Gelingensbedingung von Inklusion«, das ist das A und O.

Und gibt es Erkenntnisse aus den letzten Jahrzehnten, auch aus der Zeit der Modellversuche, wo du sagst, dass sollte auf keinen Fall in Vergessenheit geraten? Oft kann man ja jetzt den Eindruck erhalten, Inklusion sei ja jetzt was total Neues. Wir wissen gar nichts. Die Generation von euch ist jetzt auch geschlossen in den Ruhestand gegangen und jetzt stehen alle so da und denken, was machen wir jetzt.

Freiwilligkeit der
beteiligten Lehrkräfte als Besonderheit der Modellversuche

Naja, ich denke, wenn man die Anfänge vergleicht mit jetzt, dann ist der eine fundamentale Unterschied, dass diejenigen, die damit angefangen haben, das ja auch selber alle machen wollten, zum großen Teil aus einem inneren Engagement. Wenn an einer Schule die Frage war, welcher Lehrer/welche Lehrerin macht das, zumindest am Anfang, war das ja immer unter dem Vorzeichen der Freiwilligkeit. Zum Beispiel das Fichtenberg-Gymnasium in Berlin-West. Bevor dort Anfang der 80er Jahre die erste blinde Schülerin aufgenommen wurde, wurde im Kollegium darüber abgestimmt. Die Lehrer, die dann tatsächlich den Unterricht übernommen haben, haben es doch freiwillig gemacht. Wenn Vertretungsunterricht anstand und es hätte jemand in die Klasse gemusst, der nicht dafür gestimmt hat, dann musste die Mutter früh um 8.00 Uhr telefonisch erreichbar sein um ihre Tochter nach Hause zu holen; dies zu einer Zeit, als es noch kein Handy gab. Also diese Freiwilligkeit betraf ja dann doch eine Minderheit von LehrerInnen. Bei Inklusion ist im Vergleich dazu der fundamentale Unterschied, dass die Institution sich darauf vorbereiten muss und dass alle gefragt sind und keiner Nein sagen kann, sondern da kommt zum Beispiel ein Mädchen nach zwei Jahren Krankenhausaufenthalt wieder in die Schule. Da darf niemand Nein sagen. Und dann müsste allen LehrerInnen bewusst sein, ist vielen aber glaube ich leider nicht: In Deutschland gilt das Grundgesetz. Die Gesetze gelten, die von Bundesrat und Bundestag verabschiedet wurden. Dann müssen sie das machen, auch wenn sie es nicht wollen. Es gibt ja auch LehrerInnen, die den nichtbehinderten Kindern nicht gut tun. Also dieses grundsätzlich Andere, dass es nicht mehr freiwillig ist und es in die Breite geht. Dann müssen sich auch diejenigen mit dem Thema beschäftigen, die sich vor 30 Jahren nicht damit beschäftigt hätten. Das ist der fundamentale Unterschied. Und ich glaube, dass das nun aus heutiger Sicht auch wichtig ist, wenn diejenigen, die heute dran sind, so wie du, das ab und zu mal reflektieren, wie das wohl so war vor 30 Jahren. Aber da muss man sich auch nicht mehr lange aufhalten. Also es ist auch selbstverständlich, dass die Leute heute in den Gaststätten und in den Hörsälen nicht mehr rauchen. Sowie in einem Esslokal nicht mehr geraucht werden darf, dürfte auch kein Lehrer/keine Lehrerin mehr sagen: »Nee, das Kind mit Behinderung unterrichte ich nicht.«

Ich habe auf der anderen Seite immer mal den Eindruck, dass wir mit den Modellversuchen gerade was Integration von SchülerInnen mit Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung angeht, eigentlich schon mal ein Stück weiter waren als wir es heute sind und das sozusagen viele von den Erkenntnissen von damals auch dann wiederum in Vergessenheit geraten und daher rührte so ein bisschen die Frage.

Modellversuche in der Sekundarstufe

Renate Laurien hatte ja durchgesetzt, dass gegen den Willen des Kollegiums die Uckermark-Grundschule Kinder mit geistiger Behinderung nicht aufnehmen durfte. Und dann musste es noch mal ein extra Modellversuch sein. Dann war die Frage: Übergang Sekundarstufe I, der Fall Jenny Lau wurde Ende der 80er Jahre in West-Berlin bedeutsam. Wegen der Diagnose Down-Syndrom hatte sie den Stempel »Geistige Behinderung« und durfte nach der 6. Klasse in der Fläming-Grundschule nicht weiter in die Gesamtschule gehen. Es ist dann der (West-)Berlin-weite Modellversuch erfunden worden »Integration von Kindern mit geistiger Behinderung in der Sekundarstufe I«. Und da haben engagierte GrundschullehrerInnen auch immer rechtzeitig dafür gesorgt, dass sie für den Übergang in die Sekundarstufe I eine weiterführende allgemeine Schule gefunden haben. Das war jetzt nicht mehr nur die eine Schule, die Kinder aufnimmt, die als geistig behindert bezeichnet wurden. Das war zum Beispiel die Sophie-Scholl-Schule oder Bettina-von-Arnim-Schule in Reinickendorf usw. Es gab schon einige, es war unter einem großen Mantel, Schulversuch, aber es waren faktisch dann immer nur einzelne Kinder mit einer geistigen Behinderung, die vorher in einer Grundschule auch integriert waren. Und das hat eigentlich immer nur dann funktioniert, wenn GrundschulkollegInnen mit SekundarstufenkollegInnen zusammengearbeitet haben.

Graswurzelbewegungen vs. Reform von oben

Ja, aber ich glaube dieses Engagement aus einem Bewusstsein, sich an einer Reform zu beteiligen, auch von unten und vielleicht gegen die Obrigkeiten, das ist jetzt nicht mehr da. Meiner Einschätzung nach wird es jetzt so wahrgenommen, dass es von oben verordnet worden ist. Die UN hat uns etwas übergestülpt. Dann wird noch infrage gestellt, ob das überhaupt ein Gesetz ist und dann wehrt man sich dagegen. Ich glaube, das ist immer wieder die Frage nach dem halb vollen oder halb leeren Glas. Also mir geht es so, dass ich in der letzten Zeit häufiger bei Veranstaltungen zu dem Thema war, wo ich mich freue, wie viele junge Leute dabei sind. Ich meine, die Alten sterben sowieso aus oder sind pensioniert und gehen nicht mit zu solchen Veranstaltungen. Aber es gibt eine ganze Menge deiner Generation, die sich da auch engagieren. Bestimmt noch nicht genug, bestimmt noch nicht die Mehrheit. Aber es hat mal jemand gesagt: Schulen würden noch schwerer zu reformieren sein als die katholische Kirche. So reformfreudig ist das deutsche Schulwesen nicht, also das ist auch ein großer Unterschied zu Italien. Da es ist ja suspekt, wenn sich drei Jahre mal nichts geändert hat.

Und was würdest du sagen, waren die wichtigsten Erkenntnisse aus diesen 30 Jahren oder 40 Jahren, die du in dem Bereich jetzt gearbeitet hast?

Abbau von Ängsten durch Erfahrungen

Also ich sag mal, ich freue mich immer und orientiere mich daran, wenn ich positive Entwicklungen sehe, das sind meist einzelne Kinder. Eine der allerersten, Silke Hecker, sie ist jetzt eine 40 Jahre alte Frau mit einer schweren spastischen Behinderung, die in Kreuzberg in einem Wohnprojekt völlig autonom lebt. Dass sie in die Regelschule gehen konnte, das ist das Ergebnis meiner Arbeit. Damit Menschen auch mit einer Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen können, müssen sie das in der Schule lernen. Eigene Erfahrungen von nicht stattfindender Aussonderung müssen als etwas Positives erlebt werden. In diesem Bereich ist es nur möglich, indem man es macht. Es geht nicht anders und auch wenn am Anfang vielleicht eine gewisse Skepsis da ist und wenn man am Anfang nicht so richtig weiß, wie es alles so gehen soll, aber das ist in meinen Augen der einzig richtige Weg. Nicht mehr und nicht weniger.

Eigene Integrationserfahrungen

Ich überlege mir manchmal zum Beispiel meine ersten eigenen Erfahrungen, ich bin da als Siebenjährige in der Schweiz in eine Klasse gekommen, wo ich keinen Menschen verstanden habe. Zu diesem Dialekt kann ich bis heute perfekt umschalten, kein Problem. Der damalige Lehrer hat die SchülerInnen immer beauftragt, mir in der Pause ein paar Wörter beizubringen und Anfang der Stunde musste ich das dann sagen. In dem Dorf, wo ich da war, waren zur selben Zeit bestimmt etwa 20 deutsche Kinder verschickt. Das war damals so eine Maßnahme vom Roten Kreuz. Später mit meinem beruflichen Engagement habe ich gedacht: Wenn sie diese 20 Kinder erst mal in eine extra Klasse gesteckt hätten, nee nee, die sind auf die ganze Schule verteilt worden. Also ich weiß nicht, wie man die Absonderung der Kinder von all den Alltagserfahrungen, die Vorbilder der Anderen, wie man das theoretisch rechtfertigen soll.

Ängste der
Erwachsenen

Wie man dann damit umgeht, wie man sich dem langsam annähert, wie man auch die Ängste der Erwachsenen, die damit noch nie zu tun hatten, wie man die abbaut, das ist das große Thema. Meine letzten Veröffentlichungen waren gerade Beiträge für den RAABE-Verlag zum Thema Epilepsie, Kinder mit Epilepsie. Dafür habe ich mich auch mit Jugendlichen unterhalten, die mit dieser Krankheit in der Regine Hildebrandt Schule sind. Gerade diese Diagnose führt ja sehr, sehr oft dazu, dass die beteiligten Erwachsenen so viel Angst haben, dass sie die Kinder in der Regelschule nicht aufnehmen. Aber auch diese Kinder, auch wenn sie während der Unterrichtszeit immer wieder einen Anfall haben, gehören die in die Regelschule. Der eine Jugendliche, den ich in der Regine-Hildebrandt-Gesamtschule interviewt habe, der hat gesagt: »Das Wichtigste waren die Mitschüler, die hatten weniger Angst vor meinen Anfällen als die Lehrer.« Der Jugendliche ist jetzt in der 9. Klasse, von der 7. Klasse an hatten die Mitschüler die Handynummer seiner Mutter und haben dann auch versucht zu erreichen, dass die LehrerInnen nicht immer sofort den Notarzt und Helikopter gerufen haben. Für ihn war es immer das schlimmste, wenn er dann plötzlich im Krankenhaus wieder wach wurde. Also diese Ängste abbauen durch Erfahrung auch bei LehrerInnen, das ist auch was Wichtiges.

Und du hast gesagt, mit den theoretischen Grundlagen hast du dich dann zwangsweise beschäftigt. Gibt es aber da etwas, was du als besonders relevant oder wichtig erachtest oder als interessant?

Theoretische
Grundlagen

Also ich habe gerne die Texte von Jakob Muth gelesen, aber die sind auch eher praxisbezogen. Ich habe mich auch durch Texte von Georg Feuser und Wolfgang Jantzen mehr oder weniger gequält, aber wirklich beeinflusst haben die mich nicht. Nee. Ich will das nicht abwerten. Gerade die empirischen Erhebungen, vor allem auch der Umgang mit den ganzen Statistiken wie Ulf das macht oder wie jetzt Klaus Klemm das macht, das finde ich sehr, sehr wichtig. Und ich bin sehr froh, dass sie das machen. Und ich glaube, das ist für die politische Argumentation auch wichtig. Aber das alleine bewirkt nicht, dass LehrerInnen ihre Ängste vor Verschiedenheit abbauen und bringt LehrerInnen nicht dazu, wirklich zu kooperieren.

Verhaltensauffällige Kinder

Ich habe ja auch drei Jahre lang wissenschaftliche Begleitung gemacht in den deutschsprachigen Schulen in Südtirol. Speziell mit dem Auftrag etwas dazu zu entwickeln, wie Lehrerinnen und Lehrer ihre eigenen Ängste gerade vor verhaltensauffälligen Kindern abbauen können. Also in Südtirol ist das auch das größte Problem: Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten. Und da immer wieder die Feststellung, die LehrerInnen müssen mit ihren eigenen Ängsten umgehen, die LehrerInnen müssen in den Klassen kooperieren, nur das alleine. Und da nutzt ihnen keine Theorie. Sie müssen mit sich selbst umgehen, wir müssen dann vielleicht erkunden, woher sie auch ihre eigenen Ängste haben. Da hatte ich auch – das war noch eine wichtige Begegnung – eine Kollegin aus Großbritannien, Gerda Hanko, die müsste man eigentlich auch noch erwähnen. Sie ist eine Frau, die nach dem Krieg als Deutsche nach England gegangen ist und sich mit diesem ganzen Thema in England sehr beschäftigt hat, sie hat auch ein sehr gutes Buch zum Thema »Verhaltensauffällige Kinder in Regelschulen« geschrieben, welches dann auch ins Deutsche übersetzt wurde. Ich muss sagen, was mich beeindruckt hat, waren Bücher, die deutlich gemacht haben, wie also von den verschiedenen Ebenen her dieser selektive Charakter von Schule verringert werden kann.

Und die empirischen Forschungen hast du schon angesprochen. Gibt es da welche, wo du sagen würdest, die waren besonders wichtig?

Also was ich selber gemacht habe oder was ich von anderen wichtig finde?

Sowohl als auch.

Forschung in
Brandenburg

Ja, also ich sag mal, was ich selber gemacht habe. Fünf Jahre waren es in Brandenburg von 1992 bis 1996. Parallel zu den Strukturveränderungen haben wir Lehrerfortbildungen und Schulberatungen gemacht und das dokumentiert, kann man nachlesen in dem Buch Behinderte sind doch Kinder wie wir. Und ich glaube, dass wir da ein gutes Team waren, Ulf Preuss-Lausitz, Peter Heyer und ich. Dies fand ich gut, ja. Meine eigene klitzekleine Untersuchung 1991/92 über die Verteilung der Kinder mit Behinderung im Bezirk Spandau. Da ist rausgekommen, dass es von den strukturellen Bedingungen in den Schulen abhängig war, wie viele Kinder mit Sprachbehinderung oder wie viele Kinder mit Lernbehinderung es plötzlich gab. Damals sind nämlich Kinder mit solchen Zuschreibungen zu Gruppen zusammengefasst worden und dann in einem Schulgebäude untergebracht worden, wo gerade ein Klassenraum frei war. Am Anfang des Schuljahres waren es nur fünf Kinder, nach einem halben Jahr dann aber 15.

Wichtige empirische Untersuchungen

Wenn ich mich richtig erinnere, sind in den Anfangsjahren empirische Untersuchungen immer im Zusammenhang mit Schulversuchen gemacht worden. Zum Beispiel Helga Deppe-Wolfinger hatte in Frankfurt was gemacht. Das waren aber die Rahmenbedingungen einer Schule in Trägerschaft der Evangelischen Kirche, eine Privatschule. Oder die empirischen Untersuchungen von Hans Wocken und Andreas Hinz in Hamburg, die Ergebnisse fand ich auch sehr wichtig. Und wenn man jetzt schaut, was dann wieder politisch daraus gemacht wurde: Man hat Schulversuchsklassen eingerichtet in sozialen Brennpunkten und dann rausgekriegt, dass die SchülerInnen in diesen Schulen immer noch schlechtere Ergebnisse haben als in den Edelschulen. Und so einen ähnlichen falschen Ansatz macht man ja momentan in Brandenburg mit den Pilotschulen, was von Potsdam aus empirisch erhoben werden soll. Das sehe ich auch als ganz fragwürdig an. Die Untersuchung von Hans Wocken finde ich sehr interessant, womit er nachgewiesen hat: Je früher die Kinder in die Lernbehindertenschule kommen und je länger sie da sind, umso schlechter sind die Ergebnisse. Das finde ich schon interessant. Aber ich frage mich, wem nutzt das? Das könnte für die politische Diskussion nutzen, wenn es wirklich wahrgenommen wird. Auch das, was Andreas Hinz und Ines Boban machen im Zusammenhang mit Zukunftskonferenzen, finde ich auch sehr wichtig.

