Irmtraud Schnell: An den Kindern kann´s nicht liegen…

Für erwachsene Menschen mit Beeinträchtigungen wurden in den letzten Jahren gesetzliche Regelungen geschaffen, die ihre Gleichstellung ermöglichen sollen und Barrierefreiheit im Sinne des Zugangs und der Nutzung »in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe« (vgl. z. B. HBGG, 2004, S. 483) definieren. Die rechtliche Anerkennung wurde maßgeblich von Menschen mit Beeinträchtigung selbst erstritten und wird als Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik betrachtet (vgl. z. B. Jürgens, 2004, S. 360 und Köbsell, 2006). Menschen mit Beeinträchtigungen im Kindes- und Jugendalter in der Bundesrepublik dagegen sind, jedenfalls was den Zugang zu Erziehungs- und Bildungseinrichtungen betrifft, noch weit davon entfernt, ihren AltersgenossInnen gleichgestellt zu sein. Schon 1973 hatte der Deutsche Bildungsrat eine weitmögliche Integration der behinderten Kinder in allgemeine Schulen gefordert, weil so am ehesten ihrer Isolation im Erwachsenenleben vorgebeugt werden könne (Deutscher Bildungsrat, 1974). Mehr als 30 Jahre später wurden aus keinem der Landesgleichstellungsgesetze bislang entscheidende Konsequenzen für die Bildungspolitik im Bereich der Sonder- oder gar der Allgemeinen Pädagogik gezogen.

Der Beitrag beschreibt und analysiert zunächst die aktuelle Lage von gemeinsamem und getrenntem Schulbesuch an Hand statistischer Daten, versucht sodann, sie im Hinblick auf bildungspolitische, (sonder-)pädagogische und gesellschaftliche Entwicklungen zu deuten und erwägt zuletzt Schritte, die die Integrationsbewegung aufnehmen kann. Von der dichotomen Unterscheidung zwischen »Behinderten« und »Nichtbehinderten« und entsprechenden schulorganisatorischen Maßnahmen, die in der Regel in Deutschland zur Trennung führen, sind andere Gruppen von Kindern und Jugendlichen (hochbegabte und langsam lernende, deutsche und solche mit Migrationshintergrund, bildungsfern und bildungsnah aufgewachsene, überbehütete und vernachlässigte etc.) gleichermaßen betroffen. Ich teile die Zielperspektive Inklusion; im Beitrag hier soll es dennoch um das Gemeinsame Lernen von Mädchen und Jungen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf gehen, wohl wissend, dass die Zweiteilung weder die Realität einzelner Kinder und Jugendlicher noch die so benannter Gruppen erfassen kann. Ihren Platz jenseits dieser Dichotomie zu finden, wird eine Herausforderung auch für die Sonderpädagogik sein, wenn sie die Funktion eines Steigbügelhalters im gegliederten Schulsystem verweigern möchte.

»An den Kindern kann’s nicht liegen«, kommentierte eine Studentin meine Grafiken24, die ich nach der neuesten Statistik der Kultusministerkonferenz (KMK) erstellt habe und die ich auch im Folgenden kenntlich mache. Sie stellt den Stand des Jahres 2003 (Quelle 177 kmk.org.) dar im Hinblick auf SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die Sonderschulen oder allgemeine Schulen besuchen – die KMK unterscheidet erst seit 1999, zuvor bezog sich die Statistik nur auf SonderschülerInnen. Die ausgewiesenen Anteile des Besuchs der allgemeinen Schule wurden kritisiert, weil aus den Zahlen nicht hervorgehe, welche Qualität mit dem Gemeinsamen Lernen verbunden würde – das ist allerdings auch im Hinblick auf die Sonderschulen nicht der Fall. Sie unterstellten zum einen, dass der Besuch der allgemeinen Schule allein schon die Integration von SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ausmache, sie zum anderen für einige Bundesländer, deren Bildungspolitik sich bis dahin des Gemeinsamen Lernens weitgehend enthielt, wie z. B. Baden-Württemberg, auffallend hohe Zahlen auswiesen, und darüber hinaus über die Rahmenbedingungen, die die Qualität mit bestimmen, keinerlei Aussagen machten (vgl. z. B. Reiser, 2002 und Cloerkes, 2003) – in Baden-Württemberg werden beispielsweise im Durchschnitt etwa 20 Minuten sonderpädagogischen Personals pro SchülerIn vorgehalten.

Gleichwohl mache ich von den Zahlen Gebrauch; es gibt keine anderen, die öffentlich zugänglich wären, und selbst, wenn sie allesamt und in unterschiedlicher Weise und Hinsicht die Wirklichkeit schönen, sind sie beschämend genug. Die Statistik zeigt nämlich, dass es weder fachliche noch andere pädagogische Gründe sein können, die den Besuch der Regel- oder Sonderschule erklären.

 

1 Zum Gemeinsamen Lernen in der KMK-Statistik

Veranschaulichen wir uns die Zahlen der Statistik, ergeben sich für die einzelnen Förderschwerpunkte folgende Bilder:

M%c3%bcller_Abb_9.jpgAbb. 1: Förderschwerpunkt Lernen

 

Im Förderschwerpunkt Lernen reicht der Anteil der SchülerInnen, die allgemeine Schulen besuchen, von 61% in Bremen bis zu 1% in Sachsen.

