Interview mit Georg Feuser

Wie kamen Sie denn selber zur integrativen Pädagogik?

Rechte, Anerkennung, Partizipation unabhängig von Art und Schweregrad einer Beeinträchtigung

Wie kam ich zur integrativen Pädagogik? Eigentlich würde ich sagen, ich bin nicht dazu gekommen, sondern, das hat mit meiner bis weit in die Kindheit zurückreichenden Entwicklungs- und Sozialisationsgeschichte mit allen ihren Kontextfaktoren zu tun. Ich bin von einer Grundposition ausgegangen, die es als selbstverständlich erscheinen lässt, dass Menschen gleich welcher Art und Schweregrade einer Beeinträchtigung mit gleichen Rechten, mit gleicher Anerkennung, wie wir das für uns in Anspruch nehmen können, an unserer Gesellschaft und Kultur partizipieren. Insofern war für mich, was mit integrativer (oder heute inklusiver) Pädagogik bezeichnet wird, von Anfang an ein Anliegen, mit dem ich schon in mein erstes Studium gegangen bin. Das hat sich aus sehr frühen Erfahrungen ergeben, zu denen ich Ihnen berichten kann, wenn Sie das möchten. Es gibt für mich keine Schwelle, ab der ich sagen würde, so, jetzt denken wir integrativ. Für mich ist meine Geschichte mit dem, was wir Integration oder Inklusion nennen, ein kontinuierlich sich fortschreibender Prozess, natürlich mit Brüchen auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Widersprüche, die auf diesem Feld auf allen Ebenen existieren. Fachlich bin ich der Auffassung, dass es keine als integrativ bzw. inklusiv zu attribuierende Pädagogik gibt. Es bedarf einer Pädagogik, die niemanden ausschließt oder ausgrenzt; eben eine Allgemeine Pädagogik. Auf deren Hintergrund wäre dann zu bestimmen, welche Funktion den Begriffen Integration und Inklusion im Feld der Pädagogik zugeschrieben werden kann. Das nur als Randbemerkung. Ich halte diese Begriffe, wie sie derzeit in den Diskursen verwendet werden, für eine wenig wissenschaftlich valide Konstruktion. Aber darüber können wir uns ja noch unterhalten. Von daher stellt sich erst einmal die Frage, wie weit wir zurückgreifen wollen.

Gerne weit …

Kindheit zu Kriegsende

Ich bin im Januar 1941 in Karlsruhe geboren worden, also in die frühe Phase des zweiten Weltkrieges hinein. An die letzten Kriegsmonate kann ich mich noch sehr genau erinnern und natürlich auch an die Zeit danach. Während des Krieges lebten meine Mutter und ich bei ihren Eltern und ihrer Schwester in Rastatt, also im Haushalt meiner Großeltern mütterlicherseits. Gegen Ende des Krieges sind meine Mutter und Großmutter mit mir in unsere Wohnung in ein kleines Dorf bei Karlsruhe zurückgegangen, weil Rastatt doch sehr stark von Frankreich aus von den bis an den Rhein vorgerückten Alliierten unter Beschuss geriet. Wir sind oft für Tage nicht aus den Luftschutzkellern herausgekommen. Mein Vater war in den frühen 1930er Jahren auf eine Anzeige hin von Herne in Westfalen in den Ort gekommen und arbeitete als Fleischermeister in der Metzgerei eines Gasthofes. Dort habe ich den Einmarsch der französischen Truppen und algerischen Söldner erlebt, die alles auf Eseln und Maultieren transportierten. Mich haben die Tiere, die auch mit Maschinengewehren beladen waren, und auch die dunkelhäutigen Menschen sehr interessiert. Damit ich besser aus dem Fenster sehen konnte, aus dem, wie auch aus den Fenstern anderer Häuser weiße Tücher und Bettlaken als Zeichen dafür hingen, dass man sich kampflos ergeben würde, nahm mich meine Großmutter auf den Arm und schob die Gardinen zur Seite. Kurz danach knallte ein Schuss durch die Fensterscheibe. Wir blieben unverletzt, duckten uns weg und blieben lange wie erstarrt im Zimmer hocken. Ich erinnere Gespräche, in denen es hieß, dass die Schwarzen Wilde seien, um sich schießen und alles zerstören, was mich trotz des Vorgefallenen sehr irritierte. Der auf uns geschossen hatte, war für mich ein ›Neger‹, wie man damals sagte. Aber das hat mich diesen Menschen nicht entfremdet. Damit hat die erste rassistische Infiltration »das sind die Neger, die Wilden, die Schlimmen«, wie man im Haus hörte – diese Aussagen kamen nicht von meiner Mutter oder der Großmutter – ihre Wirkung nicht erzielt. Mir wurde später klar, dass unser Tun durchaus als Angriffsabsicht gegen die einrückenden und das Dorf besetzenden Soldaten hätte gewertet werden können.

Erfahrungen mit amerikanischen Soldaten

Später sind die französischen Soldaten – wir waren zuerst französische Besatzungszone – wieder abgezogen und es kamen amerikanische Soldaten. Unter ihnen waren auch dunkelhäutige Soldaten, die vor allem uns Kinder gut behandelt und versorgt haben. Meine Mutter leistete Übersetzungsdienste in der Gemeindeverwaltung und wir durften auf den Panzern spielen. Wir haben das erste Mal so etwas gesehen, das man Orangen und Bananen nannte und bekamen andere, uns völlig unbekannte Speisen. Darunter auch Speiseeis. Als ich es versuchte, war es mir zu kalt. Ich rannte zu meiner Mutter und bat sie es warm zu machen. So viel zum damaligen Wissen darüber, was man essen kann. Sowohl die weißen als auch die dunkelhäutigen Soldaten waren alle sehr freundlich zu uns. Ich hatte zu allen eine gute Affinität, was meine Annahme bestärkte, dass menschliche Verhaltensweisen nichts mit der Hautfarbe zu tun haben.

Kontakt zu stigmatisierten Personen

Eine andere Sache: In diesem kleinen Dorf (es heißt Stupferich; das kommt von Stutenpferch, verweist also auf die Pferdezucht), es hatte damals nur 700 Einwohner, lebte ein namenloser Jugendlicher, der als der »Dorfdepp« galt und so auch benannt wurde. Wir würden ihn nach der klassischen Kategorisierung in die Gruppe der Menschen mit einer geistigen Behinderung einordnen. Er hauste vor dem Dorf in einer der großen Feldscheunen, in denen der geerntete Tabak getrocknet wurde und die Bauern auch Heu und Stroh lagerten. Er hat mich fasziniert. Die »Amis«, wie wir sagen, hinderten uns Kinder trotz sonst üblicher strenger Kontrollen nicht am Herumvagabundieren und so konnte ich zur Scheune des »Dorfdeppen« gehen. Ich benutze diesen Begriff jetzt bewusst. Als solcher wurde er bezeichnet; es war sein Name. Er bekam sein ›Futter‹ von den Bauern und von den Amis – sogar Cola – und ist dann wieder in den Feldern oder der Scheune verschwunden. Die Bauernhäuser standen offen und wenn ein Brot auf dem Tisch lag, hat er sich das genommen und man ließ ihn gewähren. Aber man wollte und ich sollte nichts mit ihm zu tun haben. Ich habe mich mit ihm angefreundet. Er besaß Blechdeckel von großen Kesseln, in denen auf den Höfen u. a. aus Kartoffeln und Rüben Schweinefutter gekocht, aber auch die verlausten Kleidungsstücke von heimkehrenden Soldaten oder Wäsche gewaschen wurde. Auf solchen Deckeln unterschiedlicher Größe trommelte er mit Stöcken. Das war seine Beschäftigung – oft über Stunden – in einer, wie wir heute klassifizieren würden, durchaus stereotypen Weise. Man störte sich nicht daran; er war eben der ›Depp‹. Wobei man wissen muss, in unserem alemannisch-badischen Dialekt ist der Begriff, wie wir das vielleicht heute assoziieren würden, nicht gleichbedeutend mit einer geistigen Behinderung, sondern die Bezeichnung für einen, der nicht kapieret, was man ihm sagt oder alles falsch macht, der sich zu dumm anstellt und zu nichts nutze ist. Entsprechend war es natürlich nicht nur unerwünscht, sondern anrüchig, mit ihm durchs Dorf zu ziehen. Dadurch habe ich schon sehr früh zu spüren bekommen, dass auch ich nicht so richtig in diese Gemeinschaft passe. Für meine katholische, tief gläubige und allen gegenüber demütige Mutter war es ein Gebot der Nächstenliebe, ihn zu akzeptieren. Sie hat nichts gegen meine Kontakte mit ihm unternommen, aber im Ort war das im ›Gerede‹ und führte zu einer gewissen Ächtung.