Und was sind aus deiner Sicht die interessantesten Streitpunkte in der Community gewesen oder sind sie auch immer noch?

Ich denke der Streitpunkt Schulversuche ja oder nein.

Also ob man sich überhaupt auf Schulversuche einlassen sollte?

Schulversuche
und mit ihnen
verbundene
Schwierigkeiten

Ja. Ich sag noch mal so: Wenn ein Schulversuch angesetzt wird, mit der eindeutigen Zielstellung, wir wollen rauskriegen, welche Bedingungen geschaffen werden müssen, um das dann wirklich zu verbreitern. Wenn parallel dazu Fortbildungen geschaffen werden, Möglichkeiten damit andere reinkommen, damit sich das wirklich verbreitert. Dann ist das okay. Was zum Beispiel weitestgehend so war bei dem Ansatz des Schulversuches der Zusammenlegung der Körperbehindertenschule und der Gesamtschule in Birkenwerder. Diese Schule ist jetzt eindeutig eine normale Gesamtschule mit dem Schwerpunkt Integration von körperbehinderten Jugendlichen. Aber es gibt auch Kinder mit Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten. Aber wenn diese politische Absicht nicht da ist, und das muss eine politische Setzung sein mit dem Ziel der allgemeinen Umsetzung, dann sollte man sich nicht daran beteiligen.

Und die Bezüge zu den anderen Teildisziplinen der Pädagogik oder auch anderen Forschungsgebieten wie Gender Studies, Disability Studies, welche Bezüge siehst du da und welche Probleme gibt es da bei Auf- oder Herausforderungen in der Zusammenarbeit?

Also das ist ein Thema mit dem ich mich faktisch nicht beschäftigt habe, muss ich ganz klar sagen. Also vor allem die Zeit, als ich noch an der PH war und sicherlich auch in der Beratung tätig war, war mein eigener Schwerpunkt im Bereich Didaktik der Sekundarstufe I Allgemeine Pädagogik und Schulstrukturen. Eine Zeit lang habe ich sehr gut mit der Psychologin Christine Holzkamp zusammengearbeitet. Da haben wir gemeinsame Lehrveranstaltungen gemacht, wo dann auch Fragestellungen von Ausgrenzung, Nachteile für Kinder aus verschiedenen Perspektiven bearbeitet wurden. Disability Studies, Gender Studies, die Entwicklung ist ja auch noch nicht all zu alt und man bedenke, ich bin seit 2006 in Pension.

Ja, ich meinte aber auch so Fragen von geschlechterspezifischer Pädagogik.

Dimension
Geschlecht

Ja, die Frage Jungen/Mädchen, geschlechtsspezifische Fragestellungen, da überhaupt einen Blick drauf zu haben, das zu beachten, das hatte ich immer. Ohne das Wort Gender Studies. Da gab es bei einer der allerersten Integrationsforschertagungen mal ein Eklat zwischen Hans Wocken und mir. Bei den allerersten empirischen Untersuchungen, die er gemacht hat in Hamburg, da hat er nicht einmal bei der Erhebung geschaut, ob das Jungen oder Mädchen sind. Ausgewertet wurden immer nur Schüler. Die Tatsache, dass es in den meisten Integrationsklassen bis heute üblich ist, dass die Kinder mit Behinderung eher Jungen sind und die Kinder, die dann die Hilfestellung geben, eher Mädchen, das war überhaupt nicht im Bewusstsein. Und da habe ich mal vor versammelter Mannschaft gefragt, wie das denn aussieht und ob das keine Bedeutung hat? Wir haben uns ein bisschen gestritten. Hans Wocken hat mir hinterher einen Brief geschrieben und geschworen, er würde sich verbessern, bei den bisherigen Untersuchungen könnte er aber leider nichts machen, weil das Geschlecht nicht erhoben worden sei. Er hat kurz danach eine eigene Untersuchung gemacht zu dem Thema »Abwehrverhalten und Vorurteile gegenüber Kindern mit Behinderung«. Ich weiß nicht, ob du das mal gesehen hast. Dazu hat er den SchülerInnen Zeichnungen gegeben. Die größte Abwehr ist gegenüber Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten festgestellt worden. Aber das ist an einer Abbildung deutlich gemacht, wo ein Junge ein Mädchen mit einer Nadel piekt. Und ein körperbehindertes Kind, das am Stock geht, aber da hat er auch schon in den Abbildungen die Fragestellungen für die SchülerInnen mit geschlechtsspezifischen Fragen verbunden. Das kann man heute auch selber gar nicht mehr glauben, dass es empirische Untersuchungen gegeben hat, wo einfach nur nach den Schülern gefragt wurde und nicht danach, ob es sich um Mädchen oder Jungen handelt. Oder bei einer meiner allerersten Lehrveranstaltung zum Thema Didaktik habe ich mit StudentInnen zusammen Schulbücher analysiert in Bezug auf die Darstellung von Frauen und Männern und Mädchen und Jungen. Ich erinnere mich noch die allerersten Lehrveranstaltungen nach der Wende, da hatte ich dann zum Teil Studenten und Studentinnen, die aus der DDR kamen. Die DDR-StudentInnen haben dann immer gesagt: Nein, das war in den DDR-Büchern alles ganz anders. Also, da gab es auch die berufstätige Mutter und das war einmal eine Traktorfahrerin und einmal eine Straßenbahnfahrerin. Selbst bis in die Mathematikbücher hinein. Wir hatten einmal das Beispiel gefunden, dass immer dann, wenn es ums Kochen von Marmelade ging, dann waren in den Textaufgaben Frauen dran und wenn es um die Finanzierung des neuen Eigenheimes oder Autos ging, dann die Männer. Solche Fragestellungen habe ich auch immer mit aufgegriffen, aber so richtig im Mittelpunkt war es nicht. Aber es war eigentlich auch immer Thema.

Und wo siehst du zukünftige Aufgaben und Herausforderungen für die Praxis?

Mehrgliedrigkeit

Ja, ich bleibe immer noch dabei, solange wir ein mehrgliedriges Sekundarstufensystem haben, sollte man nicht von Inklusion reden. Und da, wo es möglich wird, diese Mehrgliedrigkeit zu überwinden, da müsste man eigentlich alle Energien reinstecken. Ich sehe das jetzt auch in Brandenburg, ich berate da zwei sogenannte Oberschulen. Brandenburg hat ja nur die Zweigliedrigkeit. Aber die Oberschule ist die Schule, wo alle diejenigen sind, die das Gymnasium nicht schaffen. Solange wir diese Struktur haben, ist es auch immer etwas Halbherziges. Das hat dann Auswirkungen in Bezug auf die Leistungsbewertung, das hat Auswirkungen auf das Selbstbild, das die Kinder von sich entwickeln. Es gibt schon einige Gesamtschulen, die wirklich einen richtig guten Ruf haben und wo auch GymnasiastInnen abgelehnt werden müssen. Bettina-von-Arnim ist so eine Schule oder ich denke die Sekundarstufenschulen, die die letzten Jahre den Jakob-Muth-Preis bekommen haben, also jetzt auch in Hamburg. Eine große Gesamtschule, wo wirklich das ganze Spektrum ist und wo auch Eltern gymnasial empfohlener SchülerInnen versuchen, ihre Kinder reinzubekommen.

Unterrichtsgestaltung – hochbegabte SchülerInnen

Und da ist noch eine neue Herausforderung, was bisher zu wenig beachtet wurde, wie man dann Unterricht gestaltet, wo auch die hochbefähigten SchülerInnen Aufgaben bekommen, die ihrem Leistungsniveau entsprechen. Meistens geht das so nebenbei. Viele dieser Schülerinnen und Schüler, die besonders befähigt sind, sind dann auch wirklich ausgezeichnet als TutorInnen, was vorzubereiten. Aber es muss auch Situationen geben, wo diese Schülerinnen und Schüler genau wissen: Das ist jetzt die Aufgabe, die mich herausfordert, das ist meine Zusatzaufgabe. Ich habe im vorigen Jahr mal in einer Klasse hospitiert, wo ein schwer geistig behinderter Schüler einer sehr benachteiligenden nichtdeutschen Familie in der Klasse ist und in derselben Klasse ein wirklich hochintelligentes, mathematisch hochbefähigtes Mädchen. Die saß an Mathematikaufgaben, die ich nicht verstanden habe, eine absolute Zusatzaufgabe in der Mathestunde. Sie hat mir dann genau das System erklärt. Sie sagte: Ich habe die Aufgaben, damit ich mich nicht langweile und ich helfe aber auch den anderen und mach auch da mit. Also diese hochbefähigten Schülerinnen und Schüler auch wirklich so in Integrationsklassen im Inklusionsunterricht zu fördern, damit die sich da nicht langweilen, damit die auch ihre Herausforderung bekommen, das sehe ich auch als eine ganz wichtige Aufgabe an. Und ich glaube, das ist bisher wirklich zu wenig beachtet worden.

Und für die Forschung, wo siehst du da zukünftige Aufgaben, Herausforderungen, um die man sich mal dringend kümmern müsste?

Begleitung von Teamarbeit als Aufgabe für die Forschung

Ich komme eigentlich immer wieder zur qualitativen Begleitforschung, um rauszukriegen, woran es hakt, wenn die LehrerInnen nicht miteinander können. Wie die befähigt werden, wie man einsteigen muss, wie man auch eventuell entscheidet, wenn man feststellt, die können nun wirklich nicht miteinander, dass es auch möglich ist, dann Teams zu beenden. Aber das ist wirklich absolut die wichtigste Aufgabe. Und ich denke, dazu sollte es auch Forschungen geben.

Italien: Praxisbeispiele

Klar, ab und zu vielleicht mal, wenn es Klassen gibt in unterschiedlichster Zusammensetzung, dass man sich genau gerade den Leistungsaspekt anschaut. Aber da muss man dann auch genau hinschauen, wie man damit methodisch umgeht. Dies habe ich auch in Italien gesehen, wie es da fast selbstverständlich ist. Also in Italien ist es so, dass Grundschulen und Sekundarstufenschulen Ringteams aus vier, fünf Schulen bilden, so in einem Einzugsgebiet. Da beraten sich die LehrerInnen jeweils am Anfang des Schuljahres. Von den dreimonatigen langen Sommerferien müssen die LehrerInnen die ersten zwei Wochen der Ferien und die letzten zwei Wochen der Ferien in der Schule sein, die haben nicht drei Monate Ferien. Und die Zeit wird genutzt für die Vorbereitung und die Auswertung. Und dann beraten sie für die verschiedenen Fächer, an welchen Themen sie arbeiten und welche Leistungsvergleiche sie auch am Ende des Schuljahres machen. Und immer Ende des Schuljahres, im Juni, geht eine Abordnung der einen Schule in die nächste Schule. Also viele LehrerInnen sind dann für ein paar Tage nicht in ihrer eigenen Schule, sondern in der nächsten Schule aus diesem Team. Und dann werden die Arbeiten geschrieben, die Leistungskontrollen, auf die sie sich vorher geeinigt haben. Dann schauen sie sich das hinterher gemeinsam an und analysieren, woran es wohl liegt, dass bei den einen die Ergebnisse so besonders gut waren und bei den anderen besonders schlecht. Dies kann an der Klassenzusammensetzung liegen, oder dass ein Lehrer/eine Lehrerin krank war oder an schlechtem Unterricht oder sonst was. Diese Art der qualitativen Forschung und genau hinzuschauen in Bezug auf Leistung, aber mit unmittelbarer Beteiligung der Lehrerinnen und Lehrer, wo dies sicherlich auch irgendein/e Vorgesetze/r mal anschaut, aber die Schulen selber sind wirklich im viel höheren Grade autonom. Das halte ich für richtig.

Pilotschulen und
ihre Schwierigkeiten

Hier jetzt mit den Pilotschulen, ich weiß nicht, ob du mal das Konzept gesehen hast, wie die da wissenschaftliche Begleitung machen, da denken sich die Leute aus der Uni irgendwelche Prüfungsaufgaben aus oder benutzen irgendwelche eingeführten Tests, VERA oder sonst was, gehen damit in die Schulen. StudentInnen sind ausgebildet, vorgebildet, weiß nicht wie gut oder wie schlecht, in die Klassen zu gehen und die Lehrerinnen und Lehrer bekommen keine Rückmeldung. Bei dem ersten Zwischenbericht, dazu habe ich auch noch einmal kritisch nachgefragt. Auf der Internetseite des Bildungsministeriums sind die 83 Schulen aufgelistet, die Pilotschulen im Land Brandenburg sind und da kann also jedes Elternpaar auch sehen, welche Schulen sich daran beteiligen und es gibt auch so eine kurze Erklärung dazu, dass an diesen Schulen besonders erprobt werden soll, wie Kinder gefördert werden, auch, wenn sie Lernschwierigkeiten haben. So, jetzt frag ich dich, wenn du selbst Vater wärst oder jetzt Onkel und du hast ein Kind, wo du merkst, naja, so ganz einfach ist das nicht. Dann versuchst du dein Kind in eine dieser Pilotschulen zu kriegen. Das entwickelt sich eventuell so ähnlich wie bei diesen Modellschulen in Hamburg, die von vornherein die etwas schwierige Klientel hatten. Das kannst du natürlich nicht nachweisen, weil die Zusammensetzung oder die Entscheidungen der umliegenden anderen Schulen überhaupt nicht angeguckt werden. Es guckt auch niemand hin, ob vielleicht nur mal schlicht die SchülerInnen in den Pilotschulen im statistischen Mittel die längeren Schulwege hätten. Das wäre ganz einfach festzustellen. Und die beteiligten LehrerInnen sind eigentlich alle sauer, weil diese Art von empirischer Forschung ihnen letztlich nur Mehrarbeit macht.

Einbeziehung von LehrerInnen in den Forschungsprozess

Ich kann mich sehr gut erinnern, wie ich als Gesamtschullehrerin sauer war, wenn da die Leute vom Pädagogischen Zentrum waren und dann gefragt haben, wo die Arbeiterkinder sind. Nee also, wenn empirische Forschung, dann auf jeden Fall immer mit der unmittelbaren Beteiligung der Lehrerinnen und Lehrer. Die müssen als Forscherinnen und Forscher einbezogen werden. Mit den LehrerInnen gemeinsam die Fragen entwickeln, wirklich unter Beteiligung und die Lehrerinnen und Lehrer ernst nehmen und auch unmittelbar die Rückmeldung machen, nur so.

Deine Veröffentlichungen hattest du mir ja schon geschickt zum Teil.