M%c3%bcller_Abb_10.jpgAbb. 2: Förderschwerpunkt Sprache

 

Die Anteile im Förderschwerpunkt Sprache bewegen sich zwischen 3% in Sachsen-Anhalt und 100% in Bremen.

M%c3%bcller_Abb_11.jpgAbb. 3: Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung

 

Im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung, die Schülergruppe in diesem Bereich wird von vielen als die am schwierigsten zu integrierende betrachtet (vgl. Preuss-Lausitz, 2006, Hoffmann, 2006), reichen die Zahlen von 5% in Niedersachsen bis 100% im Nachbarbundesland Hamburg.

 M%c3%bcller_Abb_12.jpgAbb. 4: Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung

 

Selbst im Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung, von dem man denken könnte, dass es vor allem bauliche Barrieren sind, die dem Besuch der allgemeinen Schule entgegenstehen, reichen die Anteile von 3% bis 79%.

M%c3%bcller_Abb_13.jpgAbb. 5: Förderschwerpunkt Hören

 

Auch im Bereich der Sinnesbehinderung stellen wir große Unterschiede zwischen den Ländern fest. Von 5% bis zu 67% der Mädchen und Jungen mit einer Hörschädigung können allgemeine statt Sonderschulen besuchen. Der Förderschwerpunkt Sehen zeigt besonders deutlich, dass selbst im Falle der Sinnesbehinderungen es andere als fachliche Gründe sein müssen, die das Gemeinsame Lernen fördern oder behindern.

Abb. 6: FörderschwerM%c3%bcller_Abb_14.jpgpunkt Sehen

Offensichtlich wird von und in den einzelnen Ländern nach unterschiedlichen Kriterien darüber entschieden, ob ein Mädchen oder Junge mit einer bestimmten Beeinträchtigung eine allgemeine oder eine Sonderschule besucht. Es scheint für die Länder sehr unterschiedliche Beweggründe zu geben, einem Kind oder Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf das Gemeinsame Lernen mit anderen zu ermöglichen. Die sollten sich dann in den Anteilen von Integration und Separation innerhalb eines Bundeslandes insgesamt widerspiegeln.

Für einzelne Länder, an einigen Beispielen gezeigt, ergeben sich dann diese Bilder:

 

M%c3%bcller_Abb_15.jpg Abb. 7: Hamburg

In Hamburg besuchen 2003 36% der SchülerInnen im Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung allgemeine Schulen, im Förderschwerpunkt Sprache nur 12%, im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung hingegen sogar 100% – dank REBUS (Regionales Beratungs- und Unterstützungs-System, das leider von der jetzigen Landesregierung verändert wird).

M%c3%bcller_Abb_16.jpg Abb. 8: Bayern

 

Warum besuchen in Bayern 23% der SchülerInnen mit Förderbedarf Sprache eine allgemeine Schule, aber nur 5,5% mit Förderbedarf Hören?

 

M%c3%bcller_Abb_17.jpg Abb. 9: Brandenburg

Wie kommt es, dass in Brandenburg ausgerechnet SchülerInnen mit Schulversagen überwiegend in Sonderschulen unterrichtet werden?

M%c3%bcller_Abb_18.jpg Abb. 10: Hessen

 

Warum lernen in Hessen 40% der SchülerInnen mit Förderbedarf im Bereich der Emotionalen und sozialen Entwicklung gemeinsam mit anderen, aber unter 10% im Förderbedarf Lernen?

Wir sehen unsere Erwartung entt äuscht, dass eine bestimmte bildungspolitische Ausrichtung eines Landes aktuell oder in der jüngeren Geschichte eine im Vergleich zu den einzelnen Förderschwerpunkten eher einheitliche Entscheidungspraxis innerhalb eines Landes bewirkt.

Welche Gründe könnte es denn sonst für die sehr unterschiedliche Zuweisungspraxis geben? Ehe wir uns dieser Frage widmen, wenden wir unseren Blick auf den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, wie er sich in seinen integrativen bzw. separativen Anteilen darstellt.

 

Das gemeinsame Lernen beim Förderschwerpunkt geistige Entwicklung:

Herzstück des gemeinsamen Lernens von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung war stets die Öffnung allgemeiner Schulen für SchülerInnen mit sogenannter geistiger Behinderung. Die Integrationsbewegung verband damit die Abkehr vom Lernen im Gleichschritt und die bewusste Forderung nach einem individuelle Entwicklungen begleitenden Unterricht für alle Kinder. Tatsächlich zeigten die Erfahrungen in den 1970er und 1980er Jahren, dass es, wie andernorts zuvor, auch in Deutschland möglich ist, SchülerInnen mit unterschiedlichen kognitiven und intellektuellen Voraussetzungen gemeinsam zu unterrichten (vgl. z. B. Maikowski & Podlesch, 1988; Deppe-Wolfinger et al., 1990; Klein, 1998). Die KMK-Statistik zeigt jedoch, dass überall die meisten Mädchen und Jungen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Sonderschulen besuchen. Hamburg bildet eine rühmliche Ausnahme – fast jedes fünfte Kind in diesem Förderschwerpunkt konnte 2003 eine allgemeine Schule besuchen.