Im Dorf gab es noch eine weitere Person. Man nannte den Mann den Polacken. Er war ein Pole, der gleich zu Beginn des Krieges gefangen genommen wurde und als Kriegsgefangener auf einem Bauernhof arbeiten musste. In seiner freien Zeit füllte er Flaschen mit Brunnenwasser, setzte Tabletten zu und stellte so etwas wie ›Sprudel‹ her; grün mit Waldmeistergeschmack oder rot mit Himbeergeschmack. Das war natürlich auch für uns Kinder im Dorf interessant. Er hat uns Sprudel abgefüllt und wir brachten unsere Flaschen oder Becher wieder zu ihm in einen Schuppen zurück, in dem er arbeitete, um sie wieder füllen zu lassen. Als ›Polack‹, mit heutigen Begriffen gesagt, war er in dieses Dorf zwangsinkludiert, aber eine aus der Dorfgemeinschaft exkludierte Person, ohne aus dieser Inklusion ausbrechen zu können. Wäre er weggelaufen, hätte der Volkssturm ihn wohl verfolgt und erschossen. Nach dem Krieg war er frei, er hätte gehen können, musste aber erfahren, dass seine ganze Familie zu Kriegsbeginn umgekommen war. Er blieb im Dorf. Er war – und das ist interessant – solange ich das miterleben konnte, der Polack geblieben. Erst später wurde mir deutlich, dass der Begriff »Polack« nicht einen Menschen polnischer Nationalität meinte, sondern im faschistischen Sprachgebrauch eine Bezeichnung für Menschen aus dem Osten war, die für ›minderwertig‹ angesehen und geradezu als vogelfrei behandelt werden durften; also ein eugenisch-rassistischer Begriff. Das ist mir erst später aufgegangen, zumal man zum Deppen manchmal auch Polack gesagt hatte.

Stigmatisierungs­prozesse erleben

Wir haben damals Tag für Tag und nicht selten auch in der Nacht auf den Feldern ›gschafft‹. Es musste ja alles aus dem Nichts aufgebaut werden. Es gab kaum taugliche landwirtschaftliche Gerätschaften. Sie waren gegen Ende des Krieges abgeholt und als kriegswichtige Rohstoffe verwertet worden. Wenn ich mich beim Arbeiten blöd angestellt habe, war ich auch ein Depp und wenn ich für eine Arbeit nicht getaugt habe, dann war ich der Polack. Das waren sehr zentrale Erfahrungen der Exklusion. Die Begriffe hatten einen hohen Bedeutungsgehalt für etwas, das nicht in die herrschenden Normen und Normalität des Dorflebens passte, wie das schließlich auch die »Flüchtlinge« waren, die ins Dorf kamen und einquartiert wurden. Nun haben wir ja wieder eine sehr prekäre Flüchtlingssituation, die mich in vielen ihrer Komponenten an damals erinnert. Ich fand die Flüchtlinge interessant und unter deren Kindern auch Freunde. Einer alten Flüchtlingsfrau habe ich viel zu verdanken. Sie hat mich arbeitsmäßig enorm unterstützt und entlastet. Sie bekam ein Zimmer im selben Haus zugewiesen, in dem wir wohnten und ihr Verdienst war das tägliche Essen und ein Krug Most. Damals trugen die Bauersfrauen und die Flüchtlingsfrauen ständig Kopftücher und niemand dachte sich etwas dabei.

So kam es, dass ich in diesem rassistischen, reaktionär, faschistoid, erzkatholisch denkenden Dorf ständig die »Normalitätsgrenzen« erfahren habe, was mich im Laufe der Zeit, begleitet von so viel Lektüre, als ich des nachts zu lesen in der Lage war, entgegen des Mainstreams zu einer tiefen Solidarität mit diesen Menschen führte.

Zugang zu Bildung

Ich hatte das Glück, dass meine Mutter, die aus einer einfachen Arbeiterfamilie stammte, in Rastatt aber am humanistischen Gymnasium Abitur machen konnte und als Klassen- und Schulbeste jährlich Bücherpreise erhalten hatte – das Werk Dostojewskis und Tolstois, das zu meiner Leselern- und Basislektüre wurde. Wenn wir auf dem Feld gearbeitet haben, das war ein weiteres großes Privileg, konnte meine Mutter über die »Physikalien« und den Kosmos und das Planetensystem erzählen. Ihre Schulbücher ergänzten meinen Volksschulunterricht und begründeten mein Interesse an der Astrophysik. Im Werk von Dostojewski (mit dem Roman Arme Leute habe ich das Lesen erlernt) fand ich auf hohem literarischen Niveau viele Parallelen zu den dörflichen Exklusionen und Mechanismen der Zwangsinklusion von Menschen unter den dort herrschenden ideologischen Bedingungen.

Mein Vater konnte vor der vorrückenden Roten Armee fliehen und später einem Gefangenentransport entkommen. Er war nach dem sogenannten Frankreichfeldzug an der russischen Front und hatte als Koch eine Kompanie zu versorgen. Er dürfte Furchtbares erlebt haben. Es wurde nie darüber gesprochen. Von sich aus erzählte er nur von einem gefangen genommenen Partisanen, der ihm als Hilfskraft zugeteilt worden war und ihm einen Stock mit einem Pferdekopf geschnitzt hatte, den er nach Hause mitbrachte. Zwei Wochen nachdem mein Vater zu Hause angekommen war, fragte ich meine Mutter, wann der Onkel wieder gehen würde. Das blieb Symbol für mein Verhältnis zu meinem Vater und des seinen zu mir bis zu seinem Tod 1998.

Bedeutend wurde mir 1948 die Währungsreform. Da waren, wie es hieß, plötzlich alle gleich. Das sogenannte Kopfgeld von 40 DM konnte vom Rathaus abholt werden. Alles Ersparte war verloren. Ich musste das Geld abholen; meine Eltern wollten diesen Gang nicht machen. Das war mir eine unerträgliche Belastung. Dieses Geld war heilig – aber das mit der gemeinten Gleichheit eine Illusion.

Behindertenfürsorge als Beginn der umfassenden
Institutionalisierung

Nach der Währungsreform begann, was als ›Wirtschaftswunder‹ bezeichnet wurde; es ging aufwärts. Als ich eines Tages zur Feldscheune kam, war der Dorfdepp nicht mehr da. Ich nahm an, dass er im Wald sei, weil er sich öfter einmal ein paar Tage lang irgendwo herumgetrieben hatte und nicht zu sehen war. Aber er tauchte nicht mehr auf. Gesprochen hat niemand darüber. Ich konnte herausfinden, dass er mit einem Messer geworfen hatte, als man ihm verweigerte, sich Brot aus einer Küche zu holen. Nun galt er, obwohl er niemanden verletzt hatte, als gemeingefährlicher Idiot und binnen kürzester Zeit kam er nach Wiesloch in die für Nordbaden zuständige Psychiatrie, wo er für mich verschwunden blieb. Angehörige von ihm waren ohnehin nicht bekannt. Dieser Mensch hat in dieser dörflichen Gemeinschaft, wie problematisch sie auch gewesen war, den Hitler-Faschismus und die Euthanasieprogramme überlebt. Aber mit dem Aufbau der Behindertenfürsorge in der jungen BRD wurde er kaserniert, aus einem zwar prekären aber freien Leben exkludiert und in eine geschlossene psychiatrische Abteilung zwangsinkludiert. Das war für mich ein totaler Anachronismus, der für meinen beruflichen Lebensweg sehr bedeutend geworden ist.

Selbstaufklärung über den Faschismus

Es hat uns damals niemand über den Faschismus als solchen, dessen Historie und barbarisch-mörderische Wirksamkeit in Form des Hitler-Faschismus aufgeklärt – auch nicht im Geschichtsunterricht. Der Holocaust, die Euthanasie, die »Ausmerze« und »Aufartung« blieben verschwiegen – die gesamten Verbrechen der Deutschen. Durch diese Vorgänge aufmerksam geworden, um nur ein Beispiel der Selbstaufklärung zu benennen, habe ich die Unterschrift meines Vaters gefälscht, um in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe Bücher ausleihen zu können. Bücher, das war ein Luxus und lesen galt nicht als Arbeit, sondern als Drückebergerei. So habe ich herauszufinden versucht, warum ein Neger ein Polack ist, warum ein Depp ein Polack sein kann und dieser ein Depp und warum ich selbst so benannt wurde. Ich glaube, erst 1960 erschien bei Bertelsmann die Dokumentation Der gelbe Stern über die Judenverfolgung, die Konzentrationslager und Auschwitz, über die systematische Ermordung der sogenannten Untermenschen. Zuvor musste man sich Informationen mühselig selbst einholen, immer in Gefahr, erwischt zu werden; selbst das nächtliche Lesen mit Taschenlampe war verboten.

Schulische Laufbahn

Mein Großvater mütterlicherseits arbeitete bei der Bahn. Lokomotivführer als Berufswunsch stand bei mir hoch im Kurs. Aber durch die Befassung mit den Zusammenhängen, über die ich berichtet habe, war es dann die Psychiatrie, die mich zunehmend interessierte; psychisch kranke und als behindert geltende Menschen. Meine Mutter wollte Lehrerin werden, aber damals als einfaches Arbeiterkind ohne Beziehungen zu den »hohen Herren und feinen Leuten«, wie es immer wieder geheißen hat, war das für sie 1933 trotz besten Abiturs nicht möglich. Mein sie total unterdrückender Vater verhinderte das auch später noch, als ich selbst schon an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe studierte. Mir selbst war unvorstellbar, einmal einen Fuß in eine Universität setzen, geschweige dort studieren oder gar lehren zu können. Ich sollte nach dem vierten Schuljahr nach Karlsruhe-Durlach aufs Gymnasium, so die Meinung meines Volksschullehrers, selbst »Flüchtling« und im Dorf nicht anerkannt. Mit gefälschter Unterschrift meines Vaters meldete ich mich auch dort an, was aber bald aufgeflogen ist und meine Mutter musste mich wieder abmelden. So verblieb ich acht Jahre in der dörflichen Volksschule. Über eine »Vorklasse«, in der solche Schüler wie ich aus den umliegenden Dörfern zusammenfanden (wir waren eine reine Knabenklasse), in der vier Jahre Gymnasialstoff (den der Sexta, Quinta, Quarta und Untertertia) nachzuholen war, die höhere Handelsschule und die Wirtschaftsoberschule kam ich nach der achtjährigen Volksschule doch noch zum Abitur.