Lesbarkeit von
Veröffentlichungen

Ich sag mal so, da bin ich jetzt auch wirklich ein bisschen distanziert. Ich habe einen großen Koffer mit Büchern im Keller, wo ich dann irgendwann mal gesagt habe, naja gut, vielleicht brauche ich sie ja doch noch mal. Dann habe ich in meinem Arbeitszimmer auch eine ganze Menge Bücher und jetzt zu deiner Frage habe ich noch einmal geguckt, was war denn da nun so wichtig? Im Moment sind mir die alten Bücher selber gar nicht mehr so sehr wichtig. Das Wichtige war für mich sicherlich auch immer, wenn ich die Chance hatte, mit den Leuten auch tatsächlich in Kontakt zu kommen, Begegnungen vor Ort. Aber dieses Buch Integrative Schule – Integrativer Unterricht finde ich sehr wichtig, hat auch eine interessante Geschichte. Es gab bei Rowohlt das sehr bekannte Taschenbuch von Rabenstein Offene Schule – offener Unterricht. Kein Wort zum Thema Integration. Kinder mit Behinderung gab es nicht, also Anfang der 90er Jahre. Und da habe ich dem Rowohlt-Verlag geschrieben, sie sollten sich doch auch mal mit dem Thema Integration von Kindern mit Behinderung beschäftigen. Das war Anfang der 90er Jahre, und dann haben die mir postwendend geschrieben: »Na, dann machen sie es doch.« Und dann, in der Zeit als ich selbst noch nicht mit dem Computer umgehen konnte, habe ich mich dann aber rangemacht. Meine Tochter hat mir noch die Zeichnungen dazu gemacht. Das ist auch ganz schnell vergriffen gewesen. Und ich habe an meine eigenen Bücher den Anspruch, man muss sie ohne Fremdwörterbuch lesen kann und man muss auch immer mal wieder reinschauen. Ein/e LehrerIn, der/die auch nach einem anstrengenden Unterrichtsvormittag noch ein bisschen lesen will, muss darin lesen wollen; und es sollte auch immer für die betroffenen Eltern lesbar sein. Und da habe ich auch viele positive Rückmeldungen bekommen. Wenn mir da eine Mutter sagt: »Das Buch liegt bei mir immer auf dem Klo«, dann sage ich: »Okay, genau das«. Da steckt auch viel Arbeit darin. Auch die Übertragung des Buches von Nikola Cuomo Schwere Behinderung in der Schule aus dem Italienischen war mir sehr wichtig.

Gibt es noch etwas, was du noch ansprechen willst?

Jakob Muth Preis

Ich bin richtig stolz auf den Jakob-Muth-Schulpreis, den habe ich erfunden. Ich hatte eine Tischvorlage für die damalige Bundesbehindertenbeauftragte, bin dahin und habe es ihr vorgestellt und da sagte Karin Evers-Meyer: »Ja das machen wir, jetzt müssen wir nur jemanden finden, der das auch finanziert.« Die Bertelsmann-Stiftung ist mit dabei und die Deutsche UNESCO-Kommission. Klar, ich weiß, dass alles was die Bertelsmann-Stiftung an Geld ausgibt, irgendwo auch Geld ist, was als Steuer woanders nicht bezahlt wurde. Aber diesen Preis sehe ich auch als eine ganz wichtige Veröffentlichung an, auch die Filme dazu. Ich hoffe, dass ich noch lange gesund bleibe, um weiter arbeiten zu können.

Das finde ich auch wirklich ganz spannend, dass ganz viele von denen, die jetzt in den Ruhestand gegangen sind, trotzdem eigentlich immer noch genauso oder in vergleichbarem Maße oder mehr bei der Arbeit geblieben sind.

Ich sehe das als ein Privileg unseres Berufes an. Also mir tun die Menschen wirklich ehrlich leid, die in ihrem Beruf so viele Jahre lang engagiert waren, egal in welchem Beruf, und in dem Moment, wo sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, heißt es: tschüss, so, keiner interessiert sich mehr. Ich kann mir das rauspicken, was ich machen möchte und das tut mir auch gut.

 

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I: Ich fand es schon sehr spannend, also gerade diese Frage: Wie kommt man zur integrativen Pädagogik? Und wie ist die eigene Biografie sozusagen, wie ist man da gelandet. Das finde ich ist schon ein ganz spannender Ausgangspunkt und vielleicht kannst du es einfach noch mal kurz erzählen.
Jutta Schöler: Ich sag mal so, rückblickend kann ich zusammenfassen, dass das bestimmt auf ganz viele Zufälle zurückzuführen ist, welchen Weg ich dann tatsächlich gegangen bin. Und ja und ich habe auch immer wieder gerade Lehrer/Lehrerinnen gehabt, die mich unterstützt haben. Ohne die wäre es nicht gegangen, ganz klar. Also zu meiner ehemaligen Klassenlehrerin in der Realschule, die jetzt dieses Jahr 90 wird, da habe ich immer noch Kontakt, besuche die regelmäßig im Altenwohnheim und sie ist stolz auf mich was aus mir geworden ist. Und ich sag mir immer, das war diejenige, die zum Beispiel zu dem Lehrherren von dem Reisebüro gegangen ist, weil ich innerhalb von 10 Tagen etwa den Lehrvertrag zurückgeben musste, den ich mir zuvor hart erkämpft hatte. Damals hätte man noch Strafe bezahlen müssen, wenn man einen Lehrvertrag kurzfristig kündigt. Meine Lehrerin hat mit dem Lehrherrn verhandelt, dass meine Eltern keine Strafe bezahlen mussten, sonst wäre das nicht gegangen. Und dass überhaupt jemand nochmal die Initiative ergriffen hat, ob ich nicht vielleicht doch auf die Gymnasiale Oberstufe gehe. Das war damals also 1958 etwa so ungewöhnlich, wie heute ein geistig behindertes Kind am Gymnasium. Ich habe es jetzt hinterher recherchiert: 8 Prozent meines Geburtsjahrganges hatten überhaupt nur die Chance Abitur zu machen, dies war nicht so wie heute. Der Schulleiter ist über mein Zeugnis gestolpert, als er es unterschrieben hat. Und es war ein sehr gutes Zeugnis, weil ich sicherlich immer sehr fleißig war und auch lange eigentlich den Gymnasialstoff mir nebenbei erarbeitet habe und er hat mich aus dem Unterricht rausholen lassen und mich erstmal so quasi zusammengeschissen und über meine Eltern Böses gesagt, warum ich nicht auf das Gymnasium gegangen bin. Es sei unverantwortlich von den Eltern, mich nur auf die Realschule zu schicken. Ich habe da wirklich erstmal geheult und meine Eltern verteidigt, dass das einfach nicht ging. Dass das nicht ging, habe ich immer eingesehen, habe aber immer gehofft, dass mal so ein Wunder geschieht und mein Vater dann doch eine feste Arbeit bekommt. Ja, dann bin ich in die Klasse zurück und ich war in der Realschulzeit in derselben Klasse wie meine ein Jahr jüngere Schwester. Ich bin mal ein Jahr zurückgesetzt worden wegen meiner Wechsel zwischen der Pflegefamilie in der Schweiz und Berlin. Und ich kam dann heulend in die Mathematikstunde zurück und die Lehrerin wusste nichts mit mir anzufangen, hat uns beide auf den Flur rausgeschickt. Dann hat mir meine Schwester zugeredet, ich soll doch noch einmal zu meinem Vater fahren, der gerade eine neue Arbeit bekommen hat und mit dem nochmal verhandeln. Meine Klassenlehrerin verhandelte mit dem Lehrherrn, der Schulleiter stolpert über mein Zeugnis, meine Schwester hat mir Mut gemacht und mein Vater hat mit mir ausgehandelt: okay wir können es versuchen unter drei Bedingungen: Er muss keine Strafe bezahlen, dass ich den Lehrvertrag abgebe, er behält seine Arbeitsstelle und wird nicht arbeitslos und nach dem ersten halben Jahr muss ich den Beweis bringen, dass ich das auch wirklich schaffe. Und das hat er daran festgemacht, dass ich als schlechteste Note höchstens eine vier auf dem Zeugnis haben darf. Ja und das haben wir geschafft, so bin ich auf dem Gymnasium gelandet. Dann war aber die nächste Frage, welches Spandauer Gymnasium ist bereit, so ein Experiment zu wagen. Abgänger von der Realschule gehen in die 11. Klasse eines Gymnasiums? Dafür gab es damals keinerlei Vorschriften. Der spätere Schulsenator Carl-Heinz Evers hat gesagt, als ich ihm mal die Story erzählt habe, er hätte dann glaube ich 1964 dafür gesorgt, so sechs Jahre später, dass es dazu formale Regelungen gibt. So und da weiß ich, dass mein Schulleiter da rumtelefoniert bei den Herren Schulleitern aller Spandauer Gymnasien – es waren glaube ich drei damals – und dann gab es in Siemensstadt – also ein bisschen weiter weg – ein Gymnasium wo eine Frau die Schulleiterin war. Die Frau Dr. Miecha. Da habe ich dann mitgekriegt, dass es einen Spruch gab: „Naja, dann kann die Frau da ihre pädagogischen Künste zeigen.“ So und dann war ich da in der Klasse drei Jahre lang wirklich die absolute Außenseiterin. Ich kam mit dem Fahrrad angeradelt und alle Mitschülerinnen und Mitschüler waren die „Siemens-Indianer-Kinder“, Töchter und Söhne von Siemensbeschäftigten, die in Einfamilienhäusern wohnten und da ihre Feten gemacht haben. Da konnte ich nie mithalten, in der kleinen Zweizimmerwohnung meiner Eltern, wo wir zu fünft wohnten. Und die Mädchen in dem Alter hatten als wichtigeres Thema in den Pausen, wie sie sich schminken und wie sie sich kleiden und mit nix konnte ich mithalten. Aber ich wollte das Abi machen und ich wollte Lehrerin werden und da habe ich hart dran gearbeitet. Also das stand für mich fest. Das war sicherlich so die erste Hürde, sonst wäre ich Reisebürokaufmann geworden. Wäre dann jetzt vielleicht Leiterin irgendeines Reisebüros. Eigene positive
Schulerfahrung
Das kann man sich heute auch nicht vorstellen. Reisebürokaufmann war Mitte der 50er Jahre ein reiner Männerberuf. Den hatte ich mir aber in den Kopf gesetzt, genauso meine Schwester, sie ist Technische Zeichnerin geworden. Sie war auch die erste Frau in diesem Beruf weit und breit. Beim Reisebürokaufmann wurde gesagt, dass Frauen mit den Zahlenkolonnen der Kursbücher nicht klarkommen. Es gab ja noch keine Computer. Man musste immer die ganzen Kursbücher wälzen. Da habe ich etwa ein halbes Jahr in einem großen DER-Reisebüro hier in Spandau nach der Schule gearbeitet, einerseits immer Prospekte gestempelt, nicht bezahlt, und immer wenn der Chef Zeit hatte, hat er mir irgendwelche Aufgaben gegeben. Ich soll die beste Zugverbindung von hier nach da raussuchen. Dann musste ich die Kursbücher lesen, musste ihm die Verbindungen sagen, musste gut aufpassen, ob es nun ein Sonntag war und ob dieser Zug auch sonntags fährt. Dann hat er mit mir eine richtige Prüfung gemacht. Ich habe einen Lehrvertrag bekommen. Inzwischen sind sowohl der Beruf der Technischen Zeichnerin wie der Beruf des Reisebürokaufmanns eigentlich abgewertete Berufe, den selten ein Mann macht. Ist ein Frauenberuf geworden, aber das war damals so. Geschlechterrollen
I: Und du hast ja gesagt, dass dieser Umgang mit benachteiligten Kindern schon dann auch ein Schwerpunkt für dich war.
Jutta Schöler: Immer ja.
I: Und spielte das im Studium damals irgendwie eine Rolle?
Jutta Schöler: Eigentlich nicht. Also ich sag mal im Studium habe ich mich am ehesten selber engagiert, in dem Bereich der Didaktik, damals schon Didaktik der Sekundarstufe I. Damals gab es die Spezialisierung an der PH, entweder du hast von vornherein studiert mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik, also dann so mit den Kleinen, oder Sekundarstufe I und das war ja in Berlin ab 7. Klasse. Und ich weiß gar nicht warum, also ich hatte von Anfang an gesagt, nee mit den Kleinen will ich nichts zu tun haben. Und da gab es Angebote für Didaktik der Sekundarstufe I, da konnte man sich auch entscheiden, ob man nachher seine Praktika in einer Sekundarstufenschule machen will, das sogenannte Didaktikum, das war ein ganzes Semester, was jetzt wieder neu eingeführt werden soll. Das Didaktikum habe ich an einer Hauptschule gemacht und auch meine erste Lehrerstelle habe ich 1964 an einer Hauptschule begonnen. – Es ist ja so ein Treppenwitz mit dem Thema „Integration der Pädagogischen Hochschule“ in die Universitäten – Ende der 70er Jahre – sind diese Reformen der 60er, seit Anfang der 70er Jahre alle wieder abgeschafft worden. Sowohl dieses stufenbezogene Didaktikum wie auch der Schwerpunkt der Ausbildung, Differenzierungsformen usw. Richtung Gesamtschule. Naja, also ich habe mich in Didaktikseminaren auch Fachdidaktik, Deutschdidaktik engagiert und in der Allgemeinen Pädagogik. Da waren damals einige interessante Leute, Hochschullehrer. (z. B. Paul Heimann, Wolfgang Schulz) Ja, aber so das Thema Benachteiligung war im Studium überhaupt nicht drin. Studium des Lehramtes für Sekundarstufe I
Das kam eigentlich auch erst mit den ersten Studentenunruhen, nach 1968. Als ich Lehrerin in der Gesamtschule war, da war ich auch als Mentorin für Studierende zuständig. Das weiß ich noch ganz genau, als dann die erste Studentengruppe kam und fragte: „Wo sind denn hier die Arbeiterkinder?“ Ich hatte eine Schülerin und einen Schüler, die mir Kopfschmerzen gemacht haben. Das eine war der Sohn eines Arbeiters, eine Familie mit 7 Kindern, die Mutter war Engländerin, zu Hause wurde nur englisch gesprochen. Dieser Junge, der Gregory, der musste zu Hause eigentlich immer auf die kleineren Geschwister aufpassen oder seine Mutter begleiten; der war sicherlich auch benachteiligt. Aber meiner Einschätzung nach ein hochintelligenter Junge. Studentenunruhen und ihr Einfluss auf die Schule
Und dann war in meiner Klasse die Tochter des Schulrates, der gleichzeitig mein Vorgesetzter war. Das hat mir dann das Leben sehr schwer gemacht. Das war ja die erste Gesamtschule, die ersten Klassen, die 1968 eröffnet wurden. Die Gesamtschule war ein politisches Thema der SPD. Dieser Schulrat und ein Stadtrat, die in der SPD für Gesamtschulen engagiert waren, kannten mich, weil ich in den Planungsgruppen war. Ich war 1967/68 auch abgeordnet ins Pädagogische Zentrum für diese Planung: Diese beiden Väter hatten da wohl einen guten Eindruck von mir bekommen und haben entschieden, dass ihre Töchter in meine Klasse sollten. Dass ich aber, ich sag mal nicht nur fleißig war und vielleicht nicht nur guten didaktisch geplanten Unterricht gemacht habe, sondern dann auch so komische Sachen gemacht habe wie Gruppenunterricht und alle bekommen dieselbe Zensur, das hat denen gar nicht gepasst. Und dann, ein bisschen später, als hier die ersten Studenten kamen und auch die ersten Ausuferungen von Studentenunruhen der Universitäten in die Schule geschwappt sind, da war eben das Bedenken sehr groß, dass diese Schülerinnen und Schüler einseitig politisch beeinflusst werden. Ich hatte eigentlich immer einen sehr guten Kontakt zu meinen Schülerinnen und Schülern, mit einigen bin ich bis heute befreundet und im engen Kontakt. Klar die waren Jugendliche und fanden mich auch einfach schick. Ich war eine junge Lehrerin, damals rannte ich mit so hohen Stöckelschuhen rum und kurzem Kleid. Wenn dann manchmal die Mädchen irgendwelche Probleme hatten, dann habe ich die zu mir nach Hause zum Schwatz eingeladen. Dann saßen wir auf diesem Teppich im Kreis; und das war diesen beiden Vätern total ein Dorn im Auge. Arbeit an der Gesamtschule
Und ich habe dann rausgekriegt, dass die selber und über den Schulleiter versucht haben, auszuhorchen was ich da so mache. Ich hatte dann eine Klassenfahrt vorbereitet, bin Ostern sogar da gewesen, nach Kulmbach sollte es gehen. Ich habe Fotos gemacht, den Schülern schon gezeigt, wo es hingeht. Nach den Sommerferien sollte die Reise sein. Dann kriegte ich vor den Sommerferien einen Brief, wegen der Gefahr der einseitigen politischen Beeinflussung während der Klassenfahrt dürfe ich die Klassenfahrt nicht begleiten. Politischer Druck

