Interview mit Hans Wocken

Wie bist du zur integrativen Pädagogik gekommen?

Das ist natürlich eine etwas längere Geschichte. Die kurze Antwort darauf?

Nein, gerne die lange Antwort.

Studienreisen

Die kommt dann auch noch. Die kurze Antwort ist zunächst einmal: ich bin durch Reisen dazu gekommen. Als ich in Köln wissenschaftlicher Assistent war, da habe ich von der Kölner Uni ziemlich viel Geld bekommen, damals war das noch so. Ich durfte in jedem Semester wirklich für 500 Euro verreisen, das war eine ganze Menge. Und das war eine Fortsetzung meiner Dortmunder Zeit, wo ich angefangen habe, mir andere Schulen anzusehen. Ich bin in der Kölner Zeit zum allerersten Mal in Italien gewesen, habe eine Studienreise organisiert und geleitet. Damals war eine ganze Reihe von bekannten Leuten mit dabei, die ich jetzt nicht aufzähle. Auf diesen Studienreisen bin ich nach Italien und Skandinavien gekommen und dort habe ich, das war in den 1970er Jahren, zum allerersten Mal Integration gesehen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass es in den 1970er Jahren kein einziges Buch über Integration gab. Es gab nicht einmal einen Aufsatz, einen Zeitschriftenaufsatz über Integration, es sei denn Integration von Migranten. Das war damals auch ein kleines Thema, aber Integration von Behinderten war einfach kein Thema.

Keine Etikettierung für »Lernbehinderung« im Ausland

Nun kam ich da hin und habe überall, ich war ja Professor für Lernbehindertenpädagogik, die Frage gestellt: Wo sind meine Lernbehinderten? Dies geht schon ein bisschen in Richtung der zweiten Frage. Ich wollte wissen, wo sind die und da haben mich die Italiener und die Skandinavier mit großen Augen angeschaut: Wen meist du? Lernbehinderte haben wir nicht, haben wir einfach nicht. Weder die Skandinavier noch die Italiener konnten etwas mit diesem Begriff »Lernbehinderte« anfangen, die haben dort allenfalls gesagt, schau dich mal hier um, die sind in jeder Klasse irgendwie, die schreiben mal eine fünf und die sind ein bisschen lernschwach.

Von diesen Studienreisen, nach Skandinavien und nach Italien insbesondere, da bin ich dann nach Hause gekommen und ich konnte und musste zu Hause sagen, liebe Leute, ich habe zwar keinen Aufsatz darüber gelesen, aber ich habe es gesehen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Augen. Das hat mich dann absolut nicht losgelassen und mit diesen Vorerfahrungen bin ich dann nach Hamburg gekommen, das war 1980. In dem Jahr habe ich meine Professur für Lernbehindertenpädagogik in Hamburg angetreten, war also prädisponiert. 1981 war dann das UNO-Jahr der Behinderten und die Losung des UNO-Jahres der Behinderten war: »Gemeinsam leben – gemeinsam lernen«.

Elterninitiativen
in Hamburg

Diese Parole haben eine ganze Reihe von Elterninitiativen unter anderem im Hamburger Umfeld, Schenefeld und Hamburg, sehr sehr ernst genommen. Die haben gesagt, wir haben unsere Kinder gemeinsam im Kindergarten, behinderte und nicht behinderte Kinder, und warum soll das alles sein.

Zusammenarbeit
mit Eltern

Als ich 1980 dort angefangen habe an der Universität Hamburg, traf ich per Zufall auf Ines Boban und Andreas Hinz. Das waren meine allerersten Studenten in meinem allerersten Seminar. Ich habe ein Seminar angeboten zur antiautoritären Pädagogik und das hat die beiden angesprochen. Da waren die da. Und sie haben dann zu mir gesagt, komm doch mal mit, denn die waren ja Hamburger und konnten mir die Hamburger Welt zeigen. Sie sind mit mir zu Elterninitiativen gegangen, insbesondere damals Elterninitiativen in Schenefeld und wir haben da unten im Partykeller gesessen und wilde Pläne geschmiedet. Es war ja nichts da, absolut gar nichts. Die Schenefelder hatten noch vor den Hamburgern die erste Integrationsklasse und in diesen Kreisen unten im Partykeller haben wir Pläne geschmiedet, wie wir dann Inklusion in Hamburg inszenieren können. Ich bin durch Ines und Andreas sozusagen mit Inklusion, mit einem inklusiven Feld in Berührung gekommen, ich war allerdings durchaus vorbereitet, aber die haben mich dahin geschleppt. Und die Mitstreiter, welche für mich wichtig waren, waren somit Ines und Andreas und auch die Eltern. Wir haben dann unten in dem Partykeller gesessen und wir haben auch über die Kinder gesprochen. Alle Eltern einer Initiative saßen im Kreis, diese Kinder sind alle für die nächste Klasse vorgesehen, und Renate Körner, das war damals die Leiterin der Elterninitiative, die hat immer gesagt, erzähl mal etwas über dein Kind. Und dann haben die Eltern ausgepackt. Nicht nur, was die Kinder nicht konnten, sondern auch was die Kinder konnten. Und ich bin dann jahrelang mit diesen Eltern in Kontakt gewesen, und ich habe ehrlich gesagt von diesen Eltern Inklusion gelernt, praktisch. Ich hatte es gesehen, aber das war eben eine Studienreise, und dort in diesen Gesprächsrunden mit den Eltern habe ich eine andere Sicht der Dinge kennengelernt, insbesondere durch Renate Körner, aber auch durch die anderen Mitstreiter. Ich habe dann selbst, ja maßgeblich kann ich sagen, zusammen mit Ines und Andreas angefangen an der Uni Seminare dazu zu veranstalten und habe die Hamburger Arbeitsgemeinschaft »Gemeinsam leben – gemeinsam lernen« gegründet, die Arbeitsgemeinschaft der Eltern. Ich hatte ja die Möglichkeit mit der Universität im Rücken. Ich konnte sagen, wir versammeln uns da, ich konnte Räume anbieten, das kostete gar nichts und die Eltern waren glücklich, dass sie einen solchen Versammlungsort hatten, und so ist in Hamburg die Sache in Gang gekommen. 1982 haben die ersten Elterninitiativen in Hamburg einen Antrag auf Einrichtung einer Integrationsklasse gestellt, das ist 1982 noch schief gegangen. Und zwar hat der damalige Senator Joist Grolle gesagt, das könnt ihr machen, er war nicht unbedingt dafür, aber er hat gesagt, ich lass euch das machen. Voraussetzung ist, dass die Schulkonferenz zustimmt. Zur Schulkonferenz gehören LehrerInnen, Eltern und Hausmeister. Und der Hausmeister hat gesagt: »Nein«, und deshalb gab es das 1982 nicht. Ja, so kurios war die Geschichte. Der erste Anlauf hat uns natürlich geschadet, aber in Wirklichkeit sehr geholfen, denn das ganze Drum und Dran wurde von der Presse maßgeblich begleitet und urplötzlich war Integration ein Stückchen schon ein öffentliches Thema. 1983 haben dann die drei Elterninitiativen in Bergedorf, Nettelnburg und Stadtmitte erneut einen Antrag gestellt, und so sind 1983 dann die ersten Integrationsklassen in Hamburg entstanden. Ich bin also von der Pike auf, absolut von der Pike auf, dabei gewesen, über die Eltern mit Andreas und Ines zusammen und bin da so richtig reingewachsen.

Anfänge der wissenschaftlichen Begleitung

Und dann haben die Eltern gesagt, nachdem der Senator Grolle das genehmigt hat, dass sie auch eine wissenschaftliche Begleitung wollen. Herr Grolle hat gesagt, dafür haben wir kein Geld. Ja, da haben die Eltern geantwortet, wir haben da aber jemanden, der sich dafür interessiert und der macht das auch und dann habe ich die wissenschaftliche Begleitung gemacht, für Null und Null und Null. Und zwar jahrelang, erst nach fünf, sechs Jahren gab es dann so ein Taschengeld von 100 DM als Aufwandsentschädigung. Das Ganze muss man sich nicht so vorstellen wie eine wissenschaftliche Begleitung, wie das heute so der Fall ist, ein großes Projekt und dann Leute einstellen und so, das gab es alles nicht. Ich war einsam und allein und meine wissenschaftliche Begleitung sah wirklich wie Begleitung aus, zunächst gar nicht wie Wissenschaft. Ich bin in die Klassen reingegangen, in die ersten drei Integrationsklassen und zwar alle drei. Ich kannte alle Kinder, ich kannte deren LehrerInnen und ich kannte alle Eltern und habe mit denen gesprochen.

Begleitung vor Ort

Also auch hier noch einmal von der Basis an und nicht aus irgendwelchen Büchern, die es ja sowieso nicht gab oder von irgendwelchen schlauen Leuten und auch nicht vom Flugzeug aus, Flugblätter mit Fragebögen abwerfen und dann auswerten. Nein, meine Erfahrungen waren immer direkte Erfahrungen, absolut direkte Erfahrungen. Was ich über Integration damals wusste und was bis heute noch wirksam ist, das weiß ich aus eigenem Erleben, durch zusehen, durch mit den Leuten reden, das ist alles gewachsen. Was ich später mal geschrieben habe über Kooperation von PädagogInnen etc., das habe ich erlebt.