Absurdität von Normalitätskonstrukten

Die Lektüre der russischen Literatur, insbesondere eben Dostojewskij, waren Leitlinie und Zielorientierung. An der PH schrieb ich meine Abschlussarbeit in Philosophie über die Geschichte vom Großinquisitor im Roman Die Brüder Karamasow. Ich hatte eine Biografie über Dostojewskij verfasst, die ich publizieren wollte, aber die erste rororo Monografie über ihn kam mir damals zuvor. Die vier Brüder, Aljoscha der ›Heilige‹, Novize des Staretz Sossima, Iwan, der Intellektuelle und Atheist, Smerdjakov, der behinderte Epileptiker und Dmitri, Soldat und Lebemensch, affektiv und emotional labil, diese vier zentralen Personen im Roman neben der Gestalt des Vaters waren mir ein Spiegel des im Dorf Erlebten, was mich darin bestärkte, zu erkennen, wie absurd die Konstruktion von »Normalität« ist und wie absolut unmöglich, das, was als abnorm galt, das Verrückte und die Menschen, denen man das zuschrieb, auszugrenzen. Es war mir klar geworden, dass alles zu unternehmen ist, damit diese Menschen ganz »normal« mit uns leben dürfen und können. Insofern bin ich nicht zur Integration gekommen. Ich würde es so formulieren: Es fällt mir sehr schwer, mich in jemanden hineinzuversetzen, der einen Menschen aufgrund seiner individuellen physischen, psychischen und mentalen Existenzweise ausgrenzen will. Ich kann mir zwar eine solche Haltung, die dahinter stehende Ideologie und die Ängste, die Übertragungs- und Projektionsmechanismen der eigenen negativ bewerteten Persönlichkeitsanteile u. a. m. erklären, aber ich kann das nicht nachempfinden.

Lehramtsstudium als Alternative zur Medizin

Nach dem Abitur war es nicht möglich, den Wunsch zu realisieren, Medizin mit dem Ziel der Psychiatrie zu studieren. Ein solches Studium wäre aus den für mich damals bestehenden persönlichen Gründen nicht finanzierbar gewesen. So begann ich, wenn auch als zweite Wahl, aber nicht minder wertgeschätzt, an der sich zur Pädagogischen Hochschule wandelnden Pädagogischen Akademie in Karlsruhe ein Lehramtsstudium, was meiner Mutter verwehrt geblieben war.

Erste Praxiserfahrungen in heterogenen Lerngruppen

Ein erstes Praktikum absolvierte ich an einer einklassigen Dorfschule, was mir zu einer bedeutenden Erfahrung wurde, die bis heute in meine Konzeption einer »entwicklungslogischen Didaktik« hineinwirkt. Der Schulleiter und einzige Lehrer neben dem Gemeindepfarrer, der den Religionsunterricht gab, unterrichtete die Jahrgangstufen eins bis acht mit gut 60 SchülerInnen. Das war nahezu die Anzahl an Kindern, die Pestalozzi in seiner Anstalt zu Stans unterrichtete. Diese Dorfschule am Fuß des nördlichen Schwarzwaldes nahm selbstverständlich auch die Kinder auf, die erhebliche Lernschwierigkeiten hatten, wie mein Mentor schon bei der ersten Kontaktnahme verdeutlichte; also auch die ›Dorfdeppen‹. Sie nicht in seine Schule aufzunehmen, wäre ihm undenkbar gewesen. Man würde diese Kinder später in einer Schule für Lernbehinderte (damals noch Hilfsschule), für Verhaltensgestörte oder an einer Schule für Bildungsschwache (Geistigbehinderte) unterrichtet haben. So habe ich mit Beginn meines Studiums eine Schule mit einer altersgemischten Klasse hoher Diversität der SchülerInnen und einem zieldifferenten Unterricht auf der Basis innerer Differenzierung erfahren und auch unterrichten dürfen, eine Schule, die für alle offen war und niemanden ausgrenzte. Noch heute zitiere ich aus Pestalozzis Stanser Brief, mit dem er einem Freund in Aufarbeitung dessen berichtet, dass die Anstalt aufgelöst wurde, die Stelle, mit der er beschreibt, dass er die Älteren die Jüngeren lehren ließ und diese sich als viel tauglichere Gehilfen erwiesen als ausgebildete Lehrer! Das kann man sich noch heute auf der Zunge zergehen lassen, wo vieles Gerede über Inklusion, Diversität, äußere oder innere Differenzierung, das Jahrgangsstufenproblem u. a. m., wenn es überhaupt kritisch diskutiert wird, oft nicht entfernt diese Erfahrungen reflektiert und kaum das Erkenntnisniveau dieses Briefes erreicht. Nur mittels eines solchen Schulmanagements ließ sich an der einklassigen Dorfschule der zu leistende Unterricht pädagogisch vernünftig bewältigen. Die heute im Zusammenhang mit der Inklusion zu solchen Unterrichtsstrategien geführten Diskurse muten mich oft einfach als belanglos an.

Bezug zur Religion

Eine Episode sei noch angefügt: Man hatte damals in Baden-Württemberg als Lehrperson auch Religion zu unterrichten. Aber wenn der Pfarrer die Schule betrat, verließ mein Mentor diese durch den Hinterausgang und sagte: »Komm’, Feuser, wir gehen, der Seifensieder kommt«. Das war seine Sicht auf einen die SchülerInnen indoktrinierenden Unterricht. Ich hatte während meiner Volksschulzeit am eigenen Leib verspürt, welche Menschenverachtung und Ausgrenzung durch einen dogmatischen Religionsunterricht in die Köpfe der Schüler implementiert wird und war von unserem Dorfpfarrer wegen meiner »Vorlautheit« und ihn erzürnenden Fragen nahezu jede Woche geschlagen worden; meist in meiner Funktion als Ministrant.

Erfahrungen mit schwerst kranken und sterbenden Menschen

Aber auch das sei erwähnt. Ich begleitete ihn sehr oft, wenn jemand im Dorf oder in den Nachbargemeinden, wie es hieß, auf den Tod erkrankt oder gebrechlich war und er die Sterbesakramente spendete; das zu jeder Tages- oder Nachtzeit, zu der er gerufen wurde. Oft blieben wir bei den Kranken und Sterbenden bis zu deren letzten Atemzug, bei deren Beerdigung ich dann auch wieder als Messdiener fungierte. Das vermittelte mir sehr früh auf andere Weise ein Verhältnis zu schwerst kranken und sterbenden Menschen – und zum Tod. Auch das war mir eine bedeutende Erfahrung der Praxis sozialer Nahbeziehungen in Extremsituationen, die sich auch in die Praxis der von mir entwickelten SDKHT (Substituierend Dialogisch-Kooperative Handlungs-Therapie) hinein fortschrieb: so in die Arbeit mit Menschen im Koma und Wachkoma oder mit extremen, sogenannten ›herausfordernden Verhaltensweisen‹; mit Menschen, die aufgegeben waren. Und das mit dem erklärten Ziel der Teilhabe an Gesellschaft und Kultur im Sinne der Inklusion. Die Haltung unseres Dorfpfarrers in diesen Zusammenhängen rechne ich ihm trotz der anderen Erfahrungen hoch an.

Pädagogische Inspiration

Eine Moral ohne Gott war mir längst vorstellbar, fühlte mich als Atheist und trat auch bald aus der Kirche aus. Schon während meiner eigenen Volksschulzeit durfte ich an der zweiklassigen Dorfschule, die sie damals noch war, auch die »Kleinen« unterrichten, was mir mein Klassenlehrer ermöglichte, der mich ins Gymnasium bringen wollte. Mein Mentor im Rahmen des damals so bezeichneten Landschulpraktikums war aber keineswegs einem Unterrichtsstil im Sinne eines »Laissez Faire« zugeneigt, sondern sehr streng, aber gerecht. So lernte ich, dass beides nicht im Widerspruch zu stehen braucht. Bei den gemeinsamen Gängen durch Wiesen und Felder, während der Pfarrer unterrichtete, hatte ich durch den kurz vor seiner Pensionierung stehenden, sehr erfahrenen Lehrer meine mir bis heute bedeutend gebliebenen Privatvorlesungen. Für ihn war es seine Aufgabe, die Kinder zu bilden, ihnen die Welt über den Dorfrand hinaus zugänglich zu machen und zu erklären, damit sie diese und sich selbst zu erkennen vermögen und nicht, sie mit Wissen vollzustopfen, das nicht ihren Erfahrungen und Erkenntnissen entstammt und sie mit Noten zu terrorisieren.

Arbeit an einer Schule für
Lernbehinderte

Für mich war klar, nach dem Studium an einer Sonderschule zu arbeiten. Ich erhielt 1963 an der Schule für Lernbehinderte in Rastatt meine erste Anstellung.