 

 

Und kurz vorher hatte mich der Wolfgang Schulz gefragt, der Professor war für Pädagogik an der PH, ob ich nicht als Lehrerin in den Hochschuldienst kommen will. Und da habe ich gesagt, nein, ich möchte wenigstens einmal bis zur 10. Klasse meine Klasse als Klassenlehrerin weiterführen. Ich war ja zwei Jahre Fachleiterin für Deutsch in der gerade aufbauenden Schule, das wollte ich nicht so nach zwei Jahren gleich abbrechen. Aber als ich den Brief gekriegt habe, da habe ich gesagt nee. Die hatten schon die anderen Lehrer eingeteilt, wer die Klasse begleiten sollte und ich sollte in der Zeit zu Hause bleiben. Und da kannst du wieder sagen, wenn ich diesen Brief nicht gekriegt hätte, dann wäre ich wohl auch nicht an die PH gegangen. Ich wollte das eigentlich nicht. Wenn ich da weiter ohne Widerstände hätte arbeiten können, wäre ich vermutlich irgendwann mal in absehbarer Zeit gerne Schulleiterin einer Gesamtschule geworden. So, aber nun war ich da an der PH. Wechsel an die PH
I: Und der Kontakt zur Integrationspädagogik wann kam der?
Jutta Schöler: Der kam erst viel viel später, erst 1989. Da kommt jetzt nochmal der nächste Schritt. Also ich war im Bereich Grundschulpädagogik Lehrerin im Hochschuldienst, so nannte sich das, bei dem Wolfgang Schulz an der PH und dann wurden neue Professuren ausgeschrieben für Didaktik Sekundarstufe I, weil geplant war, es war 1971/72, die Gesamtschulen auszubauen. Ich sag mal so, wie man heute an der Uni Potsdam zusätzliche Hochschullehrerstellen schafft, weil man es ernst meint mit der Inklusion, dafür müssen wir die Lehrer ausbilden. Es war so ähnlich. Nun müssen wir Lehrer für Gesamtschulen ausbilden und es sind neue Professuren gebildet worden. Und da habe ich mich beworben. Da habe ich gedacht, dies ist genau das Richtige. Ich war nicht promoviert, ich hatte ein paar klitzekleine Sachen veröffentlicht. Es waren Rahmenbedingungen, damit würdest du heute nicht mal eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter kriegen. Aber es war eben gefragt: Wer hat in diesem Bereich überhaupt Erfahrungen? Lehrer, die schon an Gesamtschulen unterrichtet hatten, gab es ja faktisch nicht. Und mit meinem einen Jahr in der Planung am Pädagogischen Zentrum da hatte ich auch ein bisschen was geschrieben. Es gab nur zwei Lehrer in Berlin für diese Planungen, einer für Britz-Buckow-Rudow und ich hier für Spandau. Da habe ich mich beworben und es war sicherlich so, dass ich da neben den anderen Bewerbern gute Chancen gehabt hätte. Professur für Didaktik der Sekundarstufe
Das war dann der nächste große Zufall in meinem Leben, ich habe die Eingangsbestätigung für meine Bewerbung bekommen und dann habe ich nichts mehr gehört. Dann ruft mich eines Tages einer von den Studenten an, die bei mir an der Gesamtschule ein Praktikum gemacht hatten und der sagte: „Du hattest doch gesagt, du hättest dich für die Stelle „Didaktik der Sekundarstufe I“ beworben?“ Der war Studentisches Mitglied im Akademischen Senat, der über diese Bewerbung zu entscheiden hatte. Da sagt er: Wir haben das morgen auf der Tagesordnung. Da kommt dein Name überhaupt nicht vor, keine Bewerbungsunterlagen, kein gar nichts. Also dann bin ich zu dem hin, habe alle meine Bewerbungsunterlagen, so einen kleinen Stapel an Veröffentlichungen, die Eingangsbestätigung für meine Bewerbung alles mitgenommen. Und er – Klaus Wiese – hat gleich eine Synopse gemacht im Vergleich zu demjenigen, der an erster Stelle von meinen Herren Kollegen auf die Berufungsliste gesetzt worden war. Also dies war so eine durchgängige Erfahrung von mir: Ich war mehr oder weniger zufällig irgendwo die erste Frau in einer Männerwelt. Im Reisebüro, im Pädagogischen Zentrum. Viel habe ich auch mitgekriegt von meiner Schwester, die als Technische Zeichnerin die einzige Frau unter männlichen Kollegen war. Meine Kollegen, das waren sieben Männer. Derjenige, der den Vorsitz in dieser Berufungskommission hatte und der das dann auch im Akademischen Senat vertrat, stand kurz vor seiner Pensionierung und hat wohl nicht im Traum damit gerechnet, dass sowas auffliegen könnte, eine Bewerbung zu unterschlagen. Das war ja nun ein totaler Zufall, dass dieser Student, der als Studentisches Mitglied im Akademischen Senat war, dass der mich kannte und dass wir uns zufällig auch getroffen haben und ich ihm erzählt habe, dass ich mich für diese Stelle beworben habe. Und das war dann ganz eindeutig, dass ich eigentlich in Bezug auf alle Punkte die besseren Voraussetzungen hatte. Dieser Student hat in der Senatssitzung praktisch so eine Bombe platzen lassen. Es war die Zeit, Herbst 71, wo an den Berliner Hochschulen wirklich die Studentischen Unruhen hochkochten. Wenn Studentische Selbstverwaltung für irgendwelche Demos aufgerufen hat, da waren selbst an der Pädagogischen Hochschule in Lankwitz draußen alle auf den Beinen, Polizeieinsatz und sonst was. Kann man sich heute gar nicht vorstellen, muss man sich alte Filme angucken, um das nachvollziehen zu können. Jedenfalls hat Klaus Wiese gesagt: „Schaut euch diese Unterlagen an, daraus machen wir ein Politikum, wenn das nicht geändert wird.“ Dann haben die in der Senatssitzung die Liste geändert, dass ich auf den ersten Platz kam. Ich weiß auch nicht, ob ich es noch einmal versucht hätte, wirklich. Den Studenten habe ich es eindeutig zu verdanken, dass ich die Professur bekommen habe. Klaus Wiese war damals schon Filmemacher, hat ein Lehrerstudium zur Sicherheit zusätzlich gemacht. In seinem Film „Schneeglöckchen blühn im September“ habe ich eine Rolle als Lehrerin gespielt. Geschlechterdiskriminierung an der PH

 

 

 

 

Die ganze Zeit – 60er und 70er Jahre – hatte ich Gesamtschule im Kopf. Ich wollte Gesamtschule entwickeln. Und ich habe damals die Lehrpläne von Hauptschule, Realschule, Gymnasium angeschaut und geplant, wie die für Gesamtschule vereinheitlicht werden können. Das war eine Zeit, wo die Hauptschulpflicht in Berlin nur 9 Jahre war. Es gab einen Schulversuch, ein freiwilliges 10. Schuljahr. Dafür musste man die Schülerinnen und Schüler extra vorbereiten und die mussten einen bestimmten Zensurenschnitt erreichen, um dann nach der 8. Klasse zu Extraklassen zusammengeführt zu werden, um das freiwillige 10. Schuljahr zu machen. Gesamtschule
Die Hauptschule, an der ich unterrichtete, war unmittelbar neben einem großen Flüchtlingsheim. Die Familien dort kamen aus der DDR. Ein Stückchen weiter gab es die sogenannte „Mau-Mau-Siedlung“. Das war eine Wohnsiedlung, die zum Teil auch keine Wohnungstüren hatte, weil die Leute diese immer eingeschlagen haben. Dort wurden Leute hingeschickt, die ihre Miete nicht mehr bezahlen konnten. Diese Jugendlichen waren meine Schüler, die waren mir wichtig. Benachteiligte Schüler/-innen
Ja das war also von 1972 bis 1980 an der PH. Da habe ich gearbeitet für die Ausbildung künftiger Lehrerinnen und Lehrer der Gesamtschulen. Dann hieß es: Auflösung der PH und Integration in die Universitäten. Es war die Frage, welche Leute gehen an die TU und welche gehen an die FU oder an die Hochschule der Künste? Da ist entschieden worden, dass die Sonderpädagogik an die FU geht, die vorher auch an der PH war. Aber mit denen hatte ich in meiner PH-Zeit oder auch als Lehrerin nie was zu tun. Integration der PH in die Universitäten

 