Probleme der Integration erleben

Es gab ja damals noch keine Vorerfahrungen darüber, was eigentlich die wichtigen Probleme von Integration sind. Wir wussten ja gar nicht, welche die schwierigsten Kinder seien. Wir wussten damals nicht, dass die verhaltensauffälligen Kinder die Probleme sind und nicht die Geistigbehinderten. Die Geistigbehinderten waren ein Kinderspiel, ein absolutes Kinderspiel. Aber die Chaoten in Anführungszeichen, die haben uns das Leben schwergemacht. Und wir wussten erst recht nicht, dass die Erwachsenen noch schwieriger sind als die Kinder. Dass die PädagogInnen nicht miteinander können, ausgebildete, freundliche professionelle Menschen, dass die nicht miteinander arbeiten können, dass das Kooperationsproblem genauso wichtig war wie das andere Problem.

Von der Feldforschung zur Integrationsforschung

Ich bin mit den Problemen groß geworden, ohne eine vorgängige Hypothese, wie man sich das in der Wissenschaftstheorie vorstellt. Ich habe eine Hypothese und dann mache ich ein Design und dann untersuchen die das, alles Quatsch, alles Quatsch. Das war eine induktive Forschung, keine deduktive Forschung, es war vor allen Dingen Feldforschung, es war vielleicht nicht einmal Forschung, wenn man das genau nimmt. Es war Miterleben und mit dabei sein und ein nachgängiges Reflektieren und Untersuchen. Erst nachdem ich etwas wusste, sind bei mir Fragen aufgekommen und sind Untersuchungsvorhaben inszeniert worden, aber vorgängig war das unmittelbare Dabeisein. Wenn ich überhaupt sonstige praktische Erfahrungen hatte, dann waren das Studienreisen nach Italien und nach Skandinavien, welche ich dann wiederholt habe. Aber mein primäres Erfahrungsfeld waren absolut die Integrationsklassen.

Konzept der integrativen Regelklassen

Integrationsforschung im heutigen Sinne kam erst auf, nachdem dieser erste Schulversuch »Integrationsklassen in Hamburg« beendet war. Da hat der Senat gesagt, na gut, das war erfolgreich, dann werden wir es fortsetzen. Und da ist ja das Konzept der integrativen Regelklassen entstanden, da gab es auch schon ein paar Groschen dazu. Es gab diese Aufwandsentschädigung dazu, vorher habe ich keinen einzigen Pfennig gesehen, nicht fürs Drucken, nicht für Fahrten, für nichts. Ich wurde gelegentlich auch mal zu Vorträgen auswärts eingeladen. Von armen Elterninitiativen, von drei verschüchterten Mütterchen, die mich eingeladen haben und die haben mir dann eine Tafel Schokolade gegeben oder haben mir etwas Benzingeld gegeben. Also es war Forschung, wie man sie sich heute nicht mehr vorstellen kann. Diese Elterninitiativen, die wurden auch von niemandem unterstützt und von denen konnte ich nicht mehr verlangen, verlangen schon mal gar nicht, als einen Blumenstrauß. Es war eine Forschung zum Nulltarif, und in der Universität war ich auch einsam und allein, mehr oder minder ein Eremit, ein geduldetes Mitglied des sonderpädagogischen Kollegiums. Die großen Namen Bleidick, Rath und wie sie alle heißen, aber diesen KollegInnen muss ich das Kompliment machen, dass die mich haben machen lassen. Die haben zwar mit dem Kopf geschüttelt und gesagt, der Junge wird sich schon die Hörner abstoßen, aber sie haben mich machen lassen. Und die haben auch nicht gegen mich gearbeitet, das war die Liberalität der Hansestadt Hamburg, die ist mir da zugutegekommen, und diese KollegInnen, dass ich überhaupt mit Integration etwas machen konnte.

Neue Blickwinkel

Und auf dem Wege über diese ganze Integrationsbegleitung, so muss man es vielleicht nennen, bin ich auch selbst ein anderer Mensch geworden. Ich bin durch die Kommunikation mit den Eltern ein anderer Mensch geworden, ich habe durch die Kommunikation mit den Eltern andere Vorstellungen, andere Begriffe über Behinderung bekommen. Vorher war ich ein richtig knochiger Mensch, der genau sagen konnte, dass das die richtige Definition von Lernbehinderung ist. Die haben so manches bei mir erschüttert und zunichtegemacht. Ich war Lehrling, ein wissenschaftlicher Lehrling, der alles von Grund auf neu infrage gestellt hat. Das änderte sich erst zu dem Zeitpunkt der integrativen Regelklassen, da war Integration ein gutes Stück etabliert, aber so bin ich dazu gekommen.

So … Reisen, mein Interesse war Lernbehinderung, das hat sich dann nachher erweitert, denn unsere ersten Integrationsklassen waren selbstverständlich nicht nur Integrationsklassen mit Lernbehinderten, sondern insbesondere mit Kindern mit dem Down-Syndrom. Die waren insbesondere vertreten.

Gemeinschaft der IntegrationsforscherInnen

So, wen ich dann allenfalls noch als Mitstreiter benennen könnte und auch müsste, ist die Integrationsforschergemeinschaft. Wir haben da diejenigen, die damals in der Integrationsforschung tätig waren: Jutta Schöler, Ulf Preuss-Lausitz und die bekannten Gesichter. Die haben dies ja alles an ihren jeweiligen Orten betrieben in Berlin, im Saarland und so weiter. Wir hatten ein mächtiges Bedürfnis, uns mal auszusprechen. Nach außen hin waren wir mehr oder minder immer gezwungen zu sagen: »Ja das geht, es ist erfolgreich« und und und. Wir haben sehr wohl gesehen, dass es auch Probleme gibt. Das haben wir wohl gesehen, aber wenn wir das in der Öffentlichkeit gesagt hätten, dann wären diese Klassen wohl sofort zugemacht worden.

Austausch unter den ForscherInnen

Und aus diesem Bedürfnis heraus, sich darüber auszuquatschen, sind wir dann auf die Idee gekommen, dass wir einmal eine Integrationsforschertagung haben wollen. Entstanden ist diese Integrationsforschertagung haargenau auf einer Tagung der Fläming-Schule und zu dieser Tagung der Fläming-Schule haben sich ganz viele Integrationsforscher von damals angemeldet und wir haben dann eine Arbeitsgruppe angemeldet, eine »Arbeitsgruppe Integrationsforschung«. Und diese Arbeitsgruppe war gedacht, als eine exklusive Arbeitsgruppe, an der nur IntegrationsforscherInnen teilnehmen sollten. Und welche Arbeitsgruppe war am meisten besucht, die Arbeitsgruppe der IntegrationsforscherInnen. Denn die Eltern haben gesagt, das wollen wir doch mal sehen, was die da alles über uns erzählen. Und auf dieser Tagung in der Fläming-Schule ist dann der Gedanke entstanden, dass es wirklich einmal notwendig ist, dass wir unter uns sind und unter uns etwas bereden, denn wenn wir das Wort Korrelationskoeffizient oder das Wort Konfigurationsfrequenzanalyse in den Mund nehmen, dann laufen uns die Eltern davon. Aber es ist doch legitim, dass wir einmal sagen, was für ein Forschungsdesign wir anwenden und dergleichen, das hat die Eltern nicht die Bohne interessiert und da ist diese Integrationsforschertagung entstanden. An der dann auch sehr kontinuierlich und sehr konstant die bekannten Namen teilnahmen, bis auf den heutigen Tag. Die Integrationsforschertagung ist für mich immer so etwas wie ein Familientreffen gewesen. Ich gehe da nicht nur hin, um zu erfahren was es alles an neuen Erkenntnissen gibt, sondern ich gehe dahin, um die Leute zu sehen, um der Helga Deppe-Wolfinger die Hand zu schütteln, der Jutta und den Ulf Preuss-Lausitz, die will ich einfach wiedersehen und wo kann man die wiedersehen? Da. Also das Bedürfnis nach familiären Treffen ist daraus erwachsen und das ist unverändert eine der stärksten Triebfedern für mich, diese Integrationsforschertagung zu besuchen.