Äußere Differenzierung in der Schule für Lernbehinderte

Damals war die Schule in A- und B-Züge und meist nur einen C-Zug eingeteilt. Ich bekam als Klassenlehrer eine C-Klasse, in der sich die SchülerInnen sammelten, die wir im Vorfeld der 1968er Bewegung den »harten Kern« nannten; SchülerInnen also, die durch erhebliche Lernschwierigkeiten und/oder herausfordernde Verhaltensweisen auffielen. Es waren Kinder, die durch prä-, peri- oder postnatale Erkrankungen in ihrer Entwicklung beeinträchtigt waren, eine Enzephalitis überstanden hatten, was es damals noch häufiger gegeben hat und die, was in den meisten Fällen zusammenfiel, aus ärmsten Familien und Obdachlosensiedlungen kamen, die in den ehemaligen Kasernen der Militärgarnison Rastatt wohnten und lebten; in der Stadt »Kasernenraller« genannt. Eine Schule für Geistigbehinderte war in Baden-Württemberg (später: die Sonderschule für Bildungsschwache) noch nicht eingerichtet worden. Wurden im A-Zug eigentlich recht gut lernende Kinder unterrichtet, die aber ihrer nicht als hinreichend bewerteten Lernergebnisse wegen aus der Regelschule in die Hilfsschule verwiesen worden waren, waren im B-Zug schwerer lernende Kinder mit den eben erwähnten organischen Beeinträchtigungen, die auch durch ihr Sozialverhalten Probleme aufwarfen und im C-Zug viele jener mit schweren Entwicklungsstörungen, die ich im Fortgang meiner beruflichen Arbeit einige Jahre später in Frankfurt am Main an der ersten Schule für Geistigbehinderte (damals: Schule für Praktisch Bildbare, Sonderschule) in der BRD vorfand und wiederum später in Gießen, wo ich eine Schule für Geistigbehinderte für die Stadt und den Landkreis Gießen aufbaute; die Martin-Buber-Schule (MBS).

Umgang mit deprivierten und traumatisierten Kindern

Viele der Kinder und Jugendlichen waren durch ihre oft von ihrer Kindheit an bestehenden Hospitalisierung in Landeskrankenhäusern und Psychiatrien sozial und bildungsmäßig schwerst depriviert – und traumatisiert. Vor allem ihnen galt mit dem Aufbau der Martin-Buber-Schule meine Arbeit in Gießen, wo ich auch den Kollegen Wolfgang Jantzen kennenlernte, meine Arbeit am Institut für Heil- und Sonderpädagogik der Philipps-Universität in Marburg, wo ich Lehraufträge wahrnahm und ab 1978 auch meine Tätigkeit an der Universität Bremen. Aber damit ist weit vorgegriffen. Vor allem die Schüler meines damals 7. und 8. Schuljahres, die aus armen und psycho-sozial hoch belasteten Familien kamen, abwehrend, destruktiv und auch aggressiv waren und erst einmal als Strategie der besten Verteidigung angreifend draufhauten, verlangten mir sehr viel ab. Ich hatte das Glück, einen Schulleiter zu haben, der mich, um es einfach zu sagen, machen ließ.

Wie groß war die Klasse?

Unterstützung durch die Schulleitung

Es waren 16 SchülerInnen. Der Schulleiter hielt mir, wie gesagt, den Rücken frei für meine pädagogische Arbeit. Eine der bedeutendsten Funktionen einer Schulleitung ist, das Kollegium zu innovieren, die erforderlichen Bedingungen für eine qualitativ hochstehende pädagogische Arbeit zu schaffen und den Lehrpersonen von den überwiegend unsinnigen administrativen Maßnahmen den Rücken frei zu halten – und, so weit möglich, auch von der Schulaufsicht. So konnte ich in der alten Garnisonsstadt Rastatt, von der 1848 die Badische Revolution ausgegangen und 1849 in der durch preußische Truppen eingenommenen Festung mit ihren riesigen Kasernen niedergeschlagen worden war und die nach dem Zweiten Weltkrieg überwiegend von französischen Soldaten genutzt wurden, meiner Arbeit nachgehen. Meine SchülerInnen hatten, wie Wolfgang Jantzen 1976 in die Diskussion brachte, nur eine »Arbeitskraft minderer Güte«. Im Hitler-Faschismus hätten sie u. a. als »Ballastexistenzen« und »nutzlose Fresser« gegolten. Bis heute wirft man diesen Menschen vor, Sozialschmarotzer zu sein, in die zu investieren sich ohnehin nicht lohnt. Das drückte sich damals sehr deutlich in der schon erwähnten Bezeichnung »Kasernenraller« aus. Heute würde man in Bezug auf ihre Herkunft auch von »bildungsfernen Familien« sprechen. Was mir schon damals zu begreifen gelang, war, dass die Bildung diesen Menschen fern ist und nicht diese der Bildung. Also verbrachte ich außerhalb des Unterrichts sehr viel Zeit mit meinen SchülerInnen dort, wo sie lebten. Der Durchschnittsbürger mied diese Orte und wusste folglich nicht, unter welchen Bedingungen man dort leben und Kinder aufwachsen mussten. Diese Erfahrungen fanden dann später in Gießen Ende der 1960er Jahre bis 1978 ihre Fortsetzung in den drei großen Randsiedlungen dieser Mittelhessischen Stadt. Unter anderem auch in der durch das Buch Die Gruppe von Horst-Eberhard Richter bekannt gewordenen Eulenkopf-Siedlung, mit dem er seine Arbeit in dieser Siedlung dargestellt und ausgewertet hat.

Folgen sozialer Verelendung

Auf diese Weise habe ich sehr früh die Folgen sozialer Verelendung mitbekommen, die nichts mit irgendwelchen organischen oder anderen individuellen Beeinträchtigungen zu tun haben, sondern sozial und damit gesellschaftlich induziert sind. Dies im Zusammenhang mit grenzwertiger Ernährung, Alkoholismus, Gewalt, Missbrauch und Prügeln in den Familien, weil die Väter ihren Frust nicht nach außen z. B. in gewerkschaftliche oder politische Aktivitäten transformieren konnten, sondern geballt nach innen richteten. Prekäre Arbeitsverhältnisse gab es auch damals schon, Minderbezahlung, Ausbeutung und Geringschätzung – und dies trotz des durch das sogenannte ›Wirtschaftswunder‹ schon hohen Wohlstandes. Damals begann, was heute mit neoliberalen, deregulierten kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzpraktiken beschrieben wird und in den 1970er Jahren eine immense Beschleunigung erfuhr und u. a. auch in die heute bestehende totale Bildungsungerechtigkeit und Prekarisierung großer Anteile der Bevölkerung führte.

Verhalten
als Ergebnis
gesellschaftlicher Verhältnisse

Diese Erfahrungen, denen ich ausbildungsmäßig nicht gewachsen war, sie aber zu bewältigen hatte, haben sich auch tief ins eigene Bewusstsein eingeschrieben. Sie legten die Grundlagen der Erkenntnis, dass die am Individuum zu beobachtenden Verhaltensweisen, die entwicklungspsychopathologische Probleme aufwarfen und mich vor oft unlösbare Fragen stellten, wie immer sie sich in den heil- und sonderpädagogischen und psychiatrischen Kategorisierungen auch darstellten, habitueller und nicht essenzieller Art waren, also sozialisatorisch angeeignete gesellschaftliche Verhältnisse – transponiert in Individualverhalten. Das vermittelte mir zunehmend das Verständnis des Verhältnisses von individuellen Verhaltensweisen zu gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Dialektik.

Selbst bin ich mit meiner Frau, nachdem ich gerichtlich meine Volljährigkeit durchsetzen konnte (sie war damals erst mit dem 21. Lebensjahr erreicht), noch vor dem Studium nach Rastatt gezogen. So konnte ich meinem eigenen, erzkatholischen, postfaschistischen und rigiden autoritären Erziehungsmilieu, das von immenser moralischer Macht gewesen war, entkommen. Mein Vater erwartete, dass ich das Fleischerhandwerk erlerne, was ich nicht einlöste. So blieb die Kluft zwischen uns unüberbrückbar groß, zumal ich nur durch einen Kaiserschnitt entbunden werden konnte und (damals medizinisch noch die Folge) meine Mutter keine Kinder mehr bekommen konnte, was er mir anlastete. Er ist mit seinen Geschwistern in Herne in Westfalen im und nach dem Ersten Weltkrieg unter großer Not aufgewachsen. Er war wohl in der NSDAP gewesen, um einen Gewerbeschein zu bekommen, ließ sich im Militär an der Ostfront aber nicht befördern und blieb gemeiner Soldat. Wie der »Nachschub« für die von ihm zu versorgenden gut 200 Soldaten vor Ort organisiert wurde, weiß man aus späteren Berichten über das Heer. Ins Gespräch kamen wir nur darüber, dass er einmal in Staraja Russa stationiert war, wo auch Dostojewskij 1875–1878 und 1880 lebte, und er konnte in meinen Büchern das Haus wiedererkennen, in dem Dostojewskij gelebt hatte.

Lehrer als Unterstützer von Selbstbildungsprozessen

Aber wieder zurück: Meine Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg verbrachte ich also nicht in einem Arbeitermilieu, nicht in einem gewerkschaftlich denkenden Sinne, nicht in einem aufgeklärten Milieu, sondern in einem bäuerlichen Umfeld dumpfer Bürgerlichkeit von sehr geringem Bildungsniveau und dogmatischem Antisozialismus. Namen wie Marx, Engels, Feuerbach oder Hegel hat man nie gehört; auch in der Schule nicht. Aber mein Glück war bei allen Problemen einerseits, dass seitens meiner Mutter die besagte russische Literatur im Wohnzimmerschrank zu finden war und auf dem Dachboden ihre Schulbücher, die mir ergänzend Stoff zum Lernen geboten haben. Andererseits war mein Volksschullehrer, Herr Krippner, ein großes Glück für mich gewesen und im Laufe der weiteren Schulzeit zwei Lehrer für Deutsch, Geschichte und Religion und im Ersten Studium ein Theologieprofessor (sie waren Jesuiten). Das waren Menschen, die mich nicht verachtet haben und ein Oberstudienrat in Geografie ermöglichte mir, meine astrophysikalischen Interessen zu vertiefen. Mein Deutsch- und Geschichtslehrer wusste, dass ich oft selbst während des Unterrichts die »großen Philosophen« las – und ließ mich gewähren. Über drei Jahre lasen wir bei ihm von Woche zu Woche ein großes Werk der Weltliteratur oder der Philosophie, diskutierten dazu, schrieben dazu. Das war obligatorisch und bildete mir einen bedeutenden Hintergrund zu humanwissenschaftlichen Erklärungszusammenhängen des selbst Erfahrenen und für viele meiner Fragen.