M%c3%bcller_Abb_19.jpg Abb. 11: Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

 

 

Allerdings stagnieren, wie Abbildung 12 zeigt, in fast allen Bundesländern die Anteile der SchülerInnen in allgemeinen Schulen oder sinken sogar wie in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, während die Zahlen in Sonderschulen steigen (s. Abb. 13), jedenfalls in den alten Bundesländern. Folgt die Bildungspolitik einem gesamtgesellschaftlichen Trend, indem sie sich vor allem um die Stärkung der Eliten kümmert? In Hamburg trifft er lediglich auf einen in den letzten Jahren von Eltern errungenen höheren Stand der Integrationsentwicklung.

Als Begründung für die zurückgehende Integration von SchülerInnen mit sogenannter geistiger Behinderung in allgemeine Schulen wird u. a. angeführt, dass Eltern sich wieder verstärkt der Sonderschule zuwendeten. Diese Behauptung bedarf allerdings einer eingehenden Überprüfung; viele Eltern wissen anderes zu berichten.

M%c3%bcller_Abb_20.jpgAbb. 12: Förderschwerpunkt geistige Entwicklung 1999–2003 allgemeine Schulen

 

 

 

M%c3%bcller_Abb_21.jpgAbb. 13: Förderschwerpunkt geistige Entwicklung 1999–2003 Sonderschulen

 

 

Dass überall Grundschulen die Schulen sind, die sich auf Heterogenität auch im kognitiven Bereich besser einstellen, zeigt Abbildung 14. Die Statistik verweist aber auch darauf, dass das gegliederte Schulsystem mit seiner Ideologie der Trennung von Begabungen in homogenisierte Lerngruppen der Gemeinsamkeit Grenzen setzt. Aus anderen Staaten und seit IGLU wissen wir jedoch, dass Heterogenität der Leistungsfähigkeit im engen schulischen Sinne nicht entgegen steht (vgl. Bos et al., 2003; Deppe-Wolfinger, 2006).

M%c3%bcller_Abb_22.jpg Abb. 14: Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung Grundschule/SEK I

 

 

Aus der Betrachtung der KMK-Statistik ist zu schließen:

  • ? Die Praxis folgt in keinem Land einer durchgängig gültigen Ausrichtung.
  • ? Von Land zu Land unterscheidet sich innerhalb eines Förderschwerpunktes die Zuweisung zur allgemeinen oder zur Sonderschule ebenso wie innerhalb eines Bundeslandes zwischen den Förderschwerpunkten.
  • ? Insgesamt sind zwar in einigen Ländern die Spuren einer einstmals klaren Integrationspolitik zu erkennen, z. B. in Brandenburg der gegenüber anderen jungen Bundesländern wesentlich höhere Anteil der integrierten SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, der wohl auf die frühe Entscheidung der rot/grünen Landesregierung und der Kultusministerin Marianne Birthler für das Gemeinsame Lernen zurückzuführen ist, aber in keinem Land zeigt sich eine deutliche, das heißt grundsätzlich gültige Position.
  • ? Aber vor allem: Wenn innerhalb eines Förderschwerpunktes die Anteile zwischen 5 und 100% divergieren, heißt das: Es könnte in allen Ländern und in jedem Förderschwerpunkt sehr viel mehr Gemeinsames Lernen von SchülerInnen mit und ohne Beeinträchtigung geben als bislang ermöglicht.
  • ? Der Geist der Trennung, wie er sich im gegliederten Schulsystem zeigt, behindert insbesondere junge Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung im Sekundarstufenalter.
  • ? Auf der Suche nach Gründen für die großen Unterschiede stoßen wir auf »Kulturen« bzw. Subkulturen, auf Lobbyismen und auf Traditionen – einzelne Regionen und Schulaufsichtsbezirke in Bundesländern zu untersuchen, um diese Subkulturen zu identifizieren, wäre sicher ein interessantes Unterfangen –, aber auch auf gesamtgesellschaftliche Trends und bildungspolitische Großwetterlagen, deren Niederschlag sich in der Schulpolitik zeigt.

 

 

2 Erziehung und Bildung – nicht mehr für alle?
Auf der Suche nach Erklärungen

a) Gesellschaftliche Trends treffen in der Schule ein

Wenn wir von SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf reden, gilt es zu unterschieden zwischen solchen, die von Geburt an oder durch Krankheit beeinträchtigt sind und solchen, die durch Schwierigkeiten beim Lernen und im Verhalten oder bei der Kommunikation als sonderpädagogisch förderbedürftig gelten. Das sind fast drei Viertel aller SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Abb. 15). Für den Förderschwerpunkt Lernen ist vielfach belegt, dass die entsprechenden SchülerInnen bestimmten unterprivilegierten sozialen Gruppe angehören (z. B. Wocken, 2000, 2005; Klein, 2001; Koch 2004a, 2004b) und dass Kinder mit Migrationshintergrund überrepräsentiert sind (z. B. Kornmann & Neuhäusler, 2001).

M%c3%bcller_Abb_23.jpgAbb. 15: SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf 2003 in der BRD

 

Der Anteil dieser SchülerInnen nimmt zu. Im Bundesgebiet stiegen die Schülerzahlen im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung im Verhältnis zu anderen Förderschwerpunkten – für Sonder- und allgemeine Schule zusammen – von 5,6% in 1995 auf 8,7% in 2003. In Hessen wuchs allein in den zwei Jahren von 2001 bis 2003 die Anzahl der SchülerInnen im Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung um 48%, davon verblieben mehr als die Hälfte in allgemeinen Schulen. In demselben Zeitraum wuchs die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Förderbedarf Sprache um 34%; von ihnen besucht weit mehr als die Hälfte eine Sprachheilschule.