Nicht allzu weit weg von meiner Hauptschule, wo ich unterrichtet habe, gab es das Johannis-Stift. Dass dort auch eine Heimsonderschule für körperbehinderte Kinder ist, das wusste ich damals überhaupt nicht, war nie Thema. Und in der gesamten Planungszeit für Gesamtschulen waren Kinder mit Behinderungen nie das Thema. Der Erste, der das Thema aufgegriffen hat, war dann Ulf Preuss-Lausitz mit seiner Promotion „Fördern ohne Sonderschule“. Aber der hatte auch nur Kinder mit Lernbehinderung im Kopf. In diesen damaligen Planungsphasen haben alle gesagt: „Nee Leute lasst mal die Finger davon. Hauptschule, Realschule, Gymnasium zusammen zu unterrichten, das ist schon fast unmöglich. Wenn wir jetzt noch von Kindern mit Lernschwierigkeiten reden, nee nee, dann kriegen wir das politisch nie durch.“ Und das war ja zu einer Zeit auch „Hoch-Zeit des kalten Krieges“. Nach außen hin stellte sich die DDR-Schule ja so dar, dass dort die Schule für alle war. Deswegen mussten damals die Gesamtschulen demokratische Leistungsschule heißen. Politisch argumentiert wurde gegen die Gesamtschulen: „Wenn ihr hier sowas wollt, so was ähnliches, wenn euch das hier nicht passt das Schulsystem, dann geht doch gleich rüber.“ Aber Integration von Kindern mit Behinderung war in der Planungsphase der Gesamtschulen, Mitte der 70er Jahre, kein Thema absolut nicht und ich hatte auch selber nichts damit zu tun. Gesamtschulbewegung und die Dimension Behinderung
Und dann sind es wieder zwei Zufälle, dass ich mich doch damit beschäftigt habe. Die eine Sache: Dieses Lehrgebiet „Didaktik der Sekundarstufe I“ wurde mit der Auflösung der PH einfach abgeschafft. Ich hatte keine Lehrveranstaltungen mehr. So ein oder zwei Semester war noch eine Übergangszeit, aber ich war ordentlich berufen. Einige wenige Studenten brauchten noch Seminare. Es hat sich wirklich kein Mensch darum gekümmert, was mit diesen Professuren „Didaktik der Sekundarstufe I“ wird, die alle an die TU gegangen sind und die sich alle unterschiedlich orientiert haben. Abschaffung des Arbeitsgebietes und Neuorientierung
I: War Ulf auch mit dabei?
Jutta Schöler: Ja, aber der war ja nicht in der Didaktik, der hatte ja eine Stelle an der PH schon in der Erziehungswissenschaft Allgemeine Erziehungswissenschaft, Allgemeine Pädagogik, mit Sonderpädagogik hatte er auch nichts am Hut. Ja und dann kam noch dazu, dass ich 1976 und 1978 meine Kinder bekommen habe. Mit Tagesmutter und meinen Eltern war ich so organisiert, dass ich weiter voll berufstätig war. Also es war Sommer 1980, meine Hochschullehrerstelle ist nichts mehr wert, mein Mann hatte sich 1979 von mir getrennt, ich musste sehen, wie ich alleine mit den Kindern klarkomme, die ich vorher in so einer Links-Alternativen-Eltern-Initiativ-Kita hatte. Da mussten die Eltern selber putzen und kochen und haben sich einmal in der Woche gestritten, ob es Sternchennudeln oder gesundes Gemüse gibt, war alles nicht mehr drin. Ich musste sehen, dass ich die Kinder in der normalen Kita dann untergebracht habe, kam alles zusammen.
Und da habe ich etwas gemacht, was ich eigentlich die zehn Jahre vorher an der PH-Zeit oder auch die vier Jahre vorher oder fünf oder sechs Jahre als Lehrerin nie konnte. Ich habe mich ab und zu mal ganz ruhig in die Bücherei gesetzt und mir die neuesten Zeitschriftenveröffentlichungen angeschaut. Nichts richtig gesucht, aber ich habe gedacht na okay mal schauen, was mich interessiert. Und da war wieder so ein Auslöser, dieser Aufsatz von dem Ludwig-Otto Roser in der Zeitschrift Päd. Extra, Heft 3/1981: „Wo es keine Behinderungen mehr gibt: Schule ohne Aussonderung in Italien“. Ich habe diesen Aufsatz gelesen und dachte: “Das kann nicht wahr sein. Wir kommen hier überhaupt nicht voran mit der Zusammenführung von Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien.“ Dies ging einfach nicht voran, der politische Widerstand war wie sonst was heftig. Und die schaffen in Italien die Sonderschulen ab. Das Gesetz war ja da schon seit 1976 gültig. Und da habe ich gesagt, Papier ist geduldig, aber ich war neugierig und habe den Ludwig-Otto Roser zu einem Vortrag eingeladen. Das war noch in den Räumen der PH, eigentlich waren wir schon TU, aber das Gebäude in der Franklinstraße war noch nicht fertig, kann ich mich noch genau erinnern. Und dann hat Ludwig-Otto Roser seinen Vortrag gehalten. Das hat sicherlich auch zur Wirkung für mich beigetragen und für alle diejenigen, die da zugehört haben. Italien: Inspiration aus Italien durch Ludwig-Otto Roser
Es gibt die Monika Aly, ich weiß nicht ob du von der was gelesen hast? Das ist eine Krankengymnastin hier aus Berlin. Eine Krankengymnastin, die sich spezialisiert hat und bis heute immer noch engagiert tätig ist in der guten Förderung von Kindern mit einer spastischen Behinderung. Sie hatte vorher ein Jahr ein Praktikum gemacht in Florenz, im Ambulatorium von Adriano Milani-Comparetti. Er war in Florenz der Arzt, der dort in Italien im Wesentlichen dieses Thema Integration von Kindern mit Behinderung voran gebracht hat. Monika Aly kam da gerade frisch von diesem Praktikum zurück. Dieser Raum, in dem der Vortrag stattfand, war knacke voll. Sie kam dann rein mit einem Schäferhund. Es war damals noch üblich, während Lehrveranstaltungen zu rauchen, auch ich habe vorne gesessen und geraucht. Manchmal musstest du in so einen Raum reingehen und erstmal nach Luft schnappen und es war durchaus üblich, Hunde mitzunehmen, Kinder mitzunehmen, zu stricken, so. Und dann gab es also den Vortrag von dem Ludwig-Otto Roser. Er war sehr beeindruckend. Und es gab ganz viel Widerstand. Da waren dann auch die Sonderpädagogen, die damals noch in der PH waren, und wollten den Ludwig-Otto Roser klein machen. Das sei doch alles irgendwie gesponnen, dass man Sonderschulen auflösen kann und es muss doch immer noch einen Rest geben. Und diese Monika Aly platzte: „Ich war jetzt ein Jahr da und ich habe es mir angesehen und ich kann das vergleichen und ich weiß, wie es den Kindern hier geht, die ich in der Therapie habe, wenn die nicht in die Schule um die Ecke gehen dürfen, wie die Geschwisterkinder…“ und so. Italien: Praxisbeispiele
Naja, ich habe also dann geglaubt, was ich erst gelesen habe. Nach dem Vortrag habe ich zu Ludwig-Otto Roser gesagt: Ich möchte mir das vor Ort mal anschauen, ob er mich unterstützen könnte, dass ich da auch mal hospitieren kann. Er sagte, ja – ich muss nur Italienisch lernen. Also es hat überhaupt keinen Sinn da in irgendwelche Schulen zu gehen. Die Lehrerinnen können kein Deutsch und in der Regel auch kein Englisch. Jahre später hat er mir gesagt, dass er damit die meisten Leute abgewimmelt hat. Ich hatte dann noch das Zusatzproblem, dass ich alleine mit zwei kleinen Kindern war und ein Quartier brauchte. Na dann habe ich etwa zwei Jahre lang in verschiedenster Art und Weise italienisch gelernt, überall gefragt ob nicht jemand jemanden kennt, der in der Nähe von Florenz ein Haus zu vermieten hat. Das habe ich tatsächlich gefunden. Italien: Hospitationen
Dann habe ich in Seminaren gefragt, welche Studenten mitkommen wollen, damit wir uns das teilen: Kinderbetreuung und in die Schulen gehen. Da sind auch fünf Studentinnen mitgekommen, zwei von denen waren nachher die ersten, die hier in Berlin als Regelpädagogen an einer Regelschule in einer Integrationsklasse ihr Referendariat machen durften, hart erkämpft, in der Rothenburg-Grundschule war das. Ich bin mit den zwei Kindern, mit fünf Studenten, mit Fahrrad, mit der Bahn nach Florenz gefahren. Es gab noch kein Internet, es gab keine Handys, man konnte ungefähr schauen, wie weit das Haus vom Bahnhof entfernt ist. Das Haus haben wir gefunden. Zum Erstaunen der Lehrerinnen, die ich dann da kennengelernt habe, bin ich zum Teil mit den Kindern auf Kindersitzen in die Schulen gefahren, und zum Teil sind die Kinder im Haus bei den Studentinnen geblieben, sechs Wochen lang. Mit einigen dieser Lehrerinnen bin ich bis heute befreundet. Von dem Haus war es eine Stunde Busfahrt bis in die Stadt, der Bus fuhr so etwa vier mal am Tag und um zu der Bushaltestelle zu kommen, musste man noch etwa eine halbe Stunde mit dem Fahrrad fahren, die Berge hoch und runter.
Dann waren wir da und dann kommt der nächste große Zufall. Ich hatte diese Exkursion vorbereitet über Ludwig-Otto Roser. Wir hatten von Berlin aus einen Termin für ein erstes Gespräch gemacht. Briefe haben damals entweder drei Tage oder drei Wochen gedauert. Man wusste bloß vorher nie, wie lange. Es gab kein E-Mail, kein Fax, kein Handy und auch keine Anrufbeantworter. Das Ferienhaus gehörte einer Frau, die ziemlich viel von ihrem eigenen Wein getrunken hat. Das Haus war groß genug für fünf Studentinnen. Das Haus war nicht zu heizen oder nur mühsam, nur wenige Räume, das war im Frühjahr manchmal ziemlich kalt. Dann hatte ich also mit dem Ludwig-Otto Roser einen Termin gemacht. Die Kinder habe ich bei den Studentinnen gelassen und bin mit meinem damaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter zusammen mit dem Fahrrad zur Bushaltestelle gefahren, um dann mit dem Bus in die Stadt zu fahren. Da haben wir gerade noch die Rücklichter von dem Bus gesehen. So haben wir Autostopp gemacht. Da kam, ein glücklicher Zufall, die Vermieterin von unserem Haus. Sie fragte, warum ich überhaupt da bin, was ich denn da vorhabe? Mit meinem mühsam erworbenen Italienisch, was ich vorher zweimal schon im Urlaub angewandt hatte, mit Wörterbuch, habe ich ihr klargemacht, welches Interesse ich habe. Sagte sie, ach wissen sie, wenn das ihr Interesse ist, da lad ich mal den Milani-Comparetti zum Kaffeetrinken ein. Milani-Comparetti war dort der unmittelbare Nachbar. Mit Ludwig-Otto Roser hatte ich ein schön vorbereitetes Interview. Er war ja Deutsch-Italiener, konnte gut Deutsch, war dann kein Problem. Ich habe ihn über das italienische Schulsystem und Integration in Italien und die Reformen in Italien ausgefragt. Er hat mir die ersten Adressen von Schulen genannt, wo ich hospitieren konnte. Am Ende des Interviews sagte er: „Wenn Sie noch mehr wissen wollen, auch wie das so in den Anfängen war, dann verschaffe ich Ihnen auch einen Termin bei Milani-Comparetti.“ Und da habe ich ihm erzählt, wo wir wohnen, er sagte, ach so na dann ist ja klar und so. Gut und dann hat die Señorita gleich für den nächsten Sonntag zum Kaffeetrinken eingeladen und der Milani-Comparetti konnte auch sehr gut Deutsch. Der kam aus einer reichen jüdischen Familie und hatte immer deutsche Kindermädchen, hat er mir erzählt.
Italien: Exkursionen mit Studierenden

 

 

 

 

 

 

Ja und dann haben wir bei der Se­ño­ra Kaffee getrunken. Milani-Comparetti hat sich mehr mit den Kindern beschäftigt als mit mir. Wir haben ein bisschen über Garten, Kinder und sonst was beim Kaffee trinken geplaudert, so als Nachbarn. Zum Schluss habe ich dann gesagt, dass ich auch so ein bisschen aus fachlichem Interesse hier bin und darüber würde ich mich auch gerne mal mit ihm unterhalten. Und da sagte er: Aber nicht hier. Da machen wir einen Termin im Ambulatorium. Hier können sie jederzeit vorbeikommen, ja, aber dann geht es nur um Pflanzen und Kinder.“ Und so war ich da regelmäßig und meine Kinder liebten ihn. Aber ich habe auch offizielle Termine mit ihm gemacht. Milani-Comparetti ist leider 1986 relativ früh verstorben. Ich habe alle seine Schriften gelesen und über ihn und über seine Arbeit etwas veröffentlicht. Kontakt zu Milani-Comparetti
Das war ein Bruderpaar: Don Lorenzo Milani, ein katholischer Priester, der sich in Italien in den 60er Jahren vor allem mit benachteiligten Kindern beschäftigt hat. Dieses Buch “Brief an eine Lehrerin“ ist eine Anklage an das selektive Schulsystem in Italien, das es in den 60er Jahren gab. Da gab es eine riesige Lehrerbewegung, auch gerade engagierte katholische Priester haben versucht, die italienische Schule zu reformieren, dass möglichst mehr als 40 % der Schüler auch wirklich mehr als 5 Jahre Unterricht bekommen. Anfang der 60er Jahre war das ein ganz großes Problem. Und Don Lorenzo Milani hat dadurch auch viele Probleme mit seiner eigenen katholischen Kirche bekommen. Der ist strafversetzt worden nach Barbiana, einem kleinen Bergdorf im Appenin. Wenn du mal nach Italien kommst und mit Lehrern dort sprichst: Die Scuola di Barbiana ist die italienische Reform, um für benachteiligte Jugendliche wirklich eine Schulbildung zu bekommen. Und parallel dazu ist von ganz anderen Gruppen eine Bewegung ausgegangen, z.B. von Ärzten zur Auflösung der Sonderschulen und da war eben Adreano Milani-Comparetti dabei. Das waren die Vorkämpfer, parallel zur Psychiatriereform. Auflösung von Sonderinstitutionen, Auflösung der Sonderschulen und konsequente Integration in die Regelschulen. Scuola di Barbiana
Ja, dies habe ich gründlich auf diese Art und Weise kennengelernt, hatte dann danach auch noch mehr Hospitationen, Exkursionen, organisiert über die GEW. Ich habe mir da richtig vorgenommen, dass ich mit meiner Arbeit jetzt versuchen will, dazu beizutragen, dass auch hier bei uns in Deutschland Kinder mit Behinderung eine Regelschule besuchen können. Und das sicherlich auch auf Grund meiner Erfahrungen in einer Gesamtschule, wie da mit einem Schulversuch umgegangen wurde, hatte ich eine abgrundtiefe Abneigung gegen alles was sich Schulversuch nennt. Ich sage immer, Schulversuche sind in Deutschland das raffinierteste Mittel, um von wahren strukturellen Veränderungen abzulenken. Dass strukturelle Veränderungen notwendig sind und möglich sind, habe ich in Italien gesehen. Integration als Aufgabe
Aber ich weiß auch, welche anderen Bedingungen die in Italien in den 60er/70er Jahren hatten, unter anderem eine völlig andere Gewerkschaftsorganisation. Die politisch orientierten Gewerkschaften haben das durchgesetzt, dass z.B. die Klassenfrequenzen gesenkt werden, aber nicht dass die Lehrergehälter erhöht werden. Und dann habe ich hier in Berlin überlegt, wie ich mich hier engagieren kann. Das ging eigentlich los, indem ich Kontakt aufgenommen habe hier zu der Behindertenfürsorge Spandau. Es war damals schon ein sehr engagiertes Team, die schon Anfang der 80er Jahre was im Kindergartenbereich gemacht haben. Italien: Gewerkschaften
Also es war die Zeit, wo es die ersten Modellversuche gab, Kindergarten Adalbertstraße, Kinderhaus Friedenau, auch hier in Spandau gab es einen Modellkindergarten. Damals war Hanna Renate Laurien von der CDU Schulsenatorin, sie war auch für die Kindergärten zuständig. Es gab hier in Berlin drei Modellkindergärten und es gab weitere Eltern, die auch so ähnlich wie im Kinderhaus Friedenau wollten, dass ihre behinderten Kinder in Regelkindergärten gehen können. Das ist nicht genehmigt worden, weil angeblich erst die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung ausgewertet werden müssen. Eine Leiterin von der damaligen Kita Adalbertstraße hat es auf die eigene Kappe genommen, die guten Ergebnisse vorweg zu veröffentlichen und hat dafür ein Disziplinarverfahren bekommen, weil sie das nicht durfte, ja das waren so die Zeiten. Modellversuch im Kindergarten
Und ich habe über die Behindertenfürsorge Spandau Kontakt zu einzelnen Eltern von einzelnen Kindern mit Behinderungen bekommen, am Anfang körperbehinderte Kinder, in einem Fall auch ein schwer mehrfach körperbehindertes Kind, was damals in einem Krankenhaus Einzelunterricht hatte, da es selbst an einer Körperbehindertenschule als nicht beschulbar galt. Auf Bitten der Mutter habe ich es dann geschafft, dass die in die selbe Klasse kam wie meine eine Tochter. Und das ganze Team, aber allen voran die Margot Krischok von der Behindertenfürsorge, die haben von ihrer Seite aus das unterstützt. Da kamen wir gemeinsam auf die Idee, dass man das Thema Einzelfallhilfe in die Schule verlagern könnte. Damals war das so, dass Eltern den Anspruch hatten, für eine bestimmte Stundenanzahl zu Hause entlastet zu werden, wenn sie ein Kind mit Behinderung hatten. Nur für die Eltern zu Hause, Anfang der 80er Jahre. Niemals ist da eine zusätzliche Person mit einem behinderten Kind in die Regelschule gegangen. Und die Mitarbeiter der Behindertenfürsorge haben Verträge entworfen, dass die Eltern dieses Anrecht in die Schule verlagern können. Und damals waren also die Eltern die Auftraggeber, das ging nur über ein Honorar. Das war auch die Zeit als sich die Vereine „Eltern beraten Eltern“ und „Eltern für Integration“ zusammengeschlossen hatten. Es gab etliche engagierte Sozialarbeiter, Sozialarbeiterinnen in den Bezirksämtern von West-Berlin, sehr unterschiedlich. Die Mauer stand noch in Berlin – zu Ost-Berlin gab es keine Kontakte. Spandau war Vorreiter, Reinickendorf hat viel gemacht, aber es gab auch andere Bezirke, wo dies nicht lief. Dann brauchte ich die Genehmigung des zuständigen Schulrates, damit diese Einzelfallhelfer dann auch wirklich in die Schule gehen dürfen. Und dafür war dann in Spandau wieder der Herr Virian zuständig, der Jahre vorher dafür gesorgt hatte, dass ich die Klasse seiner Tochter bei der Klassenfahrt nicht begleiten durfte. Inzwischen war seine Tochter selbst fertig mit dem Medizinstudium. Aber ich kam um den Herrn Virian nicht herum. Da habe ich eine Tischvorlage gemacht, habe die Einzelintegration in der Sekundarstufe im Bezirk Spandau beschrieben und was man da auch wissenschaftlich untersuchen könnte. Ich brauchte die Genehmigung des zuständigen Schulrates. Und da schaute er sich das an und sagte: „Frau Schöler, ich habe ja schon lange die Erfahrung mit Ihnen gemacht, was sie sich in den Kopf gesetzt haben das setzen sie durch, hat ja wohl keinen Sinn, dass ich mich hier noch wehre“. Da hat er einen Brief an die beteiligten Schulen aufgesetzt, man möge mich unterstützen. Einzelfallhilfe in Schulen zur Einzelintegration
Dann habe ich Anfang der 80er Jahre angefangen, Seminare anzubieten, die ich ‚Schulorganisation‘ genannt habe. Wie Schule hier organisiert ist und wie sie in anderen Ländern organisiert ist. Es waren nur wenige Studenten, die da hingekommen sind und da habe ich viel Zeit in der Beratung von Schulen und von Lehrern für diese Einzelintegrationsmaßnahmen verbracht. Dann entstand so nach und nach auch der Kontakt zu den Kolleginnen der Fläming-Grundschule, aber in der Sekundarstufe war das Thema damals noch nicht angekommen. Beratung von Grundschulen zur Einzelintegration
Und dann gibt es noch eine Parallele für mein Interesse am Thema Kinder mit Behinderung. Meine ältere Tochter ist 1976 geboren, die war die ersten zwei Jahre in einer Elterninitiativkita. Dort war eine Erzieherin tätig, die vorher im Johannesstift mit den behinderten Kindern gearbeitet hatte. Und die hat einmal im Monat die Gruppe der behinderten Kinder in unsere schöne Einrichtung gebracht. Das war so eine große Laube in einem großen Laubengelände. Da kam dann eine Gruppe von 8-10 Kindern mit Behinderung, die sonst immer nur irgendwo weit weg, im Wald waren. Da habe ich selber beobachtet, wie problemlos die behinderten und nichtbehinderten Kinder miteinander umgegangen sind. Und gleichzeitig, da war ja nun immer Elterndienst und Kochdienst, dass dann immer die Diskussion unter den Erwachsenen war: Die Christa hat wieder die Behinderten eingeladen. Und dann ging das Geschiebe los. Wer hat denn an dem Tag Dienst? Da habe ich festgestellt: Mir macht das nichts aus, an so einem Tag Dienst zu haben. Und ich habe die mit Interesse beobachtet, wie die Kinder da so miteinander gespielt haben. Also dies kam für mich so parallel genau zur selben Zeit Italien und Kindergarten der Tochter. Das hat mich sicherlich auch beflügelt in dem Gebiet weiter zu machen. Du hast ja deine Frage von der Theorie her gestellt, welches meine Bezüge zur Praxis sind. Meine Motivation geht von der Praxis aus, total und ich habe mich nur mühsam Theorien angenähert. Manches, was ich dann versucht habe, dass musste ich ja wohl lesen, weil ich das vielleicht auch den Studenten dann empfehle. Erfahrungen aus der Kita des eigenen Kindes