Zusammenarbeit zwischen Hamburg und Berlin

Wenn du nach den Mitstreitern fragst oder mit wem zusammen ich diesen Weg gegangen bin, da muss ich eben sagen: Ines Boban und Andreas Hinz, meine ersten Studenten, und Andreas Hinz war später mein Doktorand. Dann natürlich die Eltern und die Integrationsforschertagung. Ah, ich muss noch eine Gruppe erwähnen, die in meiner Biografie eine Rolle gespielt hat, die kann ich fast »die Berliner« nennen, das waren die Berliner. Als wir in Hamburg damit begonnen haben, mit Integration, was hatten wir da an Ahnung? Null. Dann haben wir uns natürlich gesagt, gut da müssen wir mal zu den Leuten gehen, die schon Inte­gration machen und das war damals die Fläming-Schule, wer denn sonst. Und so sind wir zur Fläming-Schule gefahren und haben dort Wolfgang Podlesch, Rainer Maikowski, Norbert Stoellger kennengelernt und all die damaligen Figuren und diese damaligen Berliner sind dann auch nach Hamburg gekommen, wenn wir eine öffentliche Veranstaltung gemacht haben, dann haben wir gesagt, wir brauchen Referenten. Und wer konnte darüber referieren? Darüber konnte kein anderer referieren als eben diese sogenannten Berliner. Zwischen Hamburg und Berlin hatte sich so eine Art Ameisenstraße entwickelt. Die Berliner kamen zu uns und wir gingen zu den Berlinern. Diese Verbundenheit zwischen den Hamburgern und den Berlinern hat lange lange angehalten, also Wolfgang Podlesch war doch lange dabei, Rainer Maikowski, das hat lange angehalten. Später gab es dann auch eine verstärkte Rückbewegung, weil sich in Hamburg ja auch etwas entwickelt hatte, weil wir mit der Dauer auch etwas vorzuzeigen hatten. Eine Rückbewegung Richtung Uckermark-Schule und so.

Aber ich erinnere mich natürlich wahnsinnig gerne an viele viele Kontakte mit den Beiden. Mit denen konnte ich mehr anfangen als beispielsweise mit Hans Eberwein oder erst recht mit Norbert Stoellger, sondern da gehörten eher die Leute auf der mittleren Ebene dazu, Renate Hetzner und andere, Birgit, die mit den schwarzen Haaren, komme nicht auf den Namen, die gehörten eher schon dazu als Norbert Stoellger.

Außendarstellung von Integration

Es ist schon schön, dass die Fläming-Schule so im Nachhinein durch den Film »Das Klassenleben« noch mal besonders zu Ehren gekommen ist. Ist eine der besten Filme, die es dazu gibt. Am Anfang, das gehört vielleicht ein bisschen sogar zu der biografischen Rückschau: die ersten Integrationsfilme, die es gab, die waren alle ein bisschen gelogen, alle. Das waren schöne Filme, absolut schöne Filme, wo alle nur sagen können, mein Gott ist das nett und Integration ist ein Paradies. Und die haben einfach über so manchen Unzulänglichkeiten und Fehlern und Schwächen der Integration den Mantel des Schweigens ausgebreitet. Das waren Reklamefilme, Werbefilme. Du hast mich gefragt, was waren die größten Herausforderungen. Ja, wir haben am Anfang gemunkelt und haben einfach nicht alles gesagt, wir haben zwar nicht die Unwahrheit gesagt, aber wir haben nicht alles gesagt. Das gehört zur Geschichte. Um das durchzusetzen, musste man Integration auf Glanzpapier vorzeigen, sonst hätte es niemals geklappt.

Ich habe dann mit den Berlinern sogar noch mal eine Studienreise nach Norwegen veranstaltet, wo ich viele Berliner, die, die wollten, mitgenommen habe. Das war noch der damalige Schulleiter der Uckermark-Schule, Rolf Schüppel hieß er glaube ich, also das war der ganze soziale Kontext, in dem ich groß geworden bin, was meine Biografie Richtung Inklusion ist. Merkwürdigerweise gab es keine intensive Verbindung zu den Bremern, was ja auch ein Stückchen nahe gelegen hätte. Bremen war ja auch nahezu von der ersten Stunde an mit dabei. Die ersten Integrationsklassen waren ja Bonn, Bremen, Hamburg, Berlin, aber zu den Bremern hat sich nie eine recht intensive Beziehung entwickelt, auf die ich sicherlich noch zum späteren Zeitpunkt zurückkomme. Sondern die Verbindung, meine Verbindung, war Berlin.

Ja. Welche Bezüge gab es zur Praxis?

Bezüge zur Praxis

Ja, ich habe meine Formen der wissenschaftlichen Begleitung, wissenschaftlich schon fast in Anführungszeichen, habe ich sehr sehr deutlich beschrieben. Es war ein teilnehmendes Dabeisein und nicht ein die Leute mit Fragebögen zupfeffern und dergleichen mehr. Bevor wir Untersuchungen gemacht haben, hat das lange lange gedauert. Ich habe die ersten Untersuchungen dann ja gemacht, sogar zu dem Leistungsproblem, da musste ich mit dem Test kommen. Oh, das war ein schwieriges Ding, sowas überhaupt durchzuführen. Also richtige Forschung hat später erst angefangen. Okay, Luft holen. Oder hast du Fragen dazu.

Nein.

Nein, wahrscheinlich kennst du aus den anderen Interviews ähnliche Geschichten.

Genau, also ich finde es ganz spannend, weil sich ja tatsächlich dieser Ansatz der wissenschaftlichen Begleitung verändert hat von damals zu heute und ich finde aber eben, dass der damalige Ansatz auch seine Vorzüge hat.

Absolut, ja.

Weil dieses Starre: Lesetests verteilen und wieder einsammeln halt auch nicht das Wahre ist.

Wandlung der wissenschaftlichen Methoden

Also ich habe dann später einmal an unbedeutender Stelle, nämlich in einer Hamburger Universitätszeitschrift, meine Auffassung zum wissenschaftlichen Arbeiten auch reflektiert und niedergelegt und habe die gesamte Wissenschaftstheorie, die es damals da so gab, Hypothesenformulierung, da kommt das und das, die habe ich einfach in Schutt und Asche gehauen, weil meine Arbeit nicht so war. Ich habe mir einen Leitspruch der Tvind-Schulen in Dänemark ein Stückchen zu Eigen gemacht: »Wenn du etwas wissen willst, dann musst du versuchen, möglichst nahe an die Dinge selbst ranzukommen«. Also nicht abständige Wissenschaft – Wissenschaft ist ja etwas Distanziertes, damit etwas Objektives dabei rumkommt – also nicht abständige Wissenschaft, sondern partizipative und empathische Wissenschaft. Die Trennungslinien, emotionale wie auch kognitive zwischen den Eltern und mir und den Lehrern, waren verdammt gering, verdammt gering. Wir sind zusammen ausgegangen, wir haben zusammen Studienfahrten gemacht, es gab keine Distanz, ich war einer von ihnen.

Hamburger Integrationszirkus

Und ich habe dann mit Andreas und Ines zusammen 1989 eine große Inklusionstagung gemacht für deutschsprachige Länder, die haben wir damals »Hamburger Integrationszirkus« genannt. Wir haben die Metapher »Zirkus« genommen, um die Vielfalt zum Ausdruck zu bringen. Und an dieser Integrationstagung in Hamburg, am »Hamburger Integrationszirkus«, den haben wir auch so aufgezogen wie einen Zirkus, da haben Referenten aus allen Ländern, die damals was mit Integration am Hut hatten, Dänemark, Italien und so weiter, die haben daran teilgenommen und es haben auch Leute aus Österreich und der Schweiz teilgenommen. Es war etwas Besonderes, ja. Und nichts war finanziert, keine Projekte, alles war Eigeninitiative, Ärmel hochkrempeln und anpacken. Okay.

Was waren aus deiner Sicht die größten Herausforderungen?

Kampf für Integration

Ja, habe ich lange drüber nachgedacht. Zu den größten Herausforderungen zählte die Eroberung der Schule, reinkommen. Reinkommen. Dies war unser Anliegen. Nicht irgendwelche Erkenntnisse formulieren, es war ja keineswegs so, dass sie alle mit offenen Armen dastanden und sagten, ja wir wollen eine Integrationsklasse. Es war ein Kampf, ein Kampf ohne Ende, dies kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Wir hatten keine Verbündeten in der Wissenschaft, wir hatten keine Verbündeten bei den PolitikerInnen, wir hatten erst Recht keine Verbündeten in der Schulbehörde. Wir mussten Türen eintreten, Leute gewinnen und sagen, wir wollen etwas haben. Das war eine Sensation, eine absolute Sensation, dass man so etwas überhaupt macht, weil alle gesagt haben, da kommen Verrückte. Die erste Integrationsklasse in Schenefeld, das war noch ein Selbstgänger. Bei der zweiten Integrationsklasse habe ich mitgearbeitet, mit diesen Elterninitiativen und das ist in die Hose gegangen. Eine zweite Integrationsklasse wurde nicht mehr von dem damaligen Kultusminister Bendixen genehmigt. Das wollten die nicht haben. Und wir haben verrückte Sachen gemacht! Wir sind mit den Kindern und der Elterngruppe der zweiten Integrationsklasse, die nicht zustande gekommen ist, zum Kieler Landtag gefahren. Wir haben uns an den Kindern festgekettet, richtig mit Polizeihandschellen, richtig festgekettet, sind in den Landtag reingezogen und haben Integrationslieder gesungen. Und wir wären normalerweise nicht reingekommen, weil die Ordner, die Wächter im Landtag, natürlich alle Leute abwehren. Und die hatten Schiss, die behinderten Kinder anzufassen, das wussten wir und so sind wir also mit den Kindern in den Landtag eingezogen und haben Lieder gesungen. Und sowas spricht sich dann natürlich auch herum, und wir waren oder ich war eine Persona non grata, ein Widerstandskämpfer, wenn man so will.