Erklärungen für diesen Zuwachs gibt es vielfältige und hier ist nicht der Ort, ihre Stichhaltigkeit zu prüfen. Der Druck, der in verschiedener Hinsicht auf Familien lastet, hat offenbar einen Einfluss auf das Aufwachsen der Kinder. Schulen müssten darauf reagieren können. Aber wie sollen sie sich im integrierenden Sinne auf gesellschaftliche Veränderungen einstellen, wenn Erziehungs- und Bildungseinrichtungen insgesamt nicht mehr auf die Reduzierung sozialer Ungleichheiten (vgl. Deppe-Wolfinger, 2004), sondern auf die Pflege der sogenannten Elite einerseits und die Marginalisierung von Minderheiten andererseits ausgerichtet werden?

 

b) Soziale Ungleichheiten werden bewusst verschärft

Am Beispiel Hamburgs, an einer der reichsten Städte in Europa, lassen sich gesellschaftliche Veränderungen zeigen, die ihre Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, deren Familien nicht zu den wohlhabenden gehören, nicht verfehlen werden:

  • ? Der Besuch des Kindergartens und der Vorschule ist an ein kompliziertes Gutscheinsystem geknüpft, das ganze Bevölkerungsgruppen ausschließt.
  • ? Das Schulschwimmen wurde privatisiert und auf ein halbes Jahr verkürzt.
  • ? Die Lernmittelfreiheit ist abgeschafft.
  • ? Schon für das Grundschulalter werden die Schulbezirksgrenzen geöffnet und die Schulwahl den Eltern anheim gestellt.
  • ? Schulen, Bäder, Bücherhallen und soziale Beratungsstellen werden in ohnehin benachteiligten Stadtteilen geschlossen. Prestige-Objekte wie Hafencity und S-Bahnausbau zum Flughafen werden aber finanziert.
  • ? Zentrale Vergleichsarbeiten sorgen dafür, dass es bildungsbewussten Eltern leichter fällt, die »richtige« Schule für ihr Kind zu finden, unabhängig davon, ob das Ranking der Schulen nun öffentlich oder inoffiziell bekannt wird.
  • ? Am Ende der Grundschulzeit fließt in das Gutachten der Lehrkräfte über den weiteren Bildungsgang, wie die Untersuchung der Lernausgangslagen (LAU vgl. z. B. Lehmann et al., 1999) bewies, die häusliche Situation entscheidend ein.
  • ? Zentrale Abschlussprüfungen scheren SchülerInnen und Schulen mit völlig verschiedenen Ausgangslagen über einen Kamm.
  • ? Die Zeit bis zum Abitur wird verkürzt auf 12 Jahre.
  • ? Die Mittel aus dem Ganztagsschulprogramm der Bundesregierung werden für die Einrichtung von Cafeterien in Gymnasien verwendet.
  • ? Die Integrativen Regelklassen, deren Ende eingeläutet worden war, konnten durch den geharnischten Widerstand von Eltern, PädagogInnen und WissenschaftlerInnen zumindest bis zur nächsten Wahl erhalten bleiben.

 

So können z. B. in Hamburg die ohnehin vorhandenen und sich durch veränderte Gesetze in der Bundesrepublik verschärfenden sozialen Schieflagen durch das Bildungssystem verstärkt und Lebenschancen beschnitten werden. Geworben wird für diese Maßnahmen mit mehr Freiheit und Eigenverantwortung sowie der Steigerung der Qualität von Erziehung und Bildung, wie andernorts auch. Schulen sollen sich dem Wettbewerb des Marktes stellen – bei gleichzeitiger Verknappung der Mittel. Die Betriebsverwirtschaftlichung von Bildung und Erziehung bleibt, das zeigt sich bereits, nicht ohne Wirkung auf die innerdemokratischen Verhältnisse in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. Können Schulen und Lehrkräfte, das wird von ihnen immer noch zu Recht erwartet, in diesen Widersprüchen den Geist einer solidarischen Gemeinschaft fördern?

 

c) Maßnahmen der sogenannten Qualitätssicherung gefährden das Gemeinsame Lernen

 

