Hans Wocken: Auf dem Wege zu einer Grundschule für alle

Der Text dokumentiert in unveränderter und ungekürzter Form das Konzept, das der Verfasser der Referentenkommission der Behörde für Schule in Hamburg als bildungspolitische Empfehlung vorgelegt hat. Es ist gleichsam das Gründungsdokument der Integrativen Regelklassen.

 

A) Leitideen

1. Die Grundschule ist eine allgemeinbildende Schule. Sie vermittelt eine grundlegende, allgemeine, ganzheitliche Bildung.

2. Die Grundschule ist eine demokratische Schule. Sie ist eine Schule für alle Kinder. Sie nimmt grundsätzlich alle Kinder ohne Ansehung ihrer Person auf. Die Verschiedenheit der Kinder ist nicht Anlass für Trennungen und Ausgrenzungen. Als Schule der Demokratie will sie gleichermaßen der Verschiedenheit der Einzelnen gerecht werden als auch die Gemeinsamkeit der Verschiedenen fördern.

3. Die Grundschule ist eine Nachbarschaftsschule. Sie belässt alle Kinder in ihren nähesten Verhältnissen. Alle pädagogischen Hilfen werden unmittelbar vor Ort angeboten.

 

B) Prinzipien

Grundlegende Bedingungen einer gemeinsamen Förderung aller Kinder sind

1. Das Prinzip des zieldifferenten Lernens; Dieses Prinzip schließt normorientierte Bewertungen (Zensuren) aus.

2. Das Stammgruppenprinzip; Grundschulklassen werden als konstante Lerngruppen geführt. Nichtversetzungen und Sitzenbleiben sind grundsätzlich ausgeschlossen.

 

C) Strukturen

Die gemeinsame Erziehung aller Kinder wird in zwei Organisationsformen der Grundschule verwirklicht.

1. Regelklassen

Die sonderpädagogische Förderung von Kindern mit Lern-, Sprach- und Verhaltensstörungen (»FörderschülerInnen«) ist Aufgabe der Grundschule. Von der Verantwortlichkeit für die pädagogische Förderung der »FörderschülerInnen« kann – etwa mit Berufung auf den Grundsatz der Freiwilligkeit – keine Klasse und keine Schule entbunden werden.

Der Anteil der SchülerInnen mit zusätzlichen Förderbedarfen in den Bereichen des Lernens, der Sprache und des Verhaltens wird auf 10% geschätzt.

Die integrative Unterrichtung der »FörderschülerInnen« wird durch folgende Maßnahmen ermöglicht:

a. Generelle Senkung der Klassenfrequenz

FörderschülerInnen werden doppelt gezählt. Dies bedeutet eine Senkung der Orientierungsfrequenz von 26 auf 24.

b. Zusätzliche pädagogische Ressourcen

Die Zuweisung zusätzlicher pädagogischer Ressourcen erfolgt nicht schülerbezogen, sondern klassen- und schulbezogen (10-Prozent-Regel). Mit diesem Zuweisungsmodus soll eine Etikettierung der FörderschülerInnen als »behindert« vermieden werden.

Die pädagogische Unterstützung der FörderschülerInnen wird von SonderpädagogInnen der Fachrichtungen Lb, Vh und Spr und von GrundschullehrerInnen mit zusätzlichen Kompetenzen wahrgenommen.

Bei Anwendung der 10-Prozent-Regel ist für jeden Zug der Grundschule eine Planstelle »FörderlehrerIn« vorzusehen. Ein/e FörderlehrerIn ist für die sonderpädagogische Unterstützung von etwa 10 FörderschülerInnen zuständig.

c. Zusätzliche räumliche Ressourcen

Für die sonderpädagogische Unterstützung der FörderschülerInnen sind eigene Räume einzurichten.

2. Integrationsklassen

Integrationsklassen sind Lerngruppen an der Grundschule, in denen – zusätzlich zu dem Anteil an FörderschülerInnen – auch Kinder mit Behinderungen aufgenommen werden. Als behindert gelten Kinder, die nach geltender Regelung Sonderschulen für Geistigbehinderte, Körperbehinderte, Sehbehinderte und Blinde, Schwerhörige und Gehörlose besuchen.

Mittelfristige Zielsetzung ist, mindestens in jedem Schulbezirk eine Grundschule mit Integrationsklassen einzurichten. Bei vorhandener Nachfrage sind zusätzliche Integrationsstandorte einzurichten.

Integrationsklassen haben für die teilnehmenden Eltern Angebotscharakter; für die Eltern gilt das Prinzip der Freiwilligkeit.

Die Unterrichtung behinderter Kinder in Integrationsklassen wird – über die genannten Prinzipien hinaus – durch folgende Maßnahmen ermöglicht:

a. Senkung der Klassenfrequenz

Behinderte SchülerInnen werden dreifach gezählt. Bei einer Orientierungsfrequenz von 24 SchülerInnenn bedeutet dies:

1 SchülerIn mit Behinderungen + 2 FörderschülerInnen + 17 Grundschüler = 24

2 SchülerInnen mit Behinderungen + 2 FörderschülerInnen + 14 Grundschüler = 24

(3 SchülerInnen mit Behinderungen + 2 FörderschülerInnen + 11 GrundschülerInnen = 24)

b. Zusätzliche pädagogische Ressourcen

In Integrationsklassen ist zusätzlich ein/e ErzieherIn mit einer 3/4-Stelle tätig. Integrationsklassen werden durch ein Zwei-Pädagogen-Team geführt.

c. Sonderpädagogische Unterstützung und Beratung

Dem speziellen Förderbedarf von Kindern mit Behinderungen wird durch die Zuweisung von speziellen Förderressourcen im Umfang von 2,5 SoLWstd. entsprochen. Bei der Zuweisung spezieller Förderressourcen ist das Prinzip der Passung von Förderbedarf und Förderkompetenz maßgeblich. Die sonderpädagogischen Förderressourcen werden schulübergreifend in regionalen »Beratungszentren für Integration« vorgehalten.

 

D) Folgen für das Sonderschulwesen

Die Sonderschulen für Blinde und Sehbehinderte, für Schwerhörige und Gehörlose, und die Einrichtungen der schulischen Erziehungshilfe bleiben unbeschadet eines möglichen Schülerrückgangs als Institution und als Standorte erhalten.

Die Sonderschulen für Geistigbehinderte und Körperbehinderte bleiben als spezielle Institutionen erhalten. Nach Maßgabe der Schülerzahlen ist gegebenenfalls eine Konzentration der Standorte in Rechnung zu stellen.

Die Grundstufe der Förderschule wird aufgelöst.

 

E) Stufenplan

Der angestrebte Wandel der Grund- und Sonderschulen sollte schrittweise erfolgen und erfordert einen mittelfristigen Stufenplan.

Folgende Stufen von jeweils 5-jähriger Dauer sind denkbar:

1. Schrittweise Auflösung der Grundstufe der Förderschule und gleichzeitig schrittweiser Aufbau des sonderpädagogischen Fördersystems an Grundschulen (sog. Prävention).

2. Schrittweise Umwandlung des Sprachheilwesens von einem stationären zu einem ambulanten System.

 

Die Einrichtung von Integrationsstandorten und der Aufbau regionaler Beratungszentren erfolgt parallel und in bisheriger Weise auf Antrag von Eltern- und Schulinitiativen hin.