Bezüge von
Theorie und Praxis

Die Befassung mit sozialkritischer, soziologischer und marxistischer Literatur erfolgte parallel und ermöglichte mir eine Metaebene des Denkens. Es gelang zu sehen, dass ich mit meinen Auffassungen – man warf mir vor, dass ich immer dafür sei, dagegen zu sein – kein ›Spinner‹, nicht selbst ein Verrückter war. Ich konnte die erfahrene Praxis zunehmend in Theorien spiegeln und diese Theorien als ein unverzichtbares Mittel sehen, das Erkannte erklären und es schließlich auch in sozialer Nähe zu den Betroffenen verstehen zu können. Theorie und Praxis waren nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. In der Lehre oder in Beratungszusammenhängen stoße ich immer wieder auf die Auffassung von Lehrpersonen, dass Theorien für den Elfenbeinturm der Universität gut seien, aber für die Praxis nicht nur nichts taugen würden, sondern als Ballast erfahren werden. Eine sehr bedenkliche Auffassung von vermeintlich akademisch ausgebildeten Lehrpersonen. Ich konnte ein sehr positives Verhältnis zu Theorien gewinnen, auch wenn mir viel verschlossen blieb und bleibt (denke ich nur an die Quantentheorie) und ich noch heute an Büchern arbeite, mit denen ich mich schon vor Jahrzehnten befasst habe. Es ist immer wieder Neues zu entdecken und viele Sachverhalte erschließen sich in neuer Weise.

Aufbau einer
Sonderschule für Praktisch Bildbare

Nach dem Studium der Sonderpädagogik in Marburg 1967 bis 1969, zu dem ich beurlaubt war, baute ich, wie schon erwähnt, in Gießen die Martin-Buber-Schule auf, eine Schule für »Praktisch Bildbare« (Sonderschule), wie es damals hieß. Das nicht als überzeugter Vertreter einer institutionellen Verbesonderung von Kindern und Jugendlichen mit schwereren Beeinträchtigungen. Aber es gab damals – auch aus heutiger Perspektive zurückblickend betrachtet – bei aller Kraftanstrengung keine Möglichkeit, diese Kinder und Jugendlichen, die größtenteils unter erbärmlichen Bedingungen in Landeskrankenhäusern und Psychiatrien leben mussten, aus diesen zu befreien und ins Bildungssystem zu integrieren, ohne den Weg über die Sonderschule zu gehen.

Studium der
Sonderpädagogik
in Marburg

Ich wechselte 1965 in den Schuldienst des Landes Hessen. Warum? In Marburg gab es die erste Studienstätte Deutschlands für Heil- und Sonderpädagogik an einer Universität. Damals war Prof. Dr. Dr. Helmut von Bracken Institutsdirektor und ich wollte mich heilpädagogisch bzw. sonderpädagogisch qualifizieren. In Baden-Württemberg war ich als »außerplanmäßiger Lehrer (APL)« tätig. Ein Referendariat gab es damals nicht. Diese Art der zweiten Phase der Lehrerbildung erfolgte mit Seminaren an einem Lehrerseminar in Freiburg-Littenweiler; meist in Form von Wochenendkursen. Das verband ich mit Kontakten zur Freiburger Psychiatrie, zumal dort auch Personen stationär behandelt wurden, die ich kannte und um die ich mich auch kümmerte. In Baden-Württemberg stand dann der Wandel von der »Hilfsschule« zur »Sonderschule für Lernbehinderte«, zur »Leistungsschule« an, wodurch z. B. als geistigbehindert oder verhaltensgestört kategorisierte Kinder nicht mehr wie bisher z. B. in meiner C-Klasse unterrichtet werden durften. Eine »Schule für Bildungsschwache« führte Baden-Württemberg erst Jahre später ein. Meine SchülerInnen konnte ich mit ihrer Schulentlassung nach dem achten Schuljahr noch alle in Lehr- und Arbeitsverhältnisse vermitteln. Mit zunehmender Sättigung des Arbeitsmarktes, verstärkter Automatisierung und den aufkommenden Krisen der Wirtschaft wurden sie zur »industriellen Reservearmee«, deren Arbeitskraft man sich je nach der gerade dominierenden Arbeitsmarktlage bediente oder entledigte. Ich protestierte auch beim Oberschulamt in Freiburg/Brsg. gegen die Ausgrenzung dieser Kinder aus dem Sonderschulsystem, was ohne Erfolg blieb.

Wechsel nach Hessen

Das veranlasste mich, Baden-Württemberg aus Protest dagegen zu verlassen und mich nach Marburg zu orientieren, wo es am Institut zwei sogenannte Gastklassen für Geistigbehinderte gab. Für mich eine ideale Verbindung von Theorie und Praxis, Forschung und Lehre. Ich machte mich auf den Weg ins Hessische Kultusministerium (HKM) nach Wiesbaden und trug dem damaligen Kultusminister Schütte meine Anliegen vor. Er verwies mich an das zuständige Referat und dort traf ich auf Herrn Königstein, den späteren Referenten für das Sonderschulwesen in Hessen, der gerade in diese Funktion eingearbeitet wurde. Man fragte mich, wo ich arbeiten wolle. Ich trug meine Absicht vor, an den Gastklassen zu unterrichten und an der Universität Geistigbehindertenpädagogik zu studieren, was es damals als Fachschwerpunkt nicht gab. Ich aber meinte, dass er aufzubauen wäre. Dies mit dem Ergebnis, dass ich mich gleich auf den Weg nach Marburg machen und mein Anliegen mit Herrn von Bracken besprechen solle. Ich erinnere noch sehr genau an die Fahrt von Wiesbaden über Gießen nach Marburg. Der Zug hielt länger vor der Einfahrt in den Bahnhof von Gießen entlang der Frankfurter Straße. Die Betrachtung der Umgebung ließ in mir den Eindruck zurück, ich arbeite überall in Hessen, aber nicht in Gießen; es sollte anders kommen. In Marburg bekam ich für mein Anliegen grünes Licht, fuhr wieder nach Wiesbaden zurück, wo ich damit empfangen wurde, dass man an der Albert-Griesinger-Schule in Frankfurt am Main, der ersten Schule für Geistigbehinderte in der BRD, dringend einen Lehrer suche. Ich willigte ein, stellte in Baden-Württemberg formal meinen Versetzungsantrag, wurde aber unmittelbar von Hessen übernommen. Die Formalia regelte das Ministerium. Ich glaube zwei Jahre später erhielt ich eine Anfrage vom Oberschulamt Freiburg, ob ich in Rastatt nicht eine Schule für Bildungsschwache aufbauen wolle. Solche Anachronismen gibt es.

Sonderschule

Zwei Wochen vor der terminierten Abnahme meiner zweiten Staatsprüfung verließ ich Baden-Württemberg nach Hessen. Ich hätte die Prüfung noch ablegen können, aber mein Protest verlangte, unmittelbar wegzugehen. Nachdem ich mich an der neuen Schule in Frankfurt etwas eingearbeitet hatte, wurde mir seitens des zuständigen Schulrats angeboten, meine zweite Staatsprüfung, verbunden mit einem Unterrichtsbesuch durch den zuständigen Schulrat Baumann und die zuständige Oberschulrätin Dornbusch, abzulegen. Ich hatte nach kurzer Zeit nahezu jede Woche einen zeitlich länger andauernden Schulratsbesuch als Folge meiner in der Auseinandersetzung mit dem Schulleiter Wolfram Wagner oft kontroversen Positionen, die sich interessanterweise nicht auf die Beschulung aller Kinder ohne Grenze nach unten hinsichtlich der Art und des Schweregrades ihrer Beeinträchtigungen oder andere Fachanliegen bezogen. Damals gab es in Hessen noch Einschulungsvoraussetzungen für diese neue Sonderschulform, die ich später auch an der Martin-Buber-Schule nicht eingehalten habe. Die Kontroversen bezogen sich überwiegend auf weltanschauliche Fragen; z. B. auch auf meine Kriegsdienstverweigerung, die als solche und im Prinzip als Unrecht angesehen wurde. Für die Prüfungsstunde wurde mir aufgetragen, meine Unterrichtsvorbereitung nach der Didaktischen Analyse von Klafki zu erstellen, verbunden mit der Frage, ob ich diese kennen würde. Ich antwortete mit »nein«, da wir in Baden-Württemberg auch in den Seminaren nie etwas von Klafki gehört haben und in der Literatur war ich eigenartiger Weise noch nicht auf ihn gestoßen. Mit dieser ehrlichen Antwort, musste ich mich doch oft mit Lügen durch mein schwieriges Leben bringen, setzte man meine Prüfung aus und verwies mich zur Ableistung des ganzen Referendariats, wie damals in Hessen über eineinhalb Jahre üblich, an die entsprechende Institution.