 

 

 

I: Und gibt es Leute, wo du sagst, die waren besonders wichtig als Mitstreiter?
Jutta Schöler: Nochmal hier für die Arbeit in West-Berlin eigentlich wirklich im Wesentlichen diese Kolleginnen von der Behindertenfürsorge, die waren damals ein richtiges Team und haben richtig gut gearbeitet. Haben sich da auch gegenüber anderen Bezirken unbeliebt gemacht. Es war damals wirklich so, das hat sich unter betroffenen Eltern rumgesprochen. Da sind etliche Eltern deswegen von sonst woher nach Spandau umgezogen, weil sie wussten, hier werden sie unterstützt. Dann habe ich darüber relativ früh auch Kontakt gehabt mit Ulla Widmer-Rockstroh. Die gehörte damals zu einem Team von Lehrerinnen hier in der Christian-Morgenstern-Grundschule im Falkenhagener Feld. Das war auch eine Grundschule, wo damals schon viele benachteiligte Kinder waren. Ein engagiertes Lehrerteam wollte auch so wie die Fläming-Grundschule oder dann später die Uckermark-Grundschule auch Integrationsmodellschule werden. Damals hat aber die SPD von dem Thema nicht allzu viel gehalten. Es war hier in Spandau ein SPD-Stadtrat und für dieses Gebiet auch der SPD nahestehende Schulräte, die vor der einseitigen politischen Beeinflussung Angst hatten. Die haben das Team der Lehrerinnen der Christian-Morgenstern-Schule kaputt gemacht. Acht Lehrerinnen haben ein Disziplinarverfahren bekommen. Von etwa 45 Lehrern sind 20 verteilt worden an andere Schulen. Vorgeworfen wurde ihnen, dass sie andere Formen der Leistungsbewertung erprobt haben. Die haben den Schülern neben den Ziffern-Zensuren Wortzeugnisse gegeben ohne die Obrigkeit zu fragen. An einem Freitag vor der Vergabe der Zeugnisse haben acht von denen erfahren, dass sie ab Montag Hausverbot haben. Also so was kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Also gerade die Ulla Widmer-Rockstroh, die war auch eine wirkliche Kämpferin; die ist danach an die Uckermark-Schule gegangen. Also mit diesen Lehrerinnen habe ich viel gemacht. Lokale Netzwerke mit der Behindertenfürsorge und Lehrerinnen
Dann an der TU hat sich das so nach und nach entwickelt, dass es eine zwiespältige Kooperation zwischen Ulf und mir gab. Wir waren uns nicht so besonders grün, vor allem aus den Gesamtschulerfahrungen. Da gab es nämlich Situationen, wir hatten da als Lehrerinnen und Lehrer zum Beispiel auch den Kampf mit den ersten Drogenerfahrungen. Dann wurde eine Konferenz angesetzt, ob ein Jugendlicher, den sie da als Dealer erwischt haben, ob er der Schule verwiesen wird oder nicht. Und dann gab es eine Spaltung im Kollegium, die einen, die gesagt haben, wir können ihn nicht einfach wegschicken und was ist dann? Vor allem weil sich kein Mensch darum gekümmert hätte, wo er denn dann hin kommt, einfach nur weg. Und die anderen, die gesagt haben, dies ist nicht unsere Aufgabe. Kooperation mit Kollegen vor Ort
Und da habe ich den Ulf mal angerufen, da er ja wissenschaftliche Begleitung war, und habe ihm gesagt, wann diese Konferenz ist und dass der damalige Schulleiter, der Herr Dr. Verdenhalven doch immer so darauf schielt, was die wissenschaftliche Begleitung sagt. Und da hat sich der Herr Preuss-Lausitz, wir haben uns damals noch distanziert gesiezt, bei mir bedankt, dass ich ihn darüber informiert habe, dass das so läuft. Dann kommt er auf keinen Fall, denn das wäre ja eine mögliche Beeinflussung seiner Tätigkeit als objektiver wissenschaftlicher Begleiter. Der Jugendliche wurde der Schule verwiesen. Rolle der wissenschaftlichen Begleitung
Dann hatte ich damals auch Schwierigkeiten am Anfang mit seiner Art zu schreiben. Das war meiner Einschätzung nach immer sehr abgehoben und sehr Fremdwörter gespickt und wenig wirklich praxisbezogen. Aber es ging so los, dass er wohl doch auf mein Urteil ein bisschen gehört hat und mir auch häufiger Texte gegeben hat, die ich anschauen sollte, bevor er sie veröffentlicht hat und sich dann auch auf Kritik eingelassen hat. Und so haben wir uns dann nach und nach angenähert. Es ist schon eindeutig, dass er eher was mit Zahlen und Fakten macht, ich bin ja ganz froh, dass er das macht und ich begreife meine Arbeit dann eher als eine qualitative Sache. Lesbarkeit von Veröffentlichungen
Dann bin ich noch mit Peter Heyer auch immer sehr gut klargekommen. Den kannte ich auch schon aus den Zeiten am Pädagogischen Zentrum. Und die Art und Weise, wie er gearbeitet hat, was er wollte, war immer gut. Wir haben dann nach dem Fall der Mauer in Brandenburg zusammen gearbeitet. Bei der wissenschaftlichen Begleitung der Einführung von Integration im Land Brandenburg waren wir drei glaube ich ein ganz gutes Team. Das war ja dann aber Anfang der 90er Jahre. Teamarbeit für das Land Brandenburg
Also in den 80er Jahren war das wirklich Einzelkampf für Einzelintegration. Ich bin dann auch zum Beispiel einmal zu einer Lehrerkonferenz in die Fläming-Schule geladen worden, quasi vorgeladen. Man warf mir vor, dass ich mit meinem Engagement für Einzelintegration ja die guten Rahmenbedingungen für Schulversuche wie in der Fläming-Schule kaputt mache. Das ist wirklich die Kontroverse und das ist bis heute. Einzelkampf für Einzelintegration
Heute dafür zu sein, dass es Schwerpunktschulen gibt, das halte ich wirklich für absolut falsch. Gerade für die relativ seltenen Behinderungen. Ich habe mal eine empirische Erhebung gemacht hier für Spandau. Ich konnte alle Akten der Behindertenfürsorge Spandau mit Hilfe einer Tutorin auswerten. Da konnte ich die Kinder mit den unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkten jeweils ihren Wohngebieten zuordnen. Da wurden pro Jahr zwei hochgradig hörgeschädigte Kinder eingeschult – das eine irgendwo im Süden, das andere im Norden. Und ich bleibe dabei: Für Kinder ist die wichtigste Ressource ihrer Entwicklung der Kontakt zu anderen gleichaltrigen Kindern. Im Kindergartenalter ist es inzwischen überhaupt kein Thema mehr. Als ich mit dem Thema mal angefangen habe, hieß es: Kindergarten könne man sich noch vorstellen, aber Schule… Aber damals gab es hier auch in Spandau einen großen Sonderkindergarten für körperbehinderte Kinder und die meisten Sonderschulen hatten eigene Vorklassen. Ich denke, das ist im Kindergartenalter überwunden und in der Grundschule geht es noch und ich sag in der Sekundarstufe ist es nur vertretbar, wenn diese Kinder denselben Schulweg, dieselben Entfernungen haben wie Nachbar- oder Geschwisterkinder und nicht hier irgendwo hinfahren müssen. Das finde ich total falsch bis heute. Schwerpunktschulen als Irrweg
I: Und was sind aus deiner Sicht die größten Herausforderungen für den Bereich integrative Pädagogik? Sowohl aus deiner persönlichen Sicht als auch allgemein.
Jutta Schöler: Dass Lehrer wirklich Kooperation lernen müssen. Lehrer müssen kooperationsfähig werden. Die allermeisten Lehrer sind nicht beruflich für Kooperation sozialisiert. Man kann manchmal auch den Verdacht haben, dass Leute sich für diesen Beruf entscheiden, weil sie denken, dann habe ich nicht so viel Auseinandersetzungen mit anderen im selben Ausbildungsniveau. Ich habe nun wirklich viele Schulen beraten. Ich kann verallgemeinern: da wo es gut geht, da gelingt die Kooperation. Und da wo es immer wieder knirscht, wird dies meistens an den Kindern festgemacht. Die Kinder müssen raus. Aber wenn man genau hinschaut, dann sind es Rivalitäten zwischen den Lehrern. Dann kriegen die das nicht hin, dass es verbindliche Absprachen gibt. Kooperation als Herausforderung
Ein positives Beispiel ist eine der Preisträgerschulen für den Jacob-Muth-Preis. Die Gemeinschaftsgrundschule Wolperath-Schönau. Das Kollegium hat gemeinsam die Entscheidung getroffen, sie sind täglich von 7.30 Uhr bis 16.30 Uhr alle in der Schule. Und in der Zeit wird alles an Kooperation organisiert. Aber wenn sie dann um 16.30 Uhr nach Hause gehen, dann haben sie auch Feierabend. Dann haben die Lehrer auch am Wochenende nicht noch alles Mögliche für die Schule zu tun. Und daran hakt es immer wieder, auch wenn Kooperationen mit Außenstehenden nötig wären. Es wäre so gut, wenn man für die Kinder, die unbedingt Therapien brauchen, das auch mit der Schule koordinieren könnte. Es wäre gut, wenn die sich einigen könnten, vielleicht mit den Eltern und mit dem Kind selber klären, in welchen Stunden es am sinnvollsten ist, dass die Therapeutin in die Klasse kommt und nicht das Kind einzeln raus nimmt. Diese Frage der Kooperation ist das Wichtigste. Best-Practice-Beispiele
Wenn du in die Lehrerbildung gehst, das ist meine Empfehlung: Die spezifischen, behinderungsspezifischen Fragen, die sollte man sich in dem Moment aneignen, wo das Kind vor der Tür steht. Jedes Kind mit Down-Syndrom oder jedes Kind mit Autismus ist anders. Bandbreite verhindert syndromspezifische Rezepte
Aber die künftigen Lehrerinnen und Lehrer müssen schon während des Studiums das Bewusstsein in die Köpfe kriegen: Ich muss im Team arbeiten und ich muss mich im Team absprechen mit Leuten, die auf demselben Niveau sind. Es geht nicht um Hierarchien. Kooperationsfähigkeit ist die „Gelingensbedingung von Inklusion“, das ist das A und O. Teamarbeit auf Augenhöhe
I: Und gibt es Erkenntnisse aus den letzten Jahrzehnten, auch aus der Zeit der Modellversuche, wo du sagst, dass sollte auf keinen Fall in Vergessenheit geraten? Oft kann man ja jetzt den Eindruck erhalten Inklusion sei ja jetzt was total Neues. Wir wissen gar nichts. Die Generation von euch ist jetzt auch geschlossen in den Ruhestand gegangen und jetzt stehen alle so da und denken, was machen wir jetzt.
Jutta Schöler: Naja, ich denke, wenn man die Anfänge vergleicht mit jetzt, dann ist der eine fundamentale Unterschied, dass diejenigen, die damit angefangen haben, das ja auch selber alle machen wollten, zum großen Teil aus einem inneren Engagement. Wenn an einer Schule die Frage war, welcher Lehrer macht das, zumindest am Anfang, war das ja immer unter dem Vorzeichen der Freiwilligkeit. Zum Beispiel das Fichtenberg-Gymnasium in Berlin-West. Bevor dort Anfang der 80er Jahre die erste blinde Schülerin aufgenommen wurde, wurde im Kollegium darüber abgestimmt. Die Lehrer, die dann tatsächlich den Unterricht übernommen haben, haben es doch freiwillig gemacht. Wenn Vertretungsunterricht anstand und es hätte jemand in die Klasse gemusst, der nicht dafür gestimmt hat, dann musste die Mutter früh um 8.00 Uhr telefonisch erreichbar sein um ihre Tochter nach Hause zu holen; dies zu einer Zeit, als es noch kein Handy gab. Also diese Freiwilligkeit betraf ja dann doch eine Minderheit von Lehrern. Inklusion ist im Vergleich dazu der fundamentale Unterschied, dass die Institution sich darauf vorbereiten muss und dass alle gefragt sind und keiner nein sagen kann, sondern: Da kommt zum Beispiel ein Mädchen nach zwei Jahren Krankenhausaufenthalt wieder in die Schule. Da darf niemand nein sagen. Und dann müsste aalen Lehrern bewusst sein, ist vielen aber glaube ich leider nicht: In Deutschland gilt das Grundgesetzt die Gesetze gelten, die von Bundesrat und Bundestag verabschiedet wurden. Dann müssen sie das machen, auch wenn sie es nicht wollen. Es gibt ja auch Lehrer, die den nichtbehinderten Kindern nicht gut tun. Also dieses grundsätzlich Andere, dass es nicht mehr freiwillig ist und es in die Breite geht. Dann müssen sich auch diejenigen mit dem Thema beschäftigen, die sich vor 30 Jahren nicht damit beschäftigt hätten. Das ist der fundamentale Unterschied. Und ich glaube, dass das nun aus heutiger Sicht auch wichtig ist, wenn diejenigen, die heute dran sind, so wie du, das ab und zu mal reflektieren, wie das wohl so war vor 30 Jahren. Aber da muss man sich auch nicht mehr lange aufhalten. Also es ist auch selbstverständlich, dass die Leute heute in den Gaststätten und in den Hörsälen nicht mehr rauchen. Sowie in einem Esslokal nicht mehr geraucht werden darf, dürfte auch kein Lehrer mehr sagen, nee, das Kind mit Behinderung da unterrichte ich nicht. Freiwilligkeit der beteiligten Lehrkräfte als Besonderheit der Modellversuche
I: Ich habe auf der anderen Seite immer mal den Eindruck, dass wir mit den Modellversuchen gerade was Integration von Schülern mit Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung angeht, eigentlich schon mal ein Stück weiter waren als wir es heute sind und das sozusagen viele von den Erkenntnissen von damals auch dann wiederum in Vergessenheit geraten und daher rührte so ein bisschen die Frage.
Jutta Schöler: Renate Laurien hatte ja durchgesetzt, dass gegen den Willen des Kollegiums die Uckermark-Grundschule Kinder mit geistiger Behinderung nicht aufnehmen durfte. Und dann musste es nochmal ein extra Modellversuch sein. Dann war die Frage: Übergang Sekundarstufe I, der Fall Jenny Lau wurde Ende der 80er Jahre in West-Berlin bedeutsam. Wegen der Diagnose Down Syndrom hatte sie den Stempel „Geistige Behinderung“ und durfte nach der 6. Klasse in der Fläming-Grundschule nicht weiter in die Gesamtschule gehen. Es ist dann der (West-)Berlin weite der Modellversuch erfunden worden „Integration von Kindern mit geistiger Behinderung in der Sekundarstufe I“. Und da haben engagierte Grundschullehrer auch immer rechtzeitig dafür gesorgt, dass sie für den Übergang in die Sekundarstufe I eine weiterführende allgemeine Schule gefunden haben. Das war jetzt nicht mehr nur die eine Schule, die Kinder aufnimmt, die als geistig behindert bezeichnet wurden. Das war z.B. die Sophie-Scholl-Schule oder Bettina-von-Arnim-Schule in Reinickendorf usw. Es gab schon einige, es war unter einem großen Mantel, Schulversuch: Aber es waren faktisch dann immer nur einzelne Kinder mit einer geistigen Behinderung, die vorher in einer Grundschule auch integriert waren. Und das hat eigentlich immer nur dann funktioniert, wenn Grundschulkolleginnen und -kollegen mit Sekundarstufenkollegen zusammengearbeitet haben. Modellversuche in der Sekundarstufe
Ja, aber ich glaube dieses Engagement aus einem Bewusstsein, sich an einer Reform zu beteiligen, auch von unten und vielleicht gegen die Obrigkeiten, das ist jetzt nicht mehr da. Meiner Einschätzung nach wird es jetzt so wahrgenommen, dass es von oben verordnet worden ist. Die UN hat uns etwas übergestülpt. Dann wird noch in Frage gestellt, ob das überhaupt ein Gesetz ist und dann wehrt man sich dagegen. Ich glaube, das ist immer wieder die Frage nach dem halb vollen oder halb leeren Glas. Also mir geht es so, dass ich in der letzten Zeit häufiger bei Veranstaltungen zu dem Thema war, wo ich mich freue, wie viele junge Leute dabei sind. Ich meine, die Alten sterben sowieso aus oder sind pensioniert und gehen nicht mit zu solchen Veranstaltungen. Aber es gibt eine ganze Menge deiner Generation, die sich da auch engagieren. Bestimmt noch nicht genug, bestimmt noch nicht die Mehrheit. Aber es hat mal jemand gesagt: Schulen würden noch schwerer zu reformieren sein als die katholische Kirche. So reformfreudig ist das deutsche Schulwesen nicht, also das ist auch ein großer Unterschied zu Italien. Da es ist ja suspekt, wenn sich drei Jahre mal nichts geändert hat. Graswurzelbewegungen vs. Reform von oben