Politische Veränderungen

In späteren Jahren hat sich das dann geändert, und als es dann eine SPD-Regierung in Schleswig Holstein gab, da wurde ich in den Beraterkreis berufen, wir wollen hier jetzt Integration machen. So kommt man, fast wie Václav Havel aus dem Gefängnisstatus heraus kam, heraus aus dem Rebellenstatus und wird auch mal zu einem Experten.

Gemeinsamer
Kampf mit Eltern

Also die zentrale Herausforderung war, wir müssen das erreichen und die ersten Aufgaben eines Wissenschaftlers bestanden nicht darin irgendeinen Scheiß aufzuschreiben, sondern das zu unterstützen. Die Eltern darin zu unterstützen, dass diese Integrationsklassen zustande kamen und sie zu verteidigen. Ich habe eben ja schon mit anklingen lassen, dass wir manches in der Öffentlichkeit einfach nicht gesagt haben, denn es klappte nicht alles, das war sonnenklar. Aber da haben wir einfach gesagt, nicht für die Öffentlichkeit. Intern werden wir schon darüber diskutieren. Es gab also, zum Entsetzen mancher Leute, keine großen Herausforderungen. Die wichtigste Herausforderung ist es, dass wir die Kinder in die Schule rein haben wollen. Das war das einzige Anliegen. Und glaub ja nicht, dass irgendjemand darüber nachgedacht hat, was eine inklusive Didaktik ist. Dann hätten wir gesagt, du hast aber Probleme, tja, das war kein Problem, wir hatten keine Zeit darüber nachzudenken, was eine inklusive Didaktik ist. Das ist die didaktische Diskussion und andere Diskussionen, die sind erst viel viel später aufgekommen.

Kooperation der PädagogInnen

Zum Beispiel das Kooperationsproblem, das war eher ein Problem für die Hamburger Integrationsklassen als das didaktische Problem. Das Kooperationsproblem war deshalb eher ein Problem, weil in der Anfangszeit wirklich ein Drittel aller Pädagogenteams auseinandergebrochen sind. Ein Drittel, und da kann man nicht mehr die Augen schließen und behaupten, das ist kein Problem, sondern man muss schauen, was machen wir denn da bitte.

Es waren also nicht die wissenschaftlichen Probleme, sondern das Problem, die Kinder in die Schule reinzukriegen und dann das Ganze irgendwie zu überleben. Das ist wie ein Bericht aus dem Krieg. So, nun wird es aber in deinem Fragebogen ein Stückchen theoretischer und wissenschaftlicher und auch ein bisschen schwieriger.

Welche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte sollten nicht in Vergessenheit geraten?

Dekonstruktion
von Normalität

Schwierig, da könnte man lange drüber philosophieren. Ich will mal versuchen da eine Linie reinzubringen. Das was in meinem Umgang mit den Eltern, in Gesprächen mit den Eltern, für mich zentral war, war die Dekonstruktion von Normalität. 1980 hatte ich einen Begriff von Normalität. Lernbehinderte sind nicht normal, Lernbehinderte sind subnormal. Und dann haben die Eltern gesagt, jedes Kind ist ein vollwertiges Kind, jedes Kind hat individuelle Fähigkeiten und nicht nur Defizite, sondern auch positive Eigenschaften. Also diese Dekonstruktion von Defiziten und das Zerstören eines Begriffes von Normalität, das gehörte für mich zu den zentralen Leitgedanken, die damals so langsam in den Köpfen entstanden sind und die heute glaube ich zum Allgemeingut gehören und deshalb passt es dahin; dies sollte nicht in Vergessenheit geraten. Die Entdeckung und die Dekonstruktion von Normalität und das Entdecken der Vielfalt von Kindern, das hat sich dann für mich persönlich später fortgesetzt, insbesondere in der Frankfurter Theorie der integrativen Prozesse von Helmut Reiser, Helga Deppe-Wolfinger, Annedore Prengel, Maria Krohn und wen habe ich noch vergessen.

Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit

Diese Frankfurter Theorie der integrativen Prozesse, das war und ist für mich bis heute die substanzhaltigste Theorie überhaupt, weil dort zum ersten Mal Inklusion gedacht wurde in Form einer dialektischen Figur, Inklusion ist eine Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit. Ein Gedanke, der heute zum selbstverständlichen Gemeingut gehört, aber das ist dort zum allerersten Mal formuliert worden. Es ist für mich bis heute die beste Theorie überhaupt, die ist ja dann später richtig theoretisch ausformuliert worden von Annedore Prengel in ihrem epochemachenden Buch: Pädagogik der Vielfalt. Natürlich von Helmut Reiser mit vorgedacht. Ich habe dann später den Andreas Hinz auf diese Fährte gesetzt, denn seine Dissertation baut jetzt ganz zentral auf dieser Theorie auf, Dialektik von Gleichheit und Verschiedenheit. Sie ist heute fast nicht mehr im Gespräch. Ich meinte fast, weil es selbstverständlich ist, nicht weil man der Ansicht ist, dass sie falsch war. Ich glaube nicht, dass das in der heutigen WissenschaftlerInnengeneration so gesagt werden würde, dass die Theorie integrativer Prozesse falsch ist, aber man nimmt nicht mehr explizit darauf Bezug, so nehme ich heute die Diskussion war. Ich lebe immer noch von dieser Theorie und mit dieser Theorie, habe selbst in einem neueren Aufsatz einmal über die Theorie der Inklusion etwas geschrieben und habe diese Theorie der integrativen Prozesse, wie ich persönlich meine, ein gutes Stückchen weiterentwickelt. In einem meiner letzten Bücher ist dieser Aufsatz »Theorie der Inklusion« enthalten, wo ich dieses dialektische Wechselspiel an verschiedenen Figuren auch aufgezeigt habe. Also zentral war die Problematisierung und Dekonstruktion von Normalität und die Entdeckung multipler Heterogenität. Die Denkfigur Heterogenität bedeutet nicht, alle Leute sind komplett anders, sondern Heterogenität bedeutet, wir sind nicht nur verschieden, sondern sind auch gleich. Wir sind beides gleichzeitig, wir sind genauso wie die anderen und wir sind trotzdem anders. Und das ist eine gültige Denkfigur, meine ich, bis auf den heutigen Tag und diese sollten wir nicht abschreiben. Es ist ein wissenschaftliches Allgemeingut geworden, glaube ich. So.

Was waren die wichtigsten Erkenntnisse?

Inklusion ist
kein Gnadenakt

Also das ist für mich der zentrale theoretische Fundus und einer der wichtigsten Erkenntnisse. Ein Nebengedanke, gar nicht mal so die wichtigste Erkenntnis, naja, ich habe mir aufgeschrieben: Inklusion ist nicht Gnade, sondern Inklusion ist ein Recht. Wenn du auf meine Internetseite gehst, sieht du einen Artikel von 1987 über Eltern und Integration und da habe ich formuliert: »Inklusion ist kein Gnadenakt, sondern Integration ist eine demokratische Verpflichtung«. Ich hätte sagen sollen: »Integration ein Menschenrecht«, dann wäre ich total up to date. So würde man das heute formulieren, aber mir war klar, dass Integration keine Gnade ist und deshalb war das also auch eine nicht unwichtige Erkenntnis. Im Vorhof der Menschenrechtskonvention ist das schon so als demokratische Verpflichtung mitformuliert worden und wir sind in der Weiterverfolgung dieses Gedankens, dass Inklusion kein Gnadenakt ist, dann haben wir das sogenannte Elternwahlrecht problematisiert.

Als ich Integration gestartet habe, mit den Integrationsklassen, da war ich persönlich auch noch der Ansicht, man kann das nicht sicher wissen, wir sollten die Sonderschulpflicht aufheben und wir sollten Sonderschulen als Angebotsschulen verstehen. Da können die hingehen, die wollen, die können das machen, aber keiner muss das. Und von diesem Konzept der Angebotsschulen bin ich heute natürlich vollkommen runter, aber damals im Status wissenschaftlicher Unsicherheit war das anders. Ich wusste ja wirklich nicht, ob das gut geht, ich hatte ja keine Erfahrungen, das hätte auch fürchterlich in die Binsen gehen können. Im damaligen Status habe ich das für vernünftig gehalten, für Sonderschulen das Konzept der Angebotsschulen vorzuschlagen. Das war übrigens meine Antrittsvorlesung in Hamburg, das war meine Bewerbungsvorlesung. Als ich mich beworben habe, da habe ich vor Bleidick und Frau Rath gesagt, wir müssen Sonderschulen als Angebotsschulen konzipieren. Und diesen Standpunkt der Angebotsschulen habe ich in der ersten Integrationsphase auch noch beibehalten und erst viel viel später bin ich dann über integrative Regelklassen zu einem anderen Standpunkt gekommen.

Welche Arbeiten zu den theoretischen Grundlagen erachtest du für besonders wichtig?

Theorie der integrativen Prozesse

Ich habe das mal in aller Eitelkeit auf mich bezogen. An erster Stelle steht bei mir die Theorie dieser integrativen Prozesse, die habe ich ja schon erwähnt, dass die nicht von mir ist, die ist eindeutig von der Frankfurter Schule, denen ich bis auf den heutigen Tag großen Respekt entgegenbringe und an deren Propagierung ich durch die Dissertation von Andreas Hinz mitgewirkt habe und die ich in meinen späten Tagen, meinem hohen Alter jetzt noch einmal aufgewärmt habe, das ist nachlesbar in diesen Büchern.