Studium bei Klafki und anderen

Noch am selben Tag fuhr ich nach meinem Unterricht nach Marburg, schlich mich in eine gerade laufende Vorlesung von Herrn Klafki und bin, kaum dass er seine Ausführungen beendet hatte, zu ihm hingegangen und sagte, dass ich die Didaktische Analyse kennen-, verstehen- und anwenden lernen möchte. Und er meinte: »Dann studieren sie bei mir!« Gesagt – getan. Auch in Frankfurt schaute ich mich bei den Erziehungswissenschaften um, kam mit Prof. Hans Rauschenberger in Kontakt, der Allgemeine Didaktik lehrte und mich in den an der Schule zunehmenden Krisen unterstützte, in der Sozialpädagogik mit Prof. Berthold Simonsohn und mit dem Sigmund- Freud-Institut (SFI), das 1959 auf Anregung von Adorno, Horkheimer und dem Ministerpräsidenten Hessens, Georg August Zinn, wieder gegründet worden war. Die Verknüpfung von Psychoanalyse und Pädagogik, wie sie schon mit der Wiener Schule vor dem Hitlerfaschismus grundgelegt worden war (ich erinnere nur an August Aichhorn, den Begründer der psychoanalytischen Pädagogik, an Fritz Redel, Rudolf Ekstein, Siegfried Bernfeld und Bruno Bettelheim, an René Spitz oder an Erik Erikson; aber auch an den Schweizer Hans Zulliger), war mir hoch bedeutend und für viele meiner Fragen erklärungstüchtig.

Kritik der
Reformpädagogik

Die Befassung mit der Reformpädagogik vor allem der 1920er Jahre war weniger ergiebig, da sie zwar den Gedanken der Humanisierung des Unterrichts im Sinne einer Kindzentrierung und Individualisierung des Lernens sehr gut vertrat, aber bezogen auf Fragen von Lerngemeinschaften und eines kooperativen Lernens im Sinne der Demokratisierung des Schulsystems doch bald dem völkischen Gedankengut sehr nahe war und zur Elitebildung tendierte. In Diskursen zu Fragen der Bedeutung der deutschen Reformpädagogik für die Entwicklung von Integration und Inklusion wird diese viel zu hoch bewertet und die aufgezeigte Problematik kaum beachtet. Keine reformpädagogische Richtung und Tradition vermag Integration bzw. Inklusion im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention zur realisieren. Dazu bedarf es einer neuen Pädagogik, einer ›Allgemeinen Pädagogik‹ und eines an den Gesetzmäßigkeiten menschlicher Entwicklung orientierten Lernens, das fundamental in sozial-kooperativen Zusammenhängen verankert ist und damit einer entsprechenden Didaktik, einer entwicklungslogischen.

Veränderung
der Verhältnisse

Meine Kritik an der Theorie und therapeutischen Praxis der Psychoanalyse bezog sich darauf, dass sie die Ursachen der im Jugend- und Erwachsenenalter aufbrechenden psychischen Belastungen von Krankheitswert, die individualbiografisch bis in die Kindheit zurückverfolgt und freigelegt werden können (eine großartige Erkenntnis), nur unzureichend einer kritischen Analyse der sozialisatorisch wirksam werdenden familiären und milieuspezifischen Einflussfaktoren unterzog und, so sah ich es damals, den Therapieerfolg zu sehr darauf fokussierte, dass die Klienten besser mit ihren Störungen zurecht kommen und wieder arbeitsfähig werden können, ohne die psychische und psycho-somatische Erkrankungen auslösenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu extrapolieren und im politischen Sinne ihre Veränderung einzufordern. Diese Momente kamen mit den Arbeiten von Horst-Eberhard Richter vor allem auch durch die Einbindung medizinischer Soziologie und Psychologie in die von ihm geleitete psychosomatische Klinik an der Universität Gießen und seiner damit verbundenen Forschungstätigkeit zum Tragen. Es wurde mir zunehmend deutlich, dass vor allem soziale Deprivation, bildungsmäßiger Reduktionismus und vielfältige Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung aus der Teilhabe an Kultur, 1976 von Wolfgang Jantzen mit dem Begriff der »Isolation« in den sonderpädagogischen Diskurs eingebracht, ursächliche für die Entwicklungsprozesse und Verhaltensweisen waren, wie sie vor allem durch die Unterbringung und Verwahrung in Heimen und Anstalten hervorgebracht wurden, durch die sie aber behandelt, geheilt oder kompensiert werden sollten – so auch durch eine kategoriale Heil- und Sonderpädagogik; Institutionen – so würde ich heute sagen – der Manifestation bevölkerungs- und biopolitischer Denkweisen. Das verbunden mit der Erkenntnis, dass uns diese Menschen zwar psychopathologische Probleme aufwerfen, sie aber nicht wesensmäßig ›haben‹ und dass sie gesellschaftlich Geächtete sind, wie das Franco Basaglia, der Begründer der Demokratischen Psychiatrie Italiens, deutlich herausgearbeitet hat.

StudentInnen­bewegung

Zur damaligen Zeit wurde in Frankfurt der Widerstand gegen die Adenauer’sche Restauration, die, so meine Wahrnehmung, das Wilhelminische System in der BRD re-etablierte, die Gräuel des Hitlerfaschismus weitgehend unter den Teppich kehrte und ehemalige Nazitäter, die vor Gericht hätten kommen müssen, in z. T. zentralen Ämtern der jungen BRD beschäftigte, deutlich spürbar. Im Juni 1967 war Benno Ohnesorg ermordet worden und ein Jahr später erfolgte das Attentat auf Rudi Dutschke, der schon 1967 zum »Marsch durch die Institutionen« aufgerufen hatte, auf dem ich mich befand. Die Zeit in Frankfurt am Main von 1965 bis 1967 und, weiterhin dort wohnend, die im Studium in Marburg von 1967 bis 1969 wie die darauf folgende Zeit in Gießen, wohin wir dann 1970 gezogen sind, war gleichwohl fachlich wie politisch eine sehr herausfordernde und aktive Zeit. Nur beide Momente zusammen – das Fachliche und das Politische – konnten ermöglichen, die zentralen, auf das Phänomen ›Behinderung‹ und auf als behindert geltende Menschen bezogenen Fragen mit der Zielsetzung ihrer Habilitation (nicht Rehabilitation) und gesellschaftlichen Integration zu Lösungen zu bringen, was in den gegenwärtigen Diskursen zur Inklusion (vor allem in der Schweiz) noch überwiegend tabuisiert und von der eigenen Tätigkeit als Lehrperson distanziert bleibt, als hätte Pädagogik nichts mit Politik zu tun. Pädagogik ist nicht Politik, aber das bedeutendste Politikum einer Gesellschaft. Es ging darum, tiefgreifende Veränderungen und Transformationen ohne Gewalt zu bewirken, der sich ab 1970 die RAF bediente, wenn man die blutige Bader-Befreiung und Flucht von Ulrike Meinhoff in den Untergrund als Beginn des Aufbaus der RAF sehen möchte. Es war ein kollektives Aufbäumen gegen immer dominanter werdende reaktionäre Strukturen, die den Alltag der Menschen definierten und ein Aufbäumen gegen die sich deutlich zeigenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, gegen die Meinungsmache der Springer-Presse (Bildzeitung) und die Dominanz der marktgerechten Aus- und Abrichtung der Menschen im institutionalisierten Schulsystem und der Monetarisierung des Gesundheits-, Bildungs- und Sozialsystems. Die Distanz zur DDR, der Eiserne Vorhang, die Wiederbewaffnung und Aufrüstung der BRD, der irrationale Antikommunismus, der »Kalte Krieg« als solcher fraß viele Gräben in die bundesdeutsche Gesellschaft, die heute tiefer sind denn je. Die Bundesrepublik als Kriegsfeld der NATO im Falle eines Ost-West-Krieges mit einer ersten Auffanglinie am Rhein ließ mich damals – in ein Bild gebracht – auch aus meiner Befassung mit der russischen Geschichte und Literatur heraus betonen, dass uns die russischen Zwiebeltürme näher sein sollten als die US-Amerikanischen Wolkenkratzer, was tiefsten Widerspruch herausforderte. Ich hatte das Glück, Adorno zu hören; die Negative Dialektik war erschienen. Wo immer man sich traf, gab es heftige und kontroverse Debatten, aber die Arbeit an der Schule nahm den absolut größten Zeitraum ein.

Konflikte mit
der Schulleitung

Das verschärfte auch den Konflikt mit Wolfram Wagner, der mit der Albert-Griesinger-Schule hoch Anerkennenswertes geleistet hat, aber – ich sage es einmal so – ihm nicht hörig untergeordnete KollegInnen externalisierte er brutal. Im Rahmen der Arbeit am Lehrplan der Schule für Geistigbehinderte (SfG) am Hessischen Institut für Lehrerfortbildung an der Rheinhardswaldschule in Kassel (HILF) nannte ihn der Rektor der Albert-Schweitzer-Schule in Gießen, Dr. Fritz Siebel, von der ausgehend ich ab 1969 die Martin-Buber-Schule aufbaute, in Bezug auf seinen Konflikt mit mir einen rechtsradikalen Lutheraner (andere Bezeichnungen spare ich hier aus), was die Sache schon recht gut bezeichnete.

Arbeit mit
ausgegrenzten
Sinti und Roma

Meine ›von ganz oben‹ verfügte Versetzung an die Johann-Hinrich-Wichern-Schule, eine Schule für Lernbehinderte in Frankfurt am Main (auch die zuständige Abteilung beim Regierungspräsidenten in Darmstadt, RP, war gegen mich aufgebracht und eingestellt), ermöglichte mir meine zweite Staatsprüfung abzulegen. In Herrn Reinhold Hellwig fand ich einen aufgeschlossenen und verständigen Schulleiter. Ich konnte auf dem Erfahrungshintergrund mit den KasernenbewohnerInnen in Rastatt mit Bewohnern des Bonameser Wohnwagenlagers, Sinti und Roma, in Kontakt kommen, mit Menschen, deren Vorfahren im Faschismus verfolgt und ermordet worden waren, was sie Vertretern staatlicher Institutionen gegenüber sehr vorsichtig machte, um es einmal so auszudrücken. Das konnte nur in Verbindung mit für die Bewohner vertrauenswürdigen Menschen erfolgen. Daraus ergaben sich immense Erfahrungen über Inklusionen in exkludierten gesellschaftlichen Räumen. Das wiederholte sich später ein drittes Mal in Gießen; ich komme noch näher darauf zurück. Die hier nur kurz skizzierten Zusammenhänge sind sehr zentral für die Entwicklung der Integration in Bremen und der pädagogischen Theoriebildung zu einer Schule für alle und eine das ermöglichende Pädagogik und Didaktik.