Entgegen vielen anderslautenden Empfehlungen hat die KMK sich auf »Bildungsstandards« geeinigt, die, da sie sich auf die verschiedenen Schulformen des gegliederten Schulsystems beziehen, keine an Kompetenzen orientierte Mindeststandards definieren. Der Druck auf Schulen steigt in einseitiger Richtung und KollegInnen berichten aus ihren Schulen, dass ein umfassendes Bildungsangebot, das einer inklusiven Schule entspräche, vielfach dem »teaching to the test« zum Opfer falle. Mit den Vergleichs- und Orientierungsarbeiten wird der Blick schon früh auf den Leistungsstand der SchülerInnen gerichtet – es braucht viel Erfahrung, um einschätzen zu können, dass Kinder oft erstaunliche Entwicklungen nehmen – also beispielsweise ein Erstklässler, der beim Lesekompetenztest nicht erfolgreich abschließt, durchaus im ersten Viertel der zweiten Klasse reüssieren kann. (Sonder-)PädagogInnen lernen in ihrer Ausbildung die Tücken von Stigmatisierungsprozessen (Hohmeier, 1975; Lösel, 1975) und den »Pygmalion-Effekt« (Rosenthal & Jacobson, 1971) kennen. Der Gefahr, dass sich durch das häufigere Abprüfen des Leistungsstandes die Bilder von der Leistungsfähigkeit einzelner SchülerInnen verfestigen und dann auf die tatsächliche Leistungsfähigkeit zurückwirken, lässt sich nur durch große Aufmerksamkeit, ein gehöriges Maß an Selbstreflexion und vor allem durch Vertrauen in die Kompetenzen und die Entwicklungsfähigkeit von SchülerInnen begegnen. Da in einigen Bundesländern die Ergebnisse der Schulen öffentlich bekannt gemacht werden, könnten Schulen, die die hinteren Ränge des Rankings belegen, und deren Bedarf nicht durch Unterstützungsmaßnahmen ausgeglichen wird, in die Situation kommen, sich mit »schwierigen« oder sprachlich eingeschränkten oder einfach schulschwachen Kindern nicht mehr »belasten« zu wollen. Selbstverständlich müssen Mädchen und Jungen in Schulen in vielerlei Hinsicht Anstöße zur persönlichen Entwicklung bekommen und zu Leistungen herausgefordert werden, aber die finnische »Philosophie« des Respekts vor individuellen Leistungen und vor den Bildungsprozessen insgesamt wäre die richtige Basis, auch Schulen zu guten Leistungsergebnissen und zu Anstrengungen für sozialen Zusammenhalt anzuregen.

Der Druck durch die ständige Überprüfung trägt offenbar dazu bei, die Bereitschaft zur Aussonderung zu erhöhen und reduziert die Bereitschaft, Kinder mit besonderem Förderbedarf in allgemeine Schulen aufzunehmen. Kultusministerielle Versuche, die Zahlen im Bereich der Sonderpädagogischen Förderung nicht ausufern zu lassen, scheinen nicht von Erfolg gekrönt.

 

d) Können organisatorische Veränderungen im Bereich der Sonderpädagogik den Druck der allgemeinen Schulen lindern?

 

Um dem stetig wachsenden Bedarf an sonderpädagogischer Förderung und der Zunahme von SonderschülerInnen, vor allem in Schulen für Erziehungshilfe und für Lernhilfe, zu begegnen, wurden zum Beispiel in Hessen an Sonderschulen, in Hessen heißen sie »Förderschulen«, Beratungs- und Förderzentren eingerichtet, die laut Verordnungsentwurf vordringlich das Ziel haben »den Lernort an der allgemeinen Schule für die betreffende Schülerin, den betreffenden Schüler zu erhalten« (Richtlinien 2006), indem Lehrkräfte der allgemeinen Schule, Eltern und außerschulische Partner bei der Gestaltung des Lernumfeldes von Förderschullehrkräften beraten und Kinder und Jugendliche so gefördert werden, »dass sich die Lernleistungen der betreffenden Schülerin oder des betreffenden Schülers positiv entwickeln können und eine erfolgreiche Mitarbeit angestrebt werden kann« (ebd.).

Auf diesem Wege wurden in Hessen im Schuljahr 1998/99 2.654 SchülerInnen intensiv beraten und gefördert, im Schuljahr 2004/05 15.057 – davon konnte bei 6.685 die Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs vorerst vermieden werden.

Die enorme Steigerung des Bedarfs an Beratung und Förderung sollte die Landesregierung zum Nachdenken darüber veranlassen, ob die ergriffenen Maßnahmen der Qualitätssicherung in allgemeinen Schulen wirklich für alle Mädchen und Jungen eine bessere Bildung und Erziehung gewährleisten – auch in Hessen gibt es wieder, zusätzlich zu Orientierungs- und Vergleichsarbeiten und neuerdings der »Unterrichtsgarantie Plus« vom ersten Schuljahr an Ziffernzensuren; die Maßnahmen werden allerdings nicht einer Überprüfung des Erfolges unterzogen.

 

e) Soll es bei den »zwei Säulen« der Sonderpädagogik bleiben?

 

Nachdem in den 1970er und 1980er Jahren die Sonderpädagogik und auch Sonderschulen in die Kritik und dementsprechend in die Krise geraten war, erstarkte sie in den 1990er Jahren wieder. Seit Mitte der 90er Jahre wird von den »zwei Säulen« sonderpädagogischer Förderung gesprochen. Vor allem im Hinblick auf die Schulen im Förderschwerpunkt Lernen ist das verwunderlich; wird doch immer wieder von neuem durch zum Teil sehr umfangreiche Untersuchungen unter Beweis gestellt, dass SchülerInnen mit Schulversagen in allgemeinen Schulen besser gefördert werden als in Sonderschulen oder dass der Aufenthalt in der Sonderschule das Leistungsversagen nicht kompensieren kann (Tent, 1991; Wocken, 2000, 2006 Kronig et al., 2000). So entsteht der Verdacht, dass die Funktion der Sonderschule als Glied im gegliederten Schulsystem erhalten bleibt, wie sie in den Schulgesetzen bis in die 1990er Jahre als Aufgabe von Sonderschulen genannt wurde, dass sie nämlich die allgemeinen Schulen von schwierigen SchülerInnen »entlasten« sollten (s. o.). Studierende berichten, dass offensichtlich der Geist der Separation auch vor den Toren von Förderschulen nicht Halt macht (vgl. dazu auch Schor, 2003). SchülerInnen, die in Schulen für Lernhilfe dem Unterricht angeblich nicht erfolgreich folgen können, werden auf Schulen für Praktisch Bildbare verwiesen – oder auf Schulen für Erziehungshilfe. Argumentiert wird jeweils mit der angemessenen Förderung. Ein/e SchülerIn hat so mehrere (Sonder-)Schulwechsel hin und her erlebt – es gibt keinen Grund, die Aussage der Studierenden anzuzweifeln.