Theorie der gemeinsamen Lernsituation

So, zweitens habe ich hier aufgeschrieben, die Theorie gemeinsamer Lernsituationen. Das kommt an späterer Stelle noch einmal, welches die wichtigsten Differenzen waren und so weiter. Es gab damals neben dieser Theorie der integrativen Prozesse ja nur noch eine einzige Theorie, das war die Theorie der Kooperation am gemeinsamen Gegenstand von Georg Feuser. Diese Theorie war heilig, war absolut heilig und es war ein Tabu sich dagegen auszusprechen. Ich war häufig in den Integrationsklassen und habe diese Theorien nirgendwo gefunden. Ich habe die nicht gefunden in der Praxis, und dann habe ich hervorragenden Unterricht bei LehrerInnen gesehen und habe die natürlich eines Tages gefragt, wenn wir reflektiert haben, wann haben denn die Kinder am gemeinsamen Gegenstand kooperiert. Ja und dann haben die LehrerInnen, die sind nahezu in Tränen ausgebrochen, die haben gesagt, es war doch ein schöner Tag, aber wenn ich richtig nachdenke am gemeinsamen Gegenstand kooperiert, nee. Das ist ein guter Unterricht, obwohl nicht oder wenig am gemeinsamen Gegenstand kooperiert wurde, das gab es. Und da habe ich mir ein Herz gefasst beziehungsweise habe ich darüber nachgedacht und habe gesagt, das kann es alleine nicht sein, das ist nicht falsch, aber das kann es alleine nicht sein. Und da habe ich eben mit diesem Aufsatz »Inklusion als gemeinsame Lernsituation«, so ungefähr heißt der, da habe ich zum ersten Mal eine alternative Theorie der inklusiven Didaktik begonnen. Das hat Stunk gegeben, das hat echt einen Stunk gegeben, weil die gesamte Integrationsforscherfamilie an diesem Dogma der Kooperation am gemeinsamen Gegenstand hing und nicht verstehen konnte, wie ich dagegen rebellieren konnte. Hat niemand verstanden, niemand. Ja und dann, muss ich es eigentlich nicht mehr erwähnen, die Dialektik von Gemeinsamkeit und Individualisierung, das habe ich schon mit angesprochen.

Förderbedarf als systemischer Begriff

Ja, viertens, das ist schon ein bedeutsamer Punkt. Förderbedarf als systemischer Begriff. Als das Projekt Hamburger Integrationsklassen beendet war, war ich der einzige Behördenexterne Wissenschaftler oder auch Person, die in eine Behördenkommission berufen wurde, die die Aufgabe hatte, ein Konzept für eine Fortsetzung dieses Projekts zu erarbeiten. Als Mangel des Projekts Integrationsklassen wurde erkannt, dass da körperbehinderte Kinder sind, da sind geistig behinderte Kinder drin, blinde Kinder, aber wer ist da nicht vertreten oder kaum vertreten? Lernbehinderte Kinder. Die Eltern von lernbehinderten Kindern waren schlicht und einfach nicht in den Elterninitiativen vertreten, die wussten ja manchmal gar nicht, dass sie ein lernbehindertes Kind hatten, warum sollten sie sich dafür interessieren und in eine Elterninitiative reingehen. Und ich war ja außerdem noch Vertreter der Lernbehindertenpädagogik und da habe ich der Behörde gesagt, hört mal zu, so kann das nicht angehen. 50% der Behinderten sind lernbehindert und die tauchen da gar nicht auf? Und da haben wir, genauer gesagt ich, das Konzept der integrativen Regelklassen entwickelt. Das Papier existiert bis auf den heutigen Tag. Es war eine absolute Sensation, dass ich gesagt habe, wenn wir lernbehinderte Kinder integrieren wollen, dann können wir das durch die Diagnose nicht herausfinden. Ich kann am ersten Schultag nicht wissen, ob jemand lernbehindert ist. Geht nicht, also muss ich die einfach so nehmen. Das war ganz einfach schlicht und einfach die Fantasie bei mir. Im Lebensalter von vier, fünf oder sechs Jahren weiß ich nicht, ob er/sie in Klasse 2 oder 3 mal lernbehindert wird. Lernbehinderungen werden gemeinhin ja erst Ende des zweiten Schuljahres, Anfang des dritten Schuljahres und so weiter entdeckt. Und da bin ich auf die Idee der Nichtetikettierung gekommen. Und das habe ich dann übertragen auf sprachbehinderte Kinder und auf verhaltensauffällige Kinder, bei denen man das auch nicht weiß, ob die aus der Rolle fallen und in der Schule Schwierigkeiten machen. Da habe ich dieses Konzept formuliert, das ist niedergelegt in dem Aufsatz Förderbedarf als systemischer Begriff. Förderbedarf war bis dahin immer ein personenbezogener Begriff, der Karl ist ein Mensch mit Förderbedarf und der wird ihm persönlich zugeschrieben. Und ich habe dann gesagt, man muss sich eine gesamte Lerngruppe anschauen, wenn es da zwei Kinder mit ein bisschen Förderbedarf gibt, dann wird das möglicherweise schon durch die anderen Kinder kompensiert. Eine gesamte Gruppe bringt in der Summe so viel Förderbedarf auf und deshalb ist Förderbedarf nicht nur die Eigenschaft eines Kindes, sondern auch die Eigenschaft einer bestimmten Lerngruppe. Aus diesen Gedankengängen ist dann der Hamburger Schulversuch integrative Regelklassen entstanden, das war der erste Schulversuch, ich kann es nicht ganz sicher sagen, auf europäischem Boden der das Prinzip der Nichtetikettierung und partiell Dekategorisierung realisierte. Eine Thematik, die bis auf den heutigen Tag virulent geblieben ist. In der Zeitschrift Sonderpädagogik, die damals von Heinz Neukäter und Herbert Götze herausgegeben wurde, da ist dieser Aufsatz »Förderbedarf als systemischer Begriff« erschienen und die haben damals eine ganze Horde von KollegInnen auf mich gehetzt. Auch ein paar Leute aus dem Osten, ich weiß gar nicht mehr wer alles über mich hergefallen ist. Die sind alle über mich hergefallen, die haben das nicht akzeptiert. Ich habe auf der Integrationsforschertagung bei meiner »Familie« dieses Konzept dann auch vorgestellt, zur Diskussion gestellt. Ja, ich habe gesagt, ich plädiere hier jetzt allen Ernstes für die Abschaffung der Begriffe Lernbehinderung, Verhaltensstörung und Sprachbehinderung. Weg damit, wir nehmen diese Kinder, fertig. So, und da sagt jemand, nein, ich will die Kinder zählen. Das war wörtlich sein Ausdruck. Er ist heute ein feuriger Vertreter dieses systemischen Ansatzes und dieser systemische Ansatz, der hat absolut Karriere gemacht. Der hat Karriere gemacht, insbesondere dann durch Ulf Preuss-Lausitz. Der hat ja Gutachten geschrieben für Bremen, Gutachten geschrieben für Nordrhein-Westfalen, Gutachten geschrieben für Sachsen und ich weiß nicht für wen noch. In all seinen Gutachten taucht dieser systemische Ansatz wieder auf. Der systemische Ansatz ist mittlerweile, glaube ich, in der Inklusionsdiskussion vollkommen unstrittig und wird von vielen vielen Ländern verfolgt. Was ich ein bisschen bedaure, das muss ich in aller Eitelkeit sagen, es wird fast nie erwähnt, dass die Hamburger integrativen Regelklassen oder meine Person der Erfinder dieses Ansatzes war, das kannst du nirgendwo lesen. Selbst mein verehrter Doktorsohn Andreas Hinz vergisst in manchen Publikationen darauf hinzuweisen, Hamburg war das erste Modell, was diesen systemischen Ansatz hervorgebracht hat. Also, das ist so im Nachhinein, wenn ich mein wissenschaftliches Leben bilanzieren will, das ist eine der erfolgsträchtigsten Ideen gewesen, die ich jemals gehabt habe, mit Abstand, eine der erfolgsträchtigsten Ideen und deshalb gehört das also auch zu meinen theoretischen Grundlagen.

So, was habe ich noch. Ja, ich habe eine Menge zu dem Thema Kooperation von PädagogInnen gearbeitet, habe ich schon erwähnt. Da gibt es eine erste umfängliche Publikation dazu, dies hat später Urs Haeberlin aufgegriffen, hat dazu auch eine empirische Untersuchung auf der Basis meines theoretischen Modells gemacht. Das gehört zu einem theoretischen Standbein.