Studium in Marburg

Meine Bewerbung zum Studium in Marburg, zu dem man vier Semester beurlaubt werden konnte, wenn man sich für fünf Jahre im Schuldienst des Landes Hessen verpflichtete, blieb mehrmals beim RP Darmstadt hängen, bis mich Herr Königstein nach Wiesbaden beorderte, mir dort meine Personalakte in einem versiegelten Umschlag aushändigte, mich nach Marburg zur Immatrikulation schickte, vorangemeldet seitens des HKM beim Rektor der Philipps-Universität und mich mit meiner Personalakte wieder zurück nach Wiesbaden bat. Zum WS 1967/68 begann ich mein Rund-um-die-Uhr-Studium der Heil- und Sonderpädagogik, des Aufbaus eines Studienschwerpunkts Geistigbehindertenpädagogik, der Erziehungswissenschaft, der Medizin und Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Soziologie und tangiert auch der Kriminologie. Verwoben darin die Erarbeitung einer Institutssatzung mit Drittelparität zusammen mit Ernst-Wilhelm Wolff, die über die damals in Berlin zum Eklat führenden Ansätze noch hinausging und den resultierenden strukturellen Veränderungen des Instituts im Kontext seiner Demokratisierung. Streiks, alternative, aber sehr intensive selbst organisierte Lehrveranstaltungen am Institut riefen Herrn Königstein nach Marburg, der mich als Sprecher der Studierenden in einer Vollversammlung anbrüllte: »Und Sie habe ich nach Marburg geschickt!« Oft, wenn ich aufgrund meiner Aktivitäten in Gießen zu ihm bestellt wurde, entließ er mich aus seinem Büro und rief mir, mich verwarnend und disziplinierend, lautstark auf den Fluren des HKM am Luisenplatz in Wiesbaden hinterdrein. Dann bat er mich zurückrufend noch einmal in sein Büro und meinte leise: »Machen sie weiter so«. Die Lehrveranstaltungen von Herrn Dr. Siebel in Marburg waren besonderer Art. Er las uns aus Brecht vor, rezitierte andere Literaten, aus Briefen von Marx und Engels, zitierte Kant und Wittgenstein und breitete zu bestimmten Fragen oft einen Querschnitt durch die gesamte Geschichte der Philosophie vor uns aus. Ich vertiefte vor allem mein schon recht angereichertes Wissen über das Autismus-Syndrom, vor allem durch Frau Dr. Weber an der Kinder- und Jugendpsychiatrie, was dann unter erziehungswissenschaftlichen Aspekten zentraler Gegenstand meiner Promotion bei Herrn Klafki wurde. Die Konflikte am Marburger Institut führten dazu, dass Herr von Bracken sein Rektorat niederlegte und die Universität verließ. Ein schwieriger Prozess von hoher Dynamik, der auch sehr belastend war, zumal Herr von Bracken das Verdienst zukam, sich im Faschismus nicht auf die NSDAP eingelassen zu haben, was zum Verlust seiner Professur zu Braunschweig führte und zu seiner Emigration in die Niederlande. Er arbeitete auch am Godesberger Programm der SPD mit, das die Partei späterhin gründlich verraten hat. Das Studium war und blieb sehr intensiv. Ich war noch bis 1978 an der Philipps-Universität Marburg immatrikuliert – dies mit Erlaubnis des Hessischen Kultusministers unter der Bedingung, dass meine Dienstpflichten nicht darunter leiden dürften. Das taten sie nicht und als ich im Sommer 1978 dem Ruf an die Universität Bremen folgte, hatte ich zusätzlich zu meiner Schulleitertätigkeit an der Martin-Buber-Schule im Umfang von drei Arbeitsjahren für Anliegen des HKM gearbeitet. Herr Königstein versprach mir, ich könne einmal an einem Lehrgang des HILF teilnehmen, ohne etwas aktiv tun und einbringen zu müssen – es kam nie dazu.

Aufbau der
Martin-Buber-Schule

Eines Tages, es dürfte 1968 gewesen sein, bat mich Herr Siebel, ihn nach seiner Lehrveranstaltung nach Gießen zu fahren. Dort angekommen meinte er, wir müssen noch wohin gehen. Und wir gingen zu den heruntergekommenen Randsiedlungen der Stadt, zum Heyerweg, zum Eulenkopf, auf die sogenannte Gummiinsel. Die Bewohner scharten sich um uns und er sagte ihnen, dass ich oft kommen werde und viele Kinder auch zu mir in die Schule gehen können und dort lernen dürfen. Man könne mir vertrauen. Seit dieser Zeit konnte ich dort zu jeder Tages- und Nachtzeit ein- und ausgehen und es war beschlossene Sache, aus der Albert-Schweitzer-Schule heraus die Martin-Buber-Schule aufzubauen, was mit dem Schuljahr 1969/70 mit aller Kraft geschah. Die Namensgebung erfolgte allerdings erst 1971 nach Interventionen durch den Schulträger (das waren die Stadt und der Landkreis Gießen) weil ich betonte, dass die bildungsmäßige Verelendung schwer beeinträchtigter und tiefgreifend entwicklungsgestörter Menschen psychische Euthanasie sei und sie durch ihre Ausgrenzung und Verwahrung unter menschenunwürdigen Bedingungen die Rolle von Ersatzjuden wahrnehmen würden. Auch meine Ernennung zum Schulleiter wurde dadurch um ein Jahr blockiert. Aber das Kultusministerium stimmte schließlich zu und setzte sich gegen den Schulträger durch. Später empfahl mir der FDP-Bürgermeister der Stadt Gießen, mich psychiatrisch untersuchen zu lassen, weil mein Einsatz für behinderte Menschen nicht normal sei. Ich war noch immer Schulleiter als er als Bürgermeister nicht wiedergewählt wurde.

Leben am Rande
der Gesellschaft

Die Randsiedlungen Gießens vertieften meine Erfahrungen, was es bedeutet, gesellschaftlich als nutzlos zu gelten, als überflüssig, als Müll, wie das z. B. Zygmunt Bauman in seinen soziologischen Studien artikuliert – und welche Ächtung daraus resultiert, mit diesen Menschen solidarisch zu sein. Aber das war mir stets ohne Alternative. Der Bau dieser ›Einfachst-Wohnungen‹ ging auf die Zeit zurück, zu der Dr. Siebel Sozialdezernent der Stadt Gießen gewesen war. Damit konnte der diesen Menschen wenigstens ein Dach über dem Kopf und ein Wohnen in festen Mauern ermöglichen, auch wenn viele der Wohnungen ohne Bad waren und es nur Gemeinschaftstoiletten auf den Fluren gab. Dennoch zogen diese Möglichkeiten viele Menschen nach Gießen, um dort wohnen zu können. Der Zusammenhang von Politik und Pädagogik, erhielt für mich in Gießen sozusagen seine definitive Bestätigung; erkenntnistheoretisch und praktisch.

Dialogisches Prinzip als Leitmotiv

Nach Gießen an die Albert-Schweitzer Schule versetzt, begann ich schon von Marburg aus mit dem Aufbau der Martin-Buber-Schule in der Liebigstraße 40. Das Gebäude war das Wohnhaus des Gießener Bürgermeisters gewesen, im Faschismus das Gauleiter-Haus, nach dem Krieg amerikanisches Offizierskasino und schließlich Froebel-Seminar, also Ausbildungsstätte für KindergärtnerInnen. Danach stand das Haus leer – und ist Schule geworden. Die Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte und dem Holocaust brachte mich schon sehr früh zu den Arbeiten von Martin Buber. Die Aussage in seiner Schrift Ich und Du, mit der er sein dialogisches Prinzip grundlegte: »Der Mensch wird am Du zum Ich« wurde mir zum Leitmotiv mit universeller Gültigkeit für meine pädagogische Tätigkeit in allen Domänen und zur umfassendsten Begründung für Integration bzw. Inklusion wie zur zentralen Widerlegung, dass eine kategoriale Segregierung behinderter Menschen in Sonderinstitutionen auch nur entfernt humanwissenschaftlich begründbar und vernünftig wäre. Allerdings zitiere ich die Aussage nie, ohne ihre Umkehrung: Der Mensch wird zu dem Ich, dessen Du wir ihm sind! Bezogen auf die Kinder und Jugendlichen, die für die Aufnahme in die Martin-Buber-Schule anstanden, fand ich in den Arbeiten von René Spitz zum »psychischen Hospitalismus« ein entsprechend psycho-soziales Pendent zu Buber und erstmals – bis heute nicht hinreichend gewürdigt – eine Entwicklungstheorie, die des Begriffs der Pathologie nicht bedarf, sondern anhand vor allem der psycho-sozialen Lebensbedingungen der Menschen alle verhaltensmäßigen Erscheinungen als entwicklungslogisch unter den eben für bestimmte Menschen gegebenen Ausgangs- und Randbedingungen zu beschreiben und zu erklären vermag. Die ganze Psychopathologie enthüllte sich mir im Spiegel dieser Erkenntnisse als normatives Machwerk der Kategorisierung von Menschen nach Nützlichkeitsunvermögen ohne auch nur einen Hauch von Aussagekraft bezüglich pädagogisch relevanter Fragen menschlichen Lernens und menschlicher Persönlichkeitsentwicklung.