Der Wunsch von Eltern nach der Fortsetzung der Gemeinsamkeit, die im Kindergarten entstanden ist, ist immer noch in stärkerem Maße vorhanden als in Schulen umgesetzt wird. Aber die Vereinzelung, die die Politik und die sozialen Bewegungen betrifft, macht auch vor der Integrationsbewegung nicht halt. So kommt es, dass es weiterhin in einigen Ländern vor allem die durchsetzungsfähigen Eltern sind, denen nicht so sehr eine grundsätzliche Öffnung der allgemeinen Schule am Herzen liegt, sondern die je für ihre Töchter und Söhne mit sonderpädagogischem Förderbedarf einen Platz im Gemeinsamen Unterricht ergattern25.

 

f) Gemeinsames Lernen auf Sparflamme

Alle Länder vermeiden, sich offen vom gemeinsamen Lernen zu verabschieden. Den Begriff Integration beziehen sie – und nicht nur sie – auf Mädchen und Jungen mit Migrationshintergrund. Sie gestehen immer noch kein Recht auf den Besuch der allgemeinen Schule zu; der Haushaltsvorbehalt besteht in allen Ländern weiter. Um Konflikten aus dem Weg zu gehen, lassen sie vor allem durchsetzungsstarken Elternwillen gelten. Das Anwachsen der SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in allgemeinen Schulen, im Gegensatz zu den 1980er und 1990er Jahren, wird mehr oder weniger tatenlos beobachtet. Fortbildungs- und Beratungsangebote für Lehrkräfte und Eltern wurden gekappt – und das angesichts der Tatsache, dass jetzt viele junge KollegInnen in Schulen kommen. Bedingungen in allgemeinen Schulen werden verschärft (s. o.). Das Beispiel Hessen zeigt, wie sich ein Land ganz allmählich zurückzieht und einen Qualitätsverlust des Gemeinsamen Lernens hinnimmt: Seit zehn Jahren sind die personellen Ressourcen für die Doppelbesetzung in Integrationsklassen unverändert geblieben; allein in den Jahren 1999 bis 2003 haben jedoch die SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Gemeinsamen Unterricht um 1.000 zugenommen26. Im Saarland veröffentlicht die kultusministerielle Statistik schon seit Jahren nicht mehr den Personalaufwand für die schulische Integration. Anfragen zur Aufklärung verhallen folgenlos.

 

3 Folgerungen der Integrationsbewegung

a) Das Bürgerrecht auf Bildung

In der Sonderpädagogik hat Bildung und das Bürgerrecht auf Bildung in den vergangenen Jahrzehnten eine untergeordnete Rolle gespielt. Monika Vernoij stellte unlängst fest, dass während alle anderen Kinder eine »Schule« besuchten, wir für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf den geeigneten »Förderort« suchten (Vernoij, 2006, S. 82). Der Begriff der Förderung habe die zentralen pädagogischen Begriffe »Erziehung« und »Bildung« aus der sonderpädagogischen Theoriebildung und Praxis verdrängt (ebd., S.66). Anders als zu Beginn der Auseinandersetzung um den angemessenen Ort der Bildung für SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, wird heute kaum noch jemand Eltern, die schulische Integration wünschen, unterstellen, es gehe ihnen nur um die soziale Integration ihres Kindes (vgl. Schnell, 2003, S. 33ff.). Im Gegenteil: Mittlerweile ist deutlich, dass das Bildungsangebot und die Entwicklungsanreize in der allgemeinen Schule umfangreicher und vielfältiger sind als das in Sonderschulen mit ihren scheinbar homogenen Lerngruppen und dem darauf eingestellten Lernangebot zur Verfügung gestellt werden kann27. Soziale Integration und kognitive Herausforderung können ohnehin nicht als Alternativen betrachtet werden; komplexe Denkleistungen setzen eine angstfreie Atmosphäre voraus (vgl. z. B. Kornmann, 1999).