 

 

 

I: Und was würdest du sagen waren die wichtigsten Erkenntnisse aus diesen 30 Jahren oder 40 Jahren, die du in dem Bereich jetzt gearbeitet hast.
Jutta Schöler: Also ich sag mal, ich freue mich immer und orientiere mich daran, wenn ich positive Entwicklungen sehe, das sind meist einzelne Kinder. Eine der allerersten, Silke Hecker, sie ist jetzt eine 40 Jahre alte Frau mit einer schweren spastischen Behinderung, die in Kreuzberg in einem Wohnprojekt völlig autonom lebt. Dass sie in die Regelschule gehen konnte, das ist das Ergebnis meiner Arbeit. Damit Menschen auch mit einer Behinderung ein selbstbestimmtes Leben führen können, müssen sie das in der Schule lernen. Eigene Erfahrungen von nicht stattfindender Aussonderung müssen als etwas Positives erlebt werden. In diesem Bereich ist es nur möglich, indem man es macht. Es geht nicht anders und auch wenn am Anfang vielleicht eine gewisse Skepsis da ist und wenn man am Anfang nicht so richtig weiß, wie es alles so gehen soll, aber das ist in meinen Augen der einzig richtige Weg. Nicht mehr und nicht weniger. Abbau von Ängsten durch Erfahrungen
Ich überlege mir manchmal zum Beispiel meine ersten eigenen Erfahrungen, ich bin da als 7-Jährige in der Schweiz in eine Klasse gekommen, wo ich keinen Menschen verstanden habe. Zu diesem Dialekt kann ich bis heute perfekt umschalten, kein Problem. Der damalige Lehrer hat die Schüler immer beauftragt, mir in der Pause ein paar Wörter beizubringen und Anfang der Stunde musste ich das dann sagen. In dem Dorf, wo ich da war, waren zur selben Zeit bestimmt etwa 20 deutsche Kinder verschickt. Das war damals so eine Maßnahme vom Roten Kreuz. Später mit meinem beruflichen Engagement habe ich gedacht: Wenn sie diese 20 Kinder erstmal in eine extra Klasse gesteckt hätten, nee nee, die sind auf die ganze Schule verteilt worden. Also ich weiß nicht, wie man die Absonderung der Kinder von all den Alltagserfahrungen, die Vorbilder der Anderen wie man das theoretisch rechtfertigen soll. Eigene Integrationserfahrungen

 

 

 

 

 

 

 

 

Wie man dann damit umgeht, wie man sich dem langsam annähert, wie man auch die Ängste der Erwachsenen, die damit noch nie zu tun hatten, wie man die abbaut, das ist das große Thema. Meine letzten Veröffentlichungen waren gerade Beiträge für den RAABE-Verlag zum Thema Epilepsie, Kinder mit Epilepsie. Dafür habe ich mich auch mit Jugendlichen unterhalten, die mit dieser Krankheit in der Regine Hildebrandt Schule sind. Gerade diese Diagnose führt ja sehr sehr oft dazu, dass die beteiligten Erwachsenen so viel Angst haben, dass sie die Kinder in der Regelschule nicht aufnehmen. Aber auch diese Kinder, auch wenn sie während der Unterrichtszeit immer wieder einen Anfall haben, gehören die in die Regelschule. Der eine Jugendliche, den ich in der Regine-Hildebrandt-Gesamtschule interviewt habe, der hat gesagt: „Das wichtigste waren die Mitschüler, die hatten weniger Angst vor meinen Anfällen als die Lehrer.“ Der Jugendliche ist jetzt in der 9. Klasse, von der 7. Klasse an hatten die Mitschüler die Handy-Nummer seiner Mutter und haben dann auch versucht zu erreichen, dass die Lehrer nicht immer sofort den Notarzt und Helikopter gerufen haben. Für ihn war es immer das schlimmste, wenn er dann plötzlich im Krankenhaus wieder wach wurde. Also diese Ängste abbauen durch Erfahrung auch bei Lehrern, das ist auch was Wichtiges. Ängste der Erwachsenen

 

I: Und du hast gesagt mit den theoretischen Grundlagen hast du dich dann zwangsweise beschäftigt. Gibt es aber da etwas, was du als besonders relevant oder wichtig erachtest oder als interessant?
Jutta Schöler: Also ich habe gerne die Texte von Jacob Muth gelesen, aber die sind auch eher praxisbezogen. Ich habe mich auch durch Texte von Georg Feuser und Wolfgang Jantzen mehr oder weniger gequält, aber wirklich beeinflusst haben die mich nicht. Nee. Ich will das nicht abwerten. Gerade die empirischen Erhebungen, vor allem auch der Umgang mit den ganzen Statistiken wie Ulf das macht oder wie jetzt der Klaus Klemm das macht, das finde ich sehr sehr wichtig. Und ich bin sehr froh, dass sie das machen. Und ich glaube, das ist für die politische Argumentation auch wichtig. Aber das alleine bewirkt nicht, dass Lehrer ihre Ängste vor Verschiedenheit abbauen und bringt Lehrer nicht dazu, wirklich zu kooperieren. Theoretische Grundlagen
Ich habe ja auch drei Jahre lang wissenschaftliche Begleitung gemacht in den deutschsprachigen Schulen in Südtirol. Speziell mit dem Auftrag etwas dazu zu entwickeln, wie Lehrerinnen und Lehrer ihre eigenen Ängste gerade vor verhaltensauffälligen Kindern abbauen können. Also in Südtirol ist das auch das größte Problem: Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten. Und da immer wieder die Feststellung, die Lehrer müssen mit ihren eigenen Ängsten umgehen, die Lehrer müssen in den Klassen kooperieren, nur das alleine. Und da nutzt ihnen keine Theorie. Sie müssen mit sich selbst umgehen, wir müssen dann vielleicht erkunden woher sie auch ihre eigenen Ängste haben. Da hatte ich auch, das war noch eine wichtige Begegnung, eine Kollegin aus Großbritannien, Gerda Hanko, die müsste man eigentlich auch noch erwähnen. Es ist eine Frau, die nach dem Krieg als Deutsche nach England gegangen ist und sich mit diesem ganzen Thema in England sehr beschäftigt hat, die hat auch ein sehr gutes Buch zum Thema „Verhaltensauffällige Kinder in Regelschulen“ geschrieben und welches dann auch ins Deutsche übersetzt wurde. Ich muss sagen, dies was mich beeindruckt hat waren Bücher, die deutlich gemacht haben, wie also von den verschiedenen Ebenen her dieser selektive Charakter von Schule verringert werden kann. Verhaltensauffällige Kinder
I: Und die empirischen Forschungen hast du schon angesprochen. Gibt es da welche, wo du sagen würdest, die waren besonders wichtig?
Jutta Schöler: Also was ich selber gemacht habe oder was ich von anderen.
I: Sowohl als auch.
Jutta Schöler: Ja, also ich sag mal, was ich selber gemacht habe. Fünf Jahre waren es in Brandenburg von 1992 bis 1996. Parallel zu den Strukturveränderungen haben wir Lehrerfortbildungen und Schulberatungen und das dokumentiert, kann man nachlesen in dem Buch „Behinderte sind doch Kinder wie wir. Und ich glaube, dass wir da ein gutes Team waren Ulf Preuss-Lausitz, Peter Heyer und ich. Dies fand ich gut, ja. Meine eigene klitzekleine Untersuchung 1991/92 über die Verteilung der Kinder mit Behinderung im Bezirk Spandau. Da ist rausgekommen, dass es von den strukturellen Bedingungen in den Schulen abhängig war, wie viele Kinder mit Sprachbehinderung oder wie viele Kinder mit Lernbehinderung es plötzlich gab. Damals sind nämlich Kinder mit solchen Zuschreibungen zu Gruppen zusammengefasst worden und dann in einem Schulgebäude untergebracht worden, wo gerade ein Klassenraum frei war. Am Anfang des Schuljahres waren es nur fünf Kinder, nach einem halben Jahr dann aber 15. Forschung in Brandenburg
Wenn ich mich richtig erinnere, sind in den Anfangsjahren empirische Untersuchungen immer im Zusammenhang mit Schulversuchen gemacht worden. Zum Beispiel Helga Deppe-Wolfinger hatte in Frankfurt was gemacht. Das waren aber die Rahmenbedingungen einer Schule in Trägerschaft der Evangelischen Kirche, eine Privatschule. Oder die empirischen Untersuchungen von Hans Wocken und Andreas Hinz in Hamburg, die Ergebnisse fand ich auch sehr wichtig. Und wenn man jetzt schaut, was dann wieder politisch daraus gemacht wurde: Man hat Schulversuchsklassen eingerichtet in sozialen Brennpunkten und dann rausgekriegt, dass die Schüler in diesen Schulen immer noch schlechtere Ergebnisse haben als in den Edelschulen. Und so einen ähnlichen falschen Ansatz macht man ja momentan in Brandenburg mit den Pilotschulen, was von Potsdam aus empirisch erhoben werden soll. Das sehe ich auch als ganz fragwürdig an. Die Untersuchung von Hans Wocken finde ich sehr interessant, womit er nachgewiesen hat: je früher die Kinder in die Lernbehindertenschule kommen und je länger sie da sind, umso schlechter sind die Ergebnisse. Das finde ich schon interessant. Aber ich frage mich, wem nutzt das? Das könnte für die politische Diskussion nutzen, wenn es wirklich wahrgenommen wird. Auch das, was Andreas Hinz und Ines Boban machen im Zusammenhang mit Zukunftskonferenzen, finde ich auch sehr wichtig. Wichtige empirische Untersuchungen

 