Politische Arbeiten

Und schließlich sechstens noch zu einem weiteren theoretischen Standbein, ich war in der gesamten Geschichte eben ein ziemlich politischer Mensch, ich habe mich mit zahllosen Leuten gestritten, zunächst mal mit Georg Feuser habe ich mich gestritten und in späterer Zeit und gerade heute schreibe ich immer mal wieder was politisches. Bekannt sein wird dir, dass ich gegen Ahrbeck zu Felde ziehe. Bekannt wird dir sein, dass ich mich mit Speck anlege und auseinandersetze. Dass ich gegenwärtig Bayern kritisiere, kann dir nicht bekannt sein, weil du so weit weg vom Schuss bist, die Bayerische Regierung nehme ich mir regelmäßig zur Brust. Ich habe jetzt ein Buch publiziert: Bayern integriert Inklusion. Deshalb bin ich in Bayern auch herzlich gehasst, ich werde gemobbt und gemieden, wo es nur irgendwo geht. Also ich habe mich in meinem Leben tüchtig angelegt, tüchtig angelegt mit vielen Leuten, es gibt eine ganze Reihe von politischen Arbeiten, das gehört absolut dazu. So, dass sind theoretische Grundlagen. Es tut mir leid, wenn ich andere Kollegen da nicht erwähnt habe, ich habe die Frage einfach nicht so verstehen können und wollen, was gibt es sonst noch an guten theoretischen Grundlagen, dass ich die Arbeit der Frankfurter Schule sehr würdige, habe ich mehrfach betont. Aber das sind sozusagen meine Beiträge zu Entwicklung einer Inklusion.

Empirische Forschung, was ist da besonders wichtig?

Output-
Untersuchungen

Anfangs waren die Output-Untersuchungen die wichtigsten. Nachzuweisen, das funktioniert, insbesondere nachzuweisen die allseits große Befürchtung die lernen nichts mehr. Die Nichtbehinderten lernen nichts mehr und die Behinderten, die werden nicht besonders gefördert. Also am Anfang war es wahnsinnig wichtig, zu demonstrieren, dass die armen nichtbehinderten Kinder nicht darunter leiden. Aus diesem Grund ist meine Untersuchung »Integration und Leistung« eine der ersten wichtigen Untersuchungen gewesen, weil ich dort erstmals belegt habe, die nichtbehinderten Kinder gehen nicht unter. Ein allgegenwärtiges Aufatmen. So, dann war das schon mal klar. Später kamen dann von mir keine Untersuchungen mehr dazu, dass also auch die behinderten Kinder sehr gut gefördert werden. Hier kommen besondere Verdienste etwa Urs Haeberlin zu, mit den Untersuchungen zu den Lernbehinderten. Also am Anfang ging es darum, ob es etwas bringt.

Heute würde ich sagen, sind diese Output-Untersuchungen nicht mehr wahnsinnig interessant. Es gibt ja immer mal wieder neue Untersuchungen, jetzt in der Kölner Zeitschrift für Soziologie, die Untersuchung aus Bielefeld und ich weiß nicht wo noch, dass die behinderten Kinder mit Integration oder Inklusion gut lernen. Okay, dass es noch einmal bestätigt wird, aber es ist langweilig, es ist ziemlich langweilig, weil ich davon ausgehe, da kann ruhig mal eine Untersuchung das nicht bestätigen, wenn der Lehmann das nicht bestätigt oder wer anders, es ist mir ziemlich wurscht. Ich bin sehr sicher und sehr überzeugt davon, dass in intellektueller Hinsicht Inklusion immer die bessere Alternative für nichtbehinderte Kinder ist.

Empirische Forschung: Prozessuntersuchungen

Das Problem ist nicht das kognitive Lernen, das Problem ist vielmehr die soziale Eingebundenheit, da müssen wir wahnsinnig aufpassen. Behinderte werden ganz schnell zu Außenseitern, spätestens wenn das Grundschulalter vorbei ist. Wenn das Leben anfängt, dann sind Behinderte nicht mehr die interessanten Partner für Mädchen oder für Jungen und dann lässt man die behinderten Kinder, die noch im ersten Schuljahr wie kleine Püppchen behandelt wurden und umzärtelt wurden, bemuttert wurden, die lässt man dann wie eine heiße Kartoffel fallen und kümmert sich nicht mehr darum. Heute würde ich sagen, sind Prozessuntersuchungen angesagt, nicht mehr Output-Untersuchungen, was kommt da rum, sondern wie läuft das ab, welche kommunikativen, sozialen und interaktiven Prozesse spielen sich in solchen heterogenen Lerngruppen ab? Wie gehen die miteinander um? Und das sind sehr aufwändige und schwierige Untersuchungen, das erfordert nämlich ein Dabeisein, das ist nicht mehr mit einem Fragebogen getan, sondern da muss man Mikroaufnahmen machen, man muss es sehen oder man muss das filmisch dokumentieren und dann im Nachhinein untersuchen. Und da wird bis auf den heutigen Tag viel zu wenig gemacht. Einer der Ersten, der das gemacht hat, das war ein Herr Sucharowski, glaube ich. Ein Kommunikationswissenschaftler, der hat das mit Filmdokumenten gemacht, der hat das gemacht und dann hat er sich irgendwohin beworben und dann ist dieser Ansatz eigentlich ein gutes Stückchen liegengeblieben. Dann hat das noch die Gruppe um Helmut Reiser gemacht, die sind in die Kindergärten gegangen und von denen gibt es zauberhafte Beobachtungen und Geschichten, was sich im Kindergarten da an interaktiven Prozessen abgespielt und was sich in Grundschulen abgespielt hat. Auch das ist ein Grund dafür, diesen Frankfurter Ansatz sehr zu würdigen. Heute erfährt man über die Prozesse innerhalb von Inklusion wenig, ziemlich wenig.

So, was waren aus deiner Sicht die interessantesten Streitpunkte?

Positionen zur inklusiven Didaktik

Der interessanteste Streitpunkt zunächst, war die inklusive Didaktik. Das muss ich nicht mehr schildern, es gab also diese heftige Auseinandersetzung zwischen Georg Feuser und mir, die absolut kollegial und fair ausgetragen wurde, wir geben uns bis auf den heutigen Tage die Hand. Es war lediglich der Aufbau von zwei kontroversen Positionen, die aber nicht miteinander geredet haben. Der Georg hat nicht mit mir darüber gestritten, das hat er nie gemacht. Er hat nie versucht mich zu widerlegen oder so etwas, sondern das gab es einfach so. Ich denke aber, dass diese Kontroverse fruchtbar war, dass sie absolut fruchtbar war für den Fortgang der theoretischen Inklusionsentwicklung.

Die Systemfrage

So, zweitens würde ich sagen, zu den interessantesten Punkten gehörte später die Systemfrage. Integration hat die Systemfrage nie gestellt. Wir waren froh, wenn wir ein Klässchen hatten, wenn wir das zugesprochen bekamen, dann haben wir das System in Ruhe gelassen. Keiner von uns hat die Abschaffung des gegliederten Schulwesens gefordert, keiner. Und erst heute mit Beginn der Inklusion wird diese Systemfrage wieder gestellt. Etwa sehr markant von der Brigitte Schumann, die kein Blatt vor den Mund nimmt und sagt, wir brauchen hier ein gesamtschulartiges System, ansonsten lässt sich Inklusion nicht machen. Ich tue es mittlerweile auch und es wäre um die Inklusion geschehen, wenn Inklusion wieder auf Integration zurückfallen würde und diese Systemfrage nicht artikulieren würde. Ob es um Noten geht, ob es um das Sitzenbleiben geht, ob es um das Etikettieren geht, das alles rührt schließlich an dem System und manches können wir überhaupt nicht lösen, wenn wir nicht an dem System mitdrehen. Wir werden wahrscheinlich nie eine glatte Lösung bekommen, aber Inklusion hat die Systemfrage gestellt und muss sie stellen, ansonsten bringt sie sich selbst um ihre Identität, ohne eine Artikulation der Systemfrage geht es nicht und hier wird es noch mächtige Streitereien geben. Auch hierzu habe ich eine ganze Reihe von Aufsätzen verfasst »Reform oder Deform«, da wird wieder die Bayerische Inklusion analysiert und andere Aufsätze mehr.