Umgekehrt heißt das, wenn für Mädchen und Jungen mit sonderpädagogischem Förderbedarf das Recht auf Bildung um der jeweiligen Persönlichkeit willen ebenso ernst genommen würde wie für andere, wenn es also nicht nur um sonderpädagogische Förderung und Qualifizierung ginge, dann ist die allgemeine Schule der richtige Ort. Auch für SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf könnte Bildung zum Beispiel so ausgelegt werden – Gruschka vermutet, dass diese Beschreibung wohl von vielen geteilt werden könnte: »Allgemeinbildung als soziale Bildung, Mündigkeit als Freisetzung von Urteilsfähigkeit, Gerechtigkeit als Fähigkeit der Schule, Schüler (und Schülerinnen I. S.) gleich zu behandeln, indem ihrer Besonderheit gefolgt wird, Solidarität als die Fähigkeit der öffentlichen Schule, ein starkes Motiv für praktische Sittlichkeit zu stiften« (Gruschka, 2002, S. 172). Im Sinne der Gleichstellung wäre der Besuch der allgemeinen Schule selbstverständlich vorrangig. VertreterInnen der Disability Studies erklären die Tatsache, dass es in Deutschland auffallend wenige WissenschaftlerInnen mit Beeinträchtigung gibt, mit dem deutschen Bildungssystem, das im Vergleich zu den USA erst spät mainstreaming eröffnete und so die Bildungschancen begrenzte.

Die Haltung von PädagogInnen zum gemeinsamen Lernen verändert sich, wie die neue Studie des Instituts für Schulforschung Dortmund zeigt (vgl. Bos et al., 2006). Die Zahl derer, die sich für eine Verlängerung der gemeinsamen Lernzeit aussprechen, hat sich im Zeitraum von acht Jahren mehr als verdoppelt (1998: 24%–2006: 56%). Vielleicht spiegelt sich darin auch ein verändertes Bewusstsein von PädagogInnen, dass die Aufgabe wächst, eine Gemeinsamkeit aller in der Schule vorzubereiten und inklusive Werte zu vermitteln.

 

b) Das Grundrecht auf Gemeinsamkeit

»Integration ist ein Grundrecht im Zusammenleben der Menschen, das wir als Gemeinsamkeit aller zum Ausdruck bringen. Es ist ein Recht, auf das jeder Mensch einen Anspruch hat«, schrieb Jakob Muth in seinen zehn Thesen zur Integration von behinderten Kindern. Integration habe als Demokratisierungsprozess in der Französischen Revolution begonnen. Sie sei unteilbar. Integration als Gemeinsamkeit aller sei die Norm und müsse als solche nicht begründet werden (Muth, 1992, S. 185f.). Als Jakob Muth diese Worte schrieb, hatte er schon mehr als zwei Jahrzehnte intensiver Diskussion um die Möglichkeit gemeinsamen Lernens von behinderten und nichtbehinderten Kindern – so nannte man sie damals allgemein – hinter sich. Seit den Anfängen der Integrationsbewegung ist mehr als der Zeitraum einer Generation verstrichen. Sie hat es nun mit PolitikerInnen, mit Schulaufsichtsbeamten, mit Lehrkräften und Eltern zu tun, die wahrscheinlich an den Diskussionen nicht teilhatten und deren humanistische und demokratische Tradition nicht kennen.

Das bedeutet, dass, soll gemeinsames Lernen eine Zukunft haben, die Integrationsbewegung wieder in den gesellschaftlichen Dialog eintreten und inklusive Werte verständlich machen muss. Ich bin sicher, dass sie damit bei vielen auf offene Ohren stoßen wird.

c) Das Menschenrecht auf Gleichstellung

Die in Deutschland junge Wissenschaftsrichtung Disability Studies, die in den USA vor 20 Jahren als Bürgerrechtsbewegung entstand, fordert, Behinderung neu zu denken. Sie kritisiert aus vielerlei Perspektiven Theoriebildung und (sozial- und sonder-)pädagogische Praxis und relativiert in den letzten Jahren das soziale Modell von Behinderung, das zuvor gegenüber dem medizinischen Modell errungen werden musste. Anne Waldschmidt plädiert für eine kulturwissenschaftliche Perspektive. Ihr kulturelles Modell von Behinderung berücksichtigt,

»dass Sozialleistungen und Bürgerrechte allein nicht genügen, um Anerkennung und Teilhabe zu erreichen, vielmehr bedarf es auch der kulturellen Repräsentation. Individuelle und gesellschaftliche Akzeptanz wird erst dann möglich sein, wenn behinderte Menschen nicht als zu integrierende Minderheit, sondern als integraler Bestandteil der Gesellschaft verstanden werden« (Waldschmidt zit. nach Köbsell, 2006, S. 18).

Die Behindertenbewegung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verständlicherweise auf Erwachsene mit Beeinträchtigungen bezogen. Aber: Könnte es da nicht Möglichkeiten der Begegnung und gemeinsame Interessen im Hinblick auf das selbstverständliche Miteinander im Kindes- und Jugendalter geben?

 

4 Erneute Schärfung der Position

a) Beispiele von Schulen offensiv zeigen

Seit die Ergebnisse der Internationalen Vergleichsstudien Deutschland als bildungspolitisches Entwicklungsland bestätigten, wird unablässig die Forderung nach individueller Förderung erhoben. Damit wäre als Kernstück die Würdigung individueller Leistungen zu verbinden, um SchülerInnen nicht zu beschämen und so ihre Lernmotivation zu erhalten. An Ziffernzensuren haftet die Missachtung von Entwicklung (vgl. z. B. Schuck, 2004) und Noten »brauchen« (s. u.) allenfalls leistungsfähige Kinder; aber auch deren Kreativität wird beschnitten.