I: Und was sind aus deiner Sicht die interessantesten Streitpunkte in der Community gewesen oder sind sie auch immer noch?
Jutta Schöler: Ich denke der Streitpunkt Schulversuche ja oder nein.
I: Also ob man sich überhaupt auf Schulversuche einlassen sollte?
Jutta Schöler: Ja. Ich sag mal noch mal so: Wenn ein Schulversuch angesetzt wird, mit der eindeutigen Zielstellung, wir wollen rauskriegen, welche Bedingungen geschaffen werden müssen, um das dann wirklich zu verbreitern. Und wenn parallel dazu Fortbildungen geschaffen werden, Möglichkeiten damit andere reinkommen, damit sich das wirklich verbreitert. Dann ist okay, dann ist okay. Was zum Beispiel weitestgehend so war bei dem Ansatz des Schulversuches der Zusammenlegung der Körperbehindertenschule und der Gesamtschule in Birkenwerder. Diese Schule ist jetzt eindeutig eine normale Gesamtschule mit dem Schwerpunkt Integration von körperbehinderten Jugendlichen. Aber es gibt auch Kinder mit Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten. Aber wenn diese politische Absicht nicht da ist, und das muss eine politische Setzung sein mit dem Ziel der allgemeinen Umsetzung, dann sollte man sich nicht daran beteiligen. Schulversuche und mit ihnen verbundene Schwierigkeiten
I: Und die Bezüge zu den anderen Teildisziplinen der Pädagogik oder auch anderen Forschungsgebieten wie Gender Studies, Disability Studies, welche Bezüge siehst du da und welche Probleme gibt es da bei Auf- oder Herausforderungen in der Zusammenarbeit?
Jutta Schöler: Also das ist ein Thema mit dem ich mich faktisch nicht beschäftigt habe, muss ich ganz klar sagen. Also vor allem die Zeit als ich da noch an der PH war und sicherlich auch in der Beratung tätig war, war mein eigener Schwerpunkt im Bereich Didaktik der Sekundarstufe I, allgemeine Pädagogik und Schulstrukturen. Eine Zeit lang habe ich sehr gut mit der Psychologin Christine Holzkamp zusammengearbeitet. Da haben wir gemeinsame Lehrveranstaltungen gemacht, wo dann auch Fragestellungen von Ausgrenzung, Nachteile für Kinder aus verschiedenen Perspektiven bearbeitet wurden. Disability Studies, Gender Studies, die Entwicklung ist ja auch noch nicht all zu alt und man bedenke, ich bin seit 2006 in Pension.
I: Ja, ich meinte aber auch so Fragen von geschlechterspezifischer Pädagogik.
Jutta Schöler: Ja, die Frage Jungen/Mädchen, geschlechtsspezifische Fragestellungen, da überhaupt einen Blick drauf zu haben, das zu beachten, das hatte ich immer. Ohne das Wort Gender Studies. Da gab es bei einer der allerersten Integrationsforschertagungen mal ein Eklat zwischen Hans Wocken und mir. Bei den allerersten empirischen Untersuchungen, die er gemacht hat in Hamburg, da hat er nicht einmal bei der Erhebung geschaut, ob das Jungen oder Mädchen sind. Ausgewertet wurden immer nur Schüler. Die Tatsache, dass in den meisten Integrationsklassen, es bis heute üblich ist, dass die Kinder mit Behinderung eher Jungen sind und die Kinder, die dann die Hilfestellung geben, eher Mädchen, das war überhaupt nicht im Bewusstsein. Und da habe ich mal vor versammelter Mannschaft gefragt, wie das denn aussieht und ob das keine Bedeutung hat? Wir haben uns ein bisschen gestritten. Hans Wocken hat mir hinterher einen Brief geschrieben und geschworen, er würde sich verbessern. Bei den bisherigen Untersuchungen könnte er aber leider nichts machen, weil das Geschlecht nicht erhoben worden sei. Er hat kurz danach eine eigene Untersuchung gemacht zu dem Thema „Abwehrverhalten und Vorurteile gegenüber Kindern mit Behinderung“. Ich weiß nicht, ob du das mal gesehen hast. Dazu hat er den Schülern Zeichnungen gegeben. Die größte Abwehr ist gegenüber Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten festgestellt worden. Aber das ist an einer Abbildung deutlich gemacht, wo ein Junge ein Mädchen mit einer Nadel piekt. Und ein körperbehindertes Kind, das am Stock geht, aber da hat er auch schon in den Abbildungen die Fragestellungen für die Schüler mit geschlechtsspezifischen Fragen verbunden. Das kann man heute auch selber gar nicht mehr glauben, dass es empirische Untersuchungen gegeben hat, wo einfach nur nach den Schülern gefragt wurde und nicht danach, ob es sich um Mädchen oder Jungen handelt. Oder bei einer meiner allerersten Lehrveranstaltung zum Thema Didaktik habe ich mit Studenten zusammen Schulbücher analysiert in Bezug auf die Darstellung von Frauen und Männern und Mädchen und Jungen. Ich weiß noch die allerersten Lehrveranstaltungen nach der Wende, da hatte ich dann zum Teil Studenten und Studentinnen, die aus der DDR kamen. Die DDR-Studentinnen haben dann immer gesagt: Nein, das war in den DDR-Büchern alles ganz anders. Also da gab es auch die berufstätige Mutter und das war einmal eine Traktorfahrerin und einmal eine Straßenbahnfahrerin. Selbst bis in die Mathematikbücher hinein. Wir hatten einmal das Beispiel gefunden, dass immer dann, wenn es ums Kochen von Marmelade ging, dann waren in den Textaufgaben Frauen dran und wenn es um die Finanzierung des neuen Eigenheimes oder Autos ging, dann die Männer. Solche Fragestellungen habe ich auch immer mit aufgegriffen, aber so richtig im Mittelpunkt war es nicht. Aber es war eigentlich auch immer Thema. Dimension Geschlecht in Forschung und Lehre
I: Und wo siehst du zukünftige Aufgaben und Herausforderungen für die Praxis?
Jutta Schöler: Ja, ich bleibe immer noch dabei, solange wir ein mehrgliedriges Sekundarstufensystem haben, sollte man nicht von Inklusion reden. Und da, wo es möglich wird, diese Mehrgliedrigkeit zu überwinden, da müsste man eigentlich alle Energien reinstecken. Ich sehe das jetzt auch in Brandenburg, ich berate da zwei sogenannte Oberschulen. Brandenburg hat ja nur die Zweigliedrigkeit. Aber die Oberschule ist die Schule, wo alle diejenigen sind, die das Gymnasium nicht schaffen. Solange wir diese Struktur haben, ist es auch immer etwas Halbherziges. Das hat dann Auswirkungen in Bezug auf die Leistungsbewertung, das hat Auswirkungen auf das Selbstbild, das die Kinder von sich entwickeln. Es gibt schon einige Gesamtschulen, die wirklich einen richtig guten Ruf haben und wo auch Gymnasiasten abgelehnt werden müssen. Bettina-von-Arnim ist so eine Schule oder ich denke die Sekundarstufenschulen, die die letzten Jahre den Jakob-Muth-Preis bekommen haben, also jetzt auch in Hamburg. Eine große Gesamtschule, wo wirklich das ganze Spektrum ist und wo auch Eltern gymnasial empfohlener Schüler versuchen, ihre Kinder reinzubekommen. Mehrgliedrigkeit
Und da ist noch eine neue Herausforderung, was bisher zu wenig beachtet wurde, wie man dann Unterricht gestaltet, wo auch die hochbefähigten Schüler Aufgaben bekommen, die ihrem Leistungsniveau entsprechen. Meistens geht das so nebenbei. Viele dieser Schülerinnen und Schüler, die besonders befähigt sind, sind dann auch wirklich ausgezeichnet als Tutoren, was vorzubereiten. Aber es muss auch Situationen geben, wo diese Schülerinnen und Schüler genau wissen: Das ist jetzt die Aufgabe, die mich herausfordert, das ist meine Zusatzaufgabe. Ich habe im vorigen Jahr mal in einer Klasse hospitiert, wo ein schwer geistig behinderter Schüler einer sehr benachteiligenden nichtdeutschen Familie in der Klasse ist und in derselben Klasse ein wirklich hochintelligentes, mathematisch hochbefähigtes Mädchen. Die saß an Mathematikaufgaben, die ich nicht verstanden habe, eine absolute Zusatzaufgabe in der Mathestunde. Sie hat mir dann genau das System erklärt. Sie sagte: Ich habe die Aufgaben, damit ich mich nicht langweile und ich helfe aber auch den anderen und mach auch da mit. Also diese hochbefähigten Schülerinnen und Schüler auch wirklich so in Integrationsklassen im Inklusionsunterricht zu fördern, damit die sich da nicht langweilen, damit die auch ihre Herausforderung bekommen, das sehe ich auch als eine ganz wichtige Aufgabe an. Und ich glaube, das ist bisher wirklich zu wenig beachtet worden. Unterrichtsgestaltung – hochbegabte Schüler/-innen
I: Und für die Forschung, wo siehst du da zukünftige Aufgaben, Herausforderungen, um die man sich mal dringend kümmern müsste?
Jutta Schöler: Ich komme eigentlich immer wieder zur qualitativen Begleitforschung, um rauszukriegen, woran es hakt, wenn die Lehrer nicht miteinander können. Wie die befähigt werden, wie man einsteigen muss, wie man auch eventuell entscheidet, wenn man feststellt, die können nun wirklich nicht miteinander, dass es auch möglich ist, dann Teams zu beenden. Aber das ist wirklich absolut die wichtigste Aufgabe. Und ich denke, dazu sollte es auch Forschungen geben. Begleitung von Teamarbeit als Aufgabe für die Forschung
Klar ab und zu vielleicht mal, wenn es Klassen gibt in unterschiedlichster Zusammensetzung, dass man sich genau grade den Leistungsaspekt anschaut. Aber da muss man dann auch genau hinschauen, wie man damit methodisch umgeht. Dies habe ich auch in Italien gesehen, wie es da fast selbstverständlich ist. Also in Italien ist es so, dass Grundschulen und Sekundarstufenschulen Ringteams aus vier, fünf Schulen bilden, so in einem Einzugsgebiet. Da beraten sich die Lehrer jeweils am Anfang des Schuljahres. Von den dreimonatigen langen Sommerferien müssen die Lehrer die ersten zwei Wochen der Ferien und die letzten zwei Wochen der Ferien in der Schule sein, die haben nicht drei Monate Ferien. Und die Zeit wird genutzt für die Vorbereitung und die Auswertung. Und dann beraten die für die verschiedenen Fächer, an welchen Themen sie arbeiten und welche Leistungsvergleiche sie auch am Ende des Schuljahres machen. Und immer Ende des Schuljahres, im Juni, geht eine Abordnung der einen Schule in die nächste Schule. Also viele Lehrer sind dann für ein paar Tage nicht in ihrer eigenen Schule sondern in der nächsten Schule aus diesem Team. Und dann werden die Arbeiten geschrieben, die Leistungskontrollen, auf die sie sich vorher geeinigt haben. Dann schauen sie sich das hinterher gemeinsam an und analysieren, woran es wohl liegt, dass bei den einen die Ergebnisse so besonders gut waren und bei den anderen besonders schlecht. Dies kann an der Klassenzusammensetzung liegen, oder dass ein Lehrer krank war oder an schlechtem Unterricht oder sonst was. Diese Art der qualitativen Forschung und genau hinzuschauen in Bezug auf Leistung, aber mit unmittelbarer Beteiligung der Lehrinnen und Lehrer, wo dies sicherlich auch irgendein Vorgesetzer mal anschaut, aber die Schulen selber sind wirklich im viel höheren Grade autonom. Das halte ich für richtig. Italien: Praxisbeispiele
Hier jetzt mit den Pilotschulen, ich weiß nicht, ob du mal das Konzept gesehen hast, wie die da wissenschaftliche Begleitung machen, da denken sich die Leute aus der Uni irgendwelche Prüfungsaufgaben aus oder benutzen irgendwelche eingeführten Tests, VERA oder sonst was, gehen damit in die Schulen. Studenten sind ausgebildet, vorgebildet, weiß nicht wie gut oder wie schlecht, in die Klassen zu gehen und die Lehrerinnen und Lehrer bekommen keine Rückmeldung. Bei dem ersten Zwischenbericht dazu habe ich auch noch einmal kritisch nachgefragt. Auf der Internetseite des Bildungsministeriums sind die 83 Schulen aufgelistet, die Pilotschulen im Land Brandenburg sind und da kann also jedes Elternpaar auch sehen, welche Schulen sich daran beteiligen und es gibt auch so eine kurze Erklärung dazu, dass an diesen Schulen besonders erprobt werden soll, wie Kinder gefördert werden auch, wenn sie Lernschwierigkeiten haben. So, jetzt frag ich dich, wenn du selbst Vater wärst oder jetzt Onkel und du hast ein Kind, wo du merkst naja so ganz einfach ist das nicht. Dann versuchst du dein Kind in eine dieser Pilotschulen zu kriegen. Das entwickelt sich eventuell so ähnlich wie bei diesen Modellschulen in Hamburg, die von vornherein die etwas schwierige Klientel hatten. Das kannst du natürlich nicht nachweisen, weil die Zusammensetzung oder die Entscheidungen der umliegenden anderen Schulen überhaupt nicht angeguckt werden. Es guckt auch niemand hin, ob vielleicht nur mal schlicht die Schüler in den Pilotschulen im statischen Mittel die längeren Schulwege hätten. Das wäre ganz einfach festzustellen. Und die beteiligten Lehrer sind eigentlich alle sauer, weil diese Art von empirischer Forschung ihnen letztlich nur Mehrarbeit macht. Pilotschulen und ihre Schwierigkeiten
Ich kann mich sehr gut erinnern, wie ich als Gesamtschullehrerin sauer war, wenn da die Leute vom Pädagogischen Zentrum waren und dann gefragt haben, wo die Arbeiterkinder sind. Nee also, wenn empirische Forschung, dann auf jeden Fall immer mit der unmittelbaren Beteiligung der Lehrerinnen und Lehrer. Die müssen als Forscherinnen und Forscher einbezogen werden. Mit den Lehrern gemeinsam die Fragen entwickeln, wirklich unter Beteiligung und die Lehrerinnen und Lehrer ernst nehmen und auch unmittelbar die Rückmeldung machen, nur so. Einbeziehung von Lehrer/-innen in den Forschungsprozess

 

 

I: Deine Veröffentlichungen hattest du mir ja schon geschickt zum Teil.
Jutta Schöler: Ich sag mal so, da bin ich jetzt auch wirklich ein bisschen distanziert. Ich habe einen großen Koffer mit Büchern im Keller, wo ich dann irgendwann mal gesagt habe, naja gut, vielleicht brauche ich sie ja doch noch mal. Dann habe ich in meinem Arbeitszimmer auch eine ganze Menge Bücher und jetzt zu deiner Frage habe ich noch einmal geguckt, was war denn da nun so wichtig? Im Moment sind mir die alten Bücher selber gar nicht mehr so sehr wichtig. Das Wichtige war für mich sicherlich auch immer, wenn ich die Chance hatte, mit den Leuten auch tatsächlich in Kontakt zu kommen, Begegnungen vor Ort. Aber dieses Buch: „Integrative Schule – Integrativer Unterricht“ finde ich sehr wichtig, hat auch eine interessante Geschichte. Es gab bei Rowohlt das sehr bekannte Taschenbuch von Rabenstein: „Offene Schule – offener Unterricht“. Kein Wort zum Thema Integration. Kinder mit Behinderung gab es nicht, also Anfang der 90er Jahre. Und da habe ich dem Rowohlt-Verlag geschrieben, sie sollten sich doch auch mal mit dem Thema Integration von Kindern mit Behinderung beschäftigen. Das war Anfang der 90er Jahre, und dann haben die mir postwendend geschrieben: na dann machen sie es doch. Und dann, in der Zeit als ich selbst noch nicht mit dem Computer umgehen konnte, habe ich mich dann aber rangemacht. Meine Tochter hat mir noch die Zeichnungen dazu gemacht. Das ist auch ganz schnell vergriffen gewesen. Und ich habe an meine eigenen Bücher den Anspruch, man muss sie ohne Fremdwörterbuch lesen können und man muss auch immer mal wieder reinschauen. Eine Lehrerin, die auch nach einem anstrengenden Unterrichtsvormittag noch ein bisschen lesen will, muss darin lesen wollen; und das sollte auch immer für die betroffenen Eltern lesbar sein. Und da habe ich auch viele positive Rückmeldungen bekommen. Wenn mir da eine Mutter sagt: das Buch liegt bei mir immer auf dem Klo, dann sage ich okay, genau das. Da steckt auch viel Arbeit darin. Auch die Übertragung des Buches von Nikola Cuomo „Schwere Behinderung in der Schule“ aus dem Italienischen war mir sehr wichtig. Lesbarkeit von Veröffentlichungen
I: Gibt es noch etwas, was du noch ansprechen willst?
Jutta Schöler: Ich bin richtig stolz auf den Jakob-Muth-Schulpreis, den habe ich erfunden. Ich hatte eine Tischvorlage für die damalige Bundesbehindertenbeauftragte, bin dahin und habe es ihr vorgestellt und da sagte Karin Evers-Meyer: „Ja das machen wir, jetzt müssen wir nur jemanden finden, der das auch finanziert.“ Die Bertelsmann-Stiftung ist mit dabei und die Deutsche Unesco-Kommission. Klar ich weiß, dass alles was die Bertelsmann-Stiftung an Geld ausgibt, irgendwo auch Geld ist, was als Steuer woanders nicht bezahlt wurde. Aber diesen Preis sehe ich auch als eine ganz wichtige Veröffentlichung an, auch die Filme dazu. Ich hoffe, dass ich noch lange gesund bleibe, um weiter arbeiten zu können. Jakob Muth Preis
I: Das finde ich auch wirklich ganz spannend, dass ganz viele von denen, die jetzt in den Ruhestand gegangen sind, trotzdem eigentlich immer noch genauso oder in vergleichbarem Maße oder mehr bei der Arbeit geblieben sind.
Jutta Schöler: Ich sehe das als ein Privileg unseres Berufes an. Also mir tun die Menschen wirklich ehrlich leid, die in ihrem Beruf so viele Jahre lang engagiert waren, egal in welchem Beruf, und in dem Moment, wo sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, heißt es tschüss, so, keiner interessiert sich mehr. Ich kann mir das rauspicken, was ich machen möchte und das tut mir auch gut.

 

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