Die Professionsfrage

Und schließlich drittens zu den interessantesten Streitpunkten betrachte ich aus heutiger Sicht die Professionsfrage. Diese haben wir am Anfang auch fast nie gestellt. Für Hamburg war klar, wenn wir Integration machen, müssen die SonderpädagogInnen dabei sein. So, die Eltern, die Hamburger Eltern haben sich aber an der Berliner Fläming-Schule orientiert und da waren ErzieherInnen mit im Geschäft, keine SonderpädagogInnen. Im Fläming-Modell gab es keine SonderpädagogInnen, offiziell zunächst nicht und da haben die Hamburger Eltern vom Senat gefordert, wir wollen auch ErzieherInnen. Da hat der Grolle gesagt, ja, und dann hat die Sonderschulbehörde gesagt, das könnt ihr nicht machen ohne SonderpädagogInnen. Und so ist es in Hamburg zu der merkwürdigen Konstruktion gekommen, dass wir ein Drei-Profession-Team hatten mit RegelschulpädagogInnen, SonderpädagogInnen und ErzieherInnen, was dann auch die bekannten Kooperationsprobleme verstärkt hat, nicht verringert, verstärkt ja. Und heute stellt sich diese Professionsfrage im verstärkten Maße, weil ja eins der zentralen Diskussionspunkte der öffentlichen Diskussion um Inklusion die Ressourcenfrage ist. Es gibt keine Veranstaltung, wo nicht gesagt wird, die Ressourcen müssen stimmen, die Rahmenbedingungen müssen stimmen und damit ist immer gemeint, es muss mehr Personal her. Ein vollwertiges Zweipädagogensystem wird ja nur noch von einzelnen Elementen in der GEW gefordert, ansonsten begnügt man sich ja mittlerweile schon fast damit, dass mindestens zu 50% oder wie auch immer eine zweite Person anwesend sein soll, aber wer ist das bitte, wer. Ist es ein/e Sonderpädagoge/in, ist es eine Mutter, ist es ein Bufdi, ist es ein/e IntegrationshelferIn oder ist es ein/e RegelschullehrerIn, wer bitte? Diese zweite Person, die ist professionell bis auf den heutigen Tag nicht ausgestattet. Ich persönlich bin jetzt der Auffassung, dass es nicht ein/e Sonderpädagoge/in sein muss, absolut nicht, sondern wir brauchen eine pädagogisch qualifizierte Person, die im Niveau und in der beruflichen Abstufung zwischen einem/r IntegrationshelferIn und einem/r Sonderpädagogen/in liegt, da irgendwo so auf dem Mittelniveau, wie es ungefähr die Italiener haben. In Südtirol und in Italien haben wir ein komplettes Zweipädagogensystem. Jede Stunde ist in Südtirol doppelt besetzt, aber nicht mit einem/r Sonderpädagogen/in, auch nicht mit einem/r LehrerIn, sondern mit einem/r Schulassistenten/in. Man kann diesen Begriff nehmen, man kann auch andere Begriffe nehmen, etwa wenn man nach Kanada schaut. Wie heißen die dort? Assistant Teacher. Ein Assistant Teacher ist kein/e LehrerIn, obwohl er so heißt, sondern der befindet sich so irgendwie dazwischen und diese Professionsfrage ist nicht gelöst. Wir werden, wenn nicht Wunder geschehen, kein volles Zweipädagogensystem bestehend aus RegelschullehrerIn und Sonderpädagoge/in bekommen. Das können wir uns abschminken. Der/die Sonderpädagoge/in, nicht weil er schlecht wäre, wir können ihn nicht bezahlen, wir können ihn nicht bezahlen und ich denke zwei PädagogInnen überhaupt ist wichtiger als wenn wir eine partielle stundenweise Doppelbesetzung mit einem/r Sonderpädagogen/in haben. Absolut wichtiger. Und deshalb plädiere ich nicht für einen Rauswurf der SonderpädagogInnen, das ist nicht mein Anliegen, sondern ich plädiere dafür, dass wir auf einem mittleren Qualifikationsniveau möglichst zeitlich umfänglich eine/n zweiten Pädagogin/en in den inklusiven Klassen dabei haben. Und das dann der/die Sonderpädagoge/in wirklich ein Mensch ist für die besonderen Fälle, wo keiner mehr weiter weiß. In Form eher von externen Beratungszentren oder wie auch immer. Also an dieser Professionsfrage muss noch gearbeitet werden. Diese Professionsfrage, ich sehe keinen Einzigen in Deutschland und sonst wo, der diese Professionsfrage befriedigend geklärt hätte, sodass alle das übernehmen würden. Es ist ein offenes Problem. Ein ganz ganz großes Problem.

Welche Bezüge zu den anderen Teildisziplinen der Pädagogik (aber auch Gender/Disability Studies) siehst du?

Bezüge zur Erziehungswissenschaft

Bezüge zu anderen Teildisziplinen der Pädagogik haben mich in meiner Biografie nicht besonders beschäftigt, deshalb auch nur eine sparsame Antwort. Die wichtigste Teildisziplin, zu der die Integrationspädagogik schließlich dann doch ein bisschen Kontakt aufgenommen hat, in zunehmendem Maße mehr, ist die Erziehungswissenschaft. Die Integrationspädagogik lief nebenher oder war eher ein gutes Stück ein Kind der Sonderpädagogik. Die meisten IntegrationsforscherInnen von damals kamen aus dem Revier der Sonderpädagogik und die Erziehungswissenschaft, die hat sich einen Scheißdreck darum gekümmert. Einen Scheißdreck und heute wird die Erziehungswissenschaft auch durch das Stichwort Inklusion, nicht durch das Stichwort Integration, durch das Stichwort Inklusion wird die Erziehungswissenschaft darauf aufmerksam. Inklusion hat gleichsam die Erziehungswissenschaft wachgeküsst. Das waren solche Stichwörter wie Diversity.

Disability Studies

Disability Studies, da gab es nur partielle Berührungspunkte. Ich hatte in Hamburg Kontakt mit Disability Studies, wir haben ja ZeDiS als Institution an der Hamburger Universität, aber aus persönlichen Gründen habe ich mich mit denen total überworfen und auch mal einen Brandartikel gegen die geschrieben. Ich fand die Disability Studies absolut anregend, ich habe mich lange Zeit damit beschäftigt, aber im Grunde genommen, sind die Impulse, die von Disability Studies für Inklusion ausgingen, bescheiden. Sie gehen eher in die Richtung einer allgemeinen Betrachtung, einer allgemeinen Inklusionspädagogik. Die Disability Studies haben sich außerdem auch für Schule fast nicht interessiert, das hat die gar nicht interessiert.

Inklusion als Thema der Erziehungswissenschaft

Deshalb sehe ich die ersten interdisziplinären Kontakte in Richtung Erziehungswissenschaft und das sind auch die wichtigsten und die notwendigsten Kontakte. Wenn Kersten Reich heute ein Buch über inklusive Didaktik schreibt, dann kann man sagen, Inklusion ist so allmählich in der allgemeinen Erziehungswissenschaft angekommen. Es sind ja auch im zunehmenden Maße Leute in der inklusiven Wissenschaft tätig, die keinen Stallgeruch mehr haben wie wir, die zur Integrationsforschertagung nicht erscheinen. Diversity, Heterogenität, das ist das große Stichwort jetzt für die Erziehungswissenschaft, die über diese Schiene, nicht über die Integrationsschiene, sondern über die Schiene Heterogenität, Diversity, Differenz zur Inklusion gestoßen sind und ich denke, das muss man nicht bedauern, das ist absolut der richtige Weg. Inklusion muss den Weg in die Erziehungswissenschaft gehen und die Erziehungswissenschaft muss den Weg zur Inklusion gehen. Inklusion kann nicht eine neue Form von Sonderpädagogik bleiben, das wäre eine Katastrophe, ja.

Und wie ist das mit den anderen Heterogenitätsdimensionen, also zum Beispiel Fragen von Migration?

Parallelität der Heterogenitäts­dimensionen

Diese haben längst noch nicht alle zueinander gefunden, längst noch nicht. Na es gab großartige Arbeiten. Die anderen Dimensionen werden im Wesentlichen also Migration und im Wesentlichen Gender, sowohl bei Annedore Prengel artikuliert als auch bei Andreas Hinz als auch bei Ulf Preuss-Lausitz. Das war also innerhalb der Integrationsforschergemeinde durchaus mit im Blick, dass es multiple Heterogenitäten gibt. Aber diese Disziplinen, die durch Gogolin vertreten werden oder durch FrauenforscherInnen oder was auch immer, die hatten noch längst nicht alle zur Inklusion gefunden, noch längst nicht alle. Dass das ein gemeinsames Dach sein könnte, sehe ich nicht, man muss einfach mal schauen, dass sie je für sich ihre eigenen Tagungen haben und ihre eigenen Diskurskreise und Diskurskanäle. Die Multikulti machen eigene Kongresse und eigene Bücher und Publikationen, die Gender machen eigene Publikationen, das läuft doch ein gutes Stückchen nebenher, absolut nebenher. Das sehe ich noch nicht, dass das zusammen kommen könnte. Es gibt erste Professuren, die so etwas im Titel haben wie Didaktik der Heterogenität oder Pädagogik der Heterogenität. Es gibt wenige, die das vertreten können. Ich könnte es nicht. Ich bin nicht in diesen drei Feldern zu Hause, wer das damals konnte, das war Andreas Hinz, der war in drei Feldern belesen. Ich weiß nicht, wer noch eine solche Professur hat. Ich kenne auch kaum einen Menschen, der in diesen drei Satteln zu Hause ist. Also da ist noch eine Menge zu machen. So, neben der Erziehungswissenschaft mit diesen drei Säulen, die noch ein bisschen parallel verlaufen, würde ich dann bei diesem Punkt noch die internationale Perspektive entwickeln und die läuft natürlich über Salamanca und über die Behindertenrechtskommission, absolut, die Menschenrechtsperspektive. Die Menschenrechtsperspektive ist vielleicht der entscheidende Impetus und der entscheidende Impuls, dass diese drei sich zusammenfinden. Die Behindertenrechtskonvention selbst lenkt ja unglücklicherweise den Inklusionsbegriff nur auf die Behinderten, das ist ja nahezu tragisch. Was sie gar nicht will. Aber ich denke, wenn man die Behindertenrechtskonversion richtig auffasst, dann lässt sich ein gutes Stückchen Verbrüderung dieser drei Disziplinen durchaus noch mal mit Unterstützung der Behindertenrechtskonversion hinbekommen. Glaube ich schon dran.