Die Integrationsbewegung hat zur Debatte um notwendige Korrekturen in unserem Bildungssystem viel Erfahrung mit einem anderen Unterricht beizutragen:

  • ? Ein grundsätzlich uneingeschränktes Bildungsangebot für alle
  • ? Die Begleitung individueller Entwicklungen
  • ? Die Herausforderung zur je möglichen Leistungsfähigkeit
  • ? Eine Leistungsbewertung, die individuelle Entwicklungen würdigt
  • ? Die Verbindung von Herausforderung und Akzeptanz
  • ? Die Unterstützung von Gemeinsamkeit und Individualität
  • ? Schulentwicklung, die den Namen verdient

Inklusive Werte, die sich auf die umfassende Vielfalt kindlicher und jugendlicher Herkunft, Lebensbedingungen, Ausgangslagen und Zukunftschancen beziehen, können Leitsterne für Schulentwicklung werden. Es gibt durchaus Schulen, auch in Deutschland, die schon weit vorangeschritten sind auf diesem Weg und längst nicht alle präsentieren sich offensiv. Sie sollten ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen.

Viele Einzelpersonen und Organisationen teilen, auch angesichts internationaler Entwicklungen, die Forderung nach einem neuen Entwurf für das deutsche Schulsystem. Sie können als BündnispartnerInnen gewonnen werden. Es belebte die Auseinandersetzung, die zur Erkenntnis führen könnte, dass Bildung als Recht, sich zu bilden, und Qualifizierung sich nur auf Kosten eigenständiger und kreativer Persönlichkeiten voneinander trennen lassen.

 

b) Eine neue Runde der bildungspolitischen Auseinandersetzung wagen

Wenn eine angesehene Wochenzeitung im Jahr 2006 einen Artikel mit dem Titel »Kinder wollen Noten« (Lau, 2006, s. dazu auch Brügelmann, 2006) veröffentlicht, muss die Integrationsbewegung erkennen, dass sie es mit einem starken Gegenwind zu tun hat. Das Gemeinsame Lernen kann nur dann auf breitere Füße gestellt werden, sodass in Zukunft nicht mehr für jedes einzelne Mädchen, für jeden einzelnen Jungen mit Beeinträchtigung ein Platz in der allgemeinen Schule erkämpft werden muss, wenn das Bewusstsein für die ohnehin vorhandene Vielfalt einerseits wächst und andererseits die Produktivität integrativer Pädagogik lockt.

Daher muss sich die Integrationsbewegung aus ihrem Kreis und über die Sonderpädagogik hinaus in die Debatte um das allgemeine Schulsystem einmischen28. Das heißt zum Beispiel

  • ? Symbolpolitik als solche zu kennzeichnen:

Vergleichsarbeiten werden eingeführt – gleichzeitig werden Beratungs- und Fortbildungssysteme für Lehrkräfte abgeschafft und Fortbildung dem Markt der Möglichkeiten anheim gegeben.

  • ? Widersprüchlichkeiten als Heuchelei zu entlarven:

Einige hessische Schulen dürfen weiterhin Entwicklungsberichte schreiben, während alle anderen Schulen ab dem ersten Schuljahr Ziffernzensuren erteilen müssen. Oder: Die Schule für Lernbehinderte/Förderschule wird erhalten, obwohl seit Jahrzehnten keine Untersuchung ihre Effizienz belegen konnte.

  • ? Die Blindheit der Bildungspolitik für demografische Entwicklungen offenzulegen.
  • ? Die Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen anzuprangern, die der Schule mehr denn je die Aufgabe der Kohärenz, der Bildung von Gemeinsamkeit zuweisen.

In den vergangenen Jahrzehnten haben Medien und Teile der Politik die Anliegen der Integrationsbewegung aufmerksam begleitet. Es wurden Filme gesendet und Artikel geschrieben. Neuerdings scheint es bei einzelnen Bildungsredakteuren wieder ein Interesse für Nichtaussonderung zu geben. Sie sind jeweils erstaunt, wenn sie es mit dem ganzen Bildungssystem zu tun bekommen, wo sie doch nur nach Kindern mit Behinderung gefragt hatten. Es gilt, sich wieder offensiv um Kontakte zu Medien zu bemühen, Artikel und Leserbriefe zu schreiben. Und nicht zuletzt: Es stehen immer irgendwo Landtagswahlen an, auf denen von verschiedenen Personen, die sich zuvor abgesprochen haben, die Gretchenfrage gestellt werden kann, wie die KandidatInnen zu einem inklusiven Schulsystem stehen und was sie unternehmen werden, um es voranzubringen, welche Maßnahmen, die Gemeinsamkeit behindern, sie zurücknehmen werden und auf welchem Wege sie wieder Raum und Zeit schaffen wollen für Erziehung und Bildung in Schulen – und nicht locker zu lassen, bis konkrete Aussagen gemacht werden. Sie könnten mit der Selbstverständlichkeit einer Vertreterin der Disability Studies, wie Theresia Degener, fragen, warum eigentlich Behinderte in Sonderschulen geschickt werden (vgl. Degener, 2003). Das könnte die Gleichstellung von jungen Menschen mit Beeinträchtigung zum politischen Thema machen und so wieder einen bedeutenderen Stellenwert einräumen – anders haben das die »ersten« Eltern in der Integrationsbewegung auch nicht geschafft!

 

Literatur

 

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