Perspektiven der Ausgegrenzten

Es mag zu weit führen, sei aber doch noch erwähnt: Martin Buber legte seine Professur an der Universität Frankfurt am Main schon 1933 nieder und kam so deren Aberkennung durch das Nazi-Regime zuvor. 1938 konnte er dann noch aus Deutschland fliehen; sein Wohnhaus in Heppenheim wurde verwüstet, wo er Ich und Du geschrieben hatte. Bis zu seiner Emigration arbeitete er in der Erwachsenenbildung, worauf sich seine pädagogischen Schriften sehr zentral beziehen. Ein besonderes Zeitdokument ist das Buch von Margarete Buber-Neumann Als Gefangene bei Stalin und Hitler. Sie war 1922–1929 mit dem Sohn Rafael von Martin Buber verheiratet, trat 1926 in die KPD ein und wurde mit ihrem Mann Heinz Neumann, Mitglied des Politbüros der KPD, aus der Schweiz nach Moskau abgeschoben. Ihr Mann fiel den Stalin’schen Säuberungen zum Opfer, sie wurde der Spionage verdächtigt, zu fünf Jahren Lagerhaft in Kasachstan verurteilt, 1940 an Deutschland ausgeliefert und dort als Kommunistin bis 1945 im KZ Ravensbrück inhaftiert. Man kann aus Lehrbüchern kaum mehr lernen als aus den Lebensgeschichten von Menschen, die in den verschiedensten Gesellschaftssystemen ausgegrenzt und aus dem Recht ent-setzt werden. Auch eine ›selektierende Inklusion‹, wie sie derzeit dominiert und die Menschen mit schweren Beeinträchtigungen und tiefgreifenden Entwicklungsstörungen nicht in Regelsysteme aufnimmt und sie weiterhin in Sondersysteme zwangsinkludiert, ent-setzt Recht – auch das der UN-BRK.

Deinstitutionalisierung

In Gießen lernte ich u. a. auch Wolfgang Jantzen kennen; ich habe das schon angedeutet. Er war Lehrer an der Anna-Freud-Schule, Schule für Lernbehinderte, in Lich. In Marburg hatten wir im Kontext der »Heimkampagne« und deren Ausdehnung auf Hessen die »Heilpädagogische Aktionsgemeinschaft (HAG)« gegründet, um die despotische und unwürdige Behandlung der sogenannten Fürsorgezöglinge in den »Zuchthäusern der Fürsorge« aufzudecken, die nur eine andere Seite der Verwahrung und Verwahrlosung geistig- und mehrfachbehinderter Menschen in den Landeskrankenhäusern und psychiatrischen Abteilungen darstellte und beide Systeme wiesen faschistoide Funktionsweisen auf; auch das im Sinne des Marsches durch die Institutionen. Das war auch eine Art Gegenmodell zu der sich ab 1970 entwickelnden RAF. Ich lernte damals auch Wienke Zitzlaff kennen, Schwester von Ulrike Meinhof, Rektorin einer Schule für Lernbehinderte im Landkreis Gießen, was über viele Jahre zu einer intensiven Zusammenarbeit und freundschaftlichen Verbundenheit führte.

Notwendigkeit politischer Tätigkeit

Das geschah vor allem im Rahmen der Vorstandstätigkeiten des Landesverbandes Hessen e. V. (LV-H) des damaligen Verbandes Deutscher Sonderschulen e. V. (VDS), die wir aus unserer Vorstandstätigkeit in der »Region Mittelhessen« des LV-H heraus übernommen haben. Ich baute im Rahmen dieser Tätigkeit die Zeitschrift Behindertenpädagogik und Integration auf und war auch als Referent für Geistigbehindertenpädagogik auf Bundesebene des Verbandes tätig. Auch das ein Marsch durch die Institutionen. Noch in Frankfurt am Main wohnend, galt es auch dort, vielfältige Aktivitäten zu realisieren. Im Rahmen meiner Lehrveranstaltungen versuchte ich den Studierenden immer zu vermitteln, dass ihr Studium und ihre spätere Tätigkeit als BehindertenpädagogInnen, ob nun in segregierenden oder inkludierenden Räumen, zu 50% eine hoch fachliche und zu 50% eine intensiv politische Tätigkeit ist, dass aber in beiden Bereichen mindestens zu 100% gearbeitet werden muss.

Aufbau eines eigenen
Publikationsorgans

Die Umwandlung des »Mitteilungsblattes des LV-H« im VDS zu einer eigenständigen Zeitschrift und im weiteren Verlauf zur »Vierteljahresschrift für Behindertenpädagogik in Praxis, Forschung und Lehre und Integration Behinderter« wie überhaupt die kollektive Leitung des Landesverbandes in unseren gleichberechtigten funktionsteiligen Vorstandsfunktionen löste nicht nur auf den Bundesverband bezogen heftige Reaktionen aus, der mit der Zeitschrift für Heilpädagogik (ZfH) ein Alleinvertretungsrecht des Verbandes in Bezug auf ein Publikationsorgan für sich in Anspruch nahm, sondern auch im LV-H selbst. So u. a. derart, dass die Bewerbung von Wolfgang Jantzen auf eine Stelle am Institut in Marburg durch den sogenannten Gellnhäusener Kreis nicht nur hintertrieben wurde, sondern bis ins HKM und den Hessischen Landtag hinein seine Entfernung aus dem Dienst gefordert wurde. Als ich schon längst an der Universität Bremen lehrte, in Hessen aber noch am HILF zusammen mit dem dort tätigen Dr. Karl-Friedrich Vetter, ehemals Kollege an der Albert-Schweitzer-Schule in Gießen, die »Zusatzausbildung für SozialpädagogInnen und ErzieherInnen« durchführte, wurde ich ins HKM zitiert, weil dort eine Anzeige gegen mich und meine Tätigkeit in Hessen eingegangen war, aus der ich zu entfernen sei, weil ich für die PDS kandidiert hätte. Mit der Zeitschrift Behindertenpädagogik konnte ein Forum eröffnet und Entwicklungen im Fach eine Plattform ermöglicht werden, die durch die traditionalistischen bis reaktionären Positionen in den verschiedensten Fachvereinigungen überwiegend negiert und blockiert wurden: Fragen einer subjekt- und gesellschaftswissenschaftlichen Neubestimmung des Phänomens der »Be-Hinderung« als soziale Konstruktion, der Entwicklung der Demokratischen Psychiatrie, der Deinstitutionalisierung des Behindertenbetreuungswesens und der Integration oder der »Neuen Euthanasie und Lebenswertdebatte«, um nur einige wenige zu nennen.

Integrierte
Gesamtschule

Nicht unerwähnt bleiben darf der in Hessen durchgeführte flächendeckende, schulformübergreifende Versuch der Etablierung einer integrierten Gesamtschule, in Bezug auf den wir zumindest die Integration der als lernbehindert, sprachbehindert und verhaltensgestört geltenden Kinder und Jugendlichen forderten. Es wurde aber nur von einem dreigliedrigen Schulsystem ausgegangen; die Sonderschulen als viertes Element des gegliederten Systems und deren Abschaffung waren nicht mitgedacht. Der Versuch kam durch konservative Kräfte aus vielen Bereichen der Gesellschaft sehr schnell unter großen politischen Druck und die Lehrerschaft selbst war zu wenig in der Lage, diesem Druck argumentativ zu widerstehen und dem pädagogisch-didaktischen Anspruch einer integrierten Gesamtschule zu entsprechen. Die Eltern blieben verunsichert und dem gegliederten System verpflichtet. Aber der Gedanke der »Integration« war grundgelegt und wurde konsequent weiter gedacht und realisiert. Die Denomination meiner Stelle in Bremen wies als erste und einzige die »Integration Geistigbehinderter« aus. Der Gesamtschulversuch ist gescheitert. Noch heute ist die integrierte Gesamtschule durch ihre Stigmatisierung als »Einheitsschule«, was einen dummen Antikommunismus revitalisiert, nahezu tabuisiert. Längst ist vergessen, dass nach Ende des Zweiten Weltkriegs für Deutschland eine Einheitsschule und eine einheitliche Lehrerbildung vorgesehen war, weil man sehr richtig die autoritären Staatssysteme und den Autoritarismus, der das Schulsystem ausgehend von Preußen über das Kaiserreich hinweg zutiefst prägte, als eine zentrale Quelle der Ermöglichung eines das ganze deutsche Volk erfassenden Faschismus begreifen musste. Ich erinnere dazu nur an die entsprechenden Analysen Adornos. Aber der massive politische Druck der rechten Kräfte, der Kirchen, der Gymnasialverbände, eben aller sich nach 1945 schnell gegen dieses Ansinnen verschwörenden Kräfte, obsiegte. Dass eine Demokratie der Pluralität eines gegliederten Bildungssystems bedürfe, war wohl auch für viele gesellschaftlichen Kräfte überzeugend und Plattform, ein ständisch gegliedertes System im Kontext der Adenauer’schen Restauration zu reetablieren, an dem wir uns auch in Sachen Integration und Inklusion bis heute die Zähne ausbeißen. Gerade die SPD hat nach dem Bruch mit dem Godesberger Programm und spätestens nach Willi Brandt in einer Weise mit ihrer Geschichte und ihren sozialen und demokratischen Errungenschaften gebrochen, dass es mir Übelkeit erzeugt.

Behindertenpädagogik in