Notwendigkeit
des Aufbaus
eines inklusiven
Bildungswesens

Zukünftige Aufgaben. Die zentrale zukünftige Aufgabe ist Unterrichts- und Schulentwicklung. Die wichtigste Herausforderung der Integration war es, die Kinder in die Schulen reinzuboxen. Die wichtigste Aufgabe der Inklusion ist es, die hereingeboxten Kinder nun auch dort zu behalten und dort gut zu fördern. Und deshalb ist Unterrichts- und Schulentwicklung die Aufgabe überhaupt. Nicht mehr abstrakte abständige Forschung, sondern mitmachen. Das ganze Land ist in Bewegung, das muss man sich einmal vorstellen. Eigentlich bräuchten wir in der Inklusionsforschung massenhaft Leute, die in der Lage sind, Schulen, die sich auf den Weg machen, wie man immer so schön sagt, dabei zu begleiten und zu unterstützen. Wir haben viel zu wenige Leute deiner Generation, die das könnten. Denn in der Entwicklung der Integrationsforschung war es ja so, wir hatten eine relativ prominente Garde von Ulf Preuss-Lausitz, Jutta Schöler, Alfred Sander und Helmut Reiser, so wir hatten aber fast keinen Mittelbau. Diejenigen, die wir damals als Mittelbau angesehen haben, die kann ich an einer Hand aufzählen. Es waren Andreas Hinz und Ines Boban und Kerstin Merz-Atalik und dann ist ziemlich Schluss. Wir hatten keinen Mittelbau und jetzt mit einem Mal hätte eigentlich ein massenhafter Mittelbau von damals, der hätte diese Aufgabe wuppen können, eine Schul- und Unterrichtsentwicklung und sie sind nicht da. Und jetzt machen alle, die mal ein Buch über Inklusion gelesen haben, die machen jetzt alle urplötzlich Schulbegleitung. Und da darf man auch ein bisschen skeptisch sein, ob da ein hinreichender Fundus an Erfahrung und Kompetenzen hinter steht. Also, die zentrale Aufgabe ist es, den Aufbau eines inklusiven Bildungswesens und eines inklusiven Unterrichts und so weiter auch so hinzubekommen, dass er überzeugen kann und dass dieses große Projekt, Aufbau eines inklusiven Bildungswesens, wirklich gelingt. Denn wenn das den Bach runter geht, wenn allzu viele Leichen produziert werden, dann werden die irgendwann mal sagen, die PolitikerInnen und die Eltern, nee, das haben wir uns anders vorgestellt. Wir sind zum Erfolg verdammt und verpflichtet. Und das werden die Schulen nicht aus eigener Kraft können, da brauchen sie kompetente Unterstützung und da würde ich mir viel viel mehr auch aus den Reihen der InklusionsforscherInnen wünschen, die das mitmachen. Ob das mit der Inklusion geschieht oder womit, das ist mir eigentlich egal.

Rückbau des gegliederten Schulwesens

So, dann steht neben dieser wichtigen Aufgabe der Unterrichts- und Schulentwicklung der Rückbau des gegliederten Schulwesens an. Das ist für mich klar. Also wir können nicht einfach sagen, wie die Bayern das machen, wir machen überall eine kleine inklusive Zelle, in Sonderschulen machen wir Inklusion, in Grundschulen machen wir Inklusion, in Hauptschulen machen wir Inklusion, in Realschulen machen wir Inklusion und im Gymnasium auch. Das ist Inklusion als Implantat. Da bauen wir etwas ein, aber alles bleibt beim Alten. Nein, wir haben das eben hier schon betont, Inklusion stellt die Systemfrage und wir müssen an dem sukzessiven, an dem progressiven Rückbau dieses gegliederten Systems arbeiten. Das ist eine Jahrhundertaufgabe, das wird nicht in den nächsten fünf Jahren passieren und auch vielleicht nicht innerhalb einer einzigen Generation, weil das deutsche gegliederte Schulsystem besonders renitent und besonders hartnäckig ist, das ist zum Zähne ausbeißen, aber als Aufgabe muss das anerkannt werden und so muss es bleiben.

Professionsforschung

Zukünftige Aufgaben für die Forschung wiederhole ich einfach noch einmal was ich vorher schon gesagt habe, die Professionsaufgabe. Wer ist die zweite Person? Es gibt einen Film Der dritte Mann, wie muss der Film heißen? Der zweite Mann, die zweite Frau. Wer ist das? Was kann der? Was muss der können? Welche Gehaltsstufe und dergleichen mehr. Die zweite Person. Kein einziges Buch, ich kenne kein einziges Buch, das sich mit dieser Frage beschäftigt, null.

Publikationen

So, meine wichtigsten Buchpublikationen, ich nenne da einfach meine Post­emerituspublikationen »Die Häuser der inklusiven Schule«. Es sind jetzt drei, Weihnachten 2015 werden es vier. Das nächste ist in Arbeit, da sind Arbeiten drin, einmal aus meiner Vergangenheit, die habe ich einfach nochmal wiederpubliziert und neuere Arbeiten, die durchaus eine Fortentwicklung sind. Ich habe jetzt einfach nach meiner Emeritierung in mancher Hinsicht Zeit gefunden, meine wissenschaftlichen Lebenserfahrungen aufzuschreiben. Man darf wissen, ich hatte als Professor für Lernbehindertenpädagogik in Hamburg die größte Fachrichtung zu betreuen. Ich hatte 250 Studenten, das war schon Arbeit. Bei mir lagen jedes Semester 30 Examensarbeiten und 50 Klausuren auf dem Tisch. Ich war verdammt noch mal ausgelastet. Und deshalb war es neben meinen sonstigen Kontakten und Begleitforschungsarbeiten, mit dem Schreiben bei mir nicht so heftig. Deshalb bin ich erst nach der Emeritierung dazu gekommen, manches aufzuschreiben und ich habe durchaus auch Dinge neu entwickelt, die ich damals noch nicht gedacht habe. Das sind also Buchveröffentlichungen zu denen ich stehe.

Welche internationalen ForscherInnen waren für dich am bedeutsamsten?

Internationale ForscherInnen sind nicht mein Steckenpferd, da ist der Andreas Hinz erheblich besser, der besucht internationale Tagungen, ich nicht. Aber es gibt internationale Menschen, die mich sehr beeindruckt und beeinflusst haben und da nenne ich aus der ersten Stunde Milani Comparetti und Ludwig-Otto Roser. Die habe ich auf meiner ersten Studienfahrt nach Florenz selbst noch kennengelernt und die haben mich schwer beeindruckt, wenngleich die gar nicht mal so viel was geschrieben haben. Aber der Elan, das Feuer, was der Comparetti ausgestrahlt hat, das war einfach großartig und die intellektuelle Brillanz, die auch Ludwig-Otto Roser hatte, das hat mich nachhaltig beeindruckt. Das waren für mich die wichtigsten Menschen auf der internationalen Bühne.

Wer sollte noch befragt werden?

Jakob Muth

So, und dann nenne ich noch einen Menschen, der total im Ruhestand ist, Jakob Muth. Der Vater der Integration, wir haben ihn häufig in Integrationsforscherkreisen so genannt, der Vater, den man nicht mehr interviewen kann. Sehr bedeutend, ich fand ihn sehr bedeutend. Ein Mensch, der wirklich pädagogisch gedacht hat. Es ist eine andere Art von Erziehungswissenschaft, die er betrieben hat, die gute alte hermeneutische Erziehungswissenschaft, aber das waren tiefgründige Gedanken. Sein Buch Über die Gemeinsamkeit im Bildungswesen das lese ich bis zum heutigen Tage gern, absolut inspirierend, total inspirierend und Jakob Muth war ja auch derjenige, der Deutschen Bildungskommission zur Gemeinsamkeit von Behinderten und Nichtbehinderten, ich bekomme den Titel nicht mehr drauf, der Tag ist lang ja. Der das mit auf den Weg gebracht hat und als ein Allgemeinpädagoge und diese Resolution der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates gegen die Sonderpädagogik in die Diskussion gebracht hat. Speck war nicht auf der Seite von Jakob Muth und Anton Reinartz und andere Menschen waren auch nicht auf seiner Seite. Ein Allgemeinpädagoge hat das wirklich maßgeblich in Deutschland in die Diskussion eingebracht und deshalb verdient Jakob Muth in der Tat so etwas wie den Titel »Vater der Integration«. Ich war über alle Maßen glücklich und beglückwünsche Jutta Schöler dazu, dass sie maßgeblich dazu beigetragen hat, dass es einen Jakob-Muth-Preis gibt. Da findet das Ganze seine Position, da findet das seinen Ausdruck drin und ich glaube es gibt niemanden, der diesem Preis seinen Namen besser verleihen könnte als Jakob Muth, dass ist er, absolut er. Schade, dass wir ihn heute nicht mehr haben und schade, dass man den nicht mehr interviewen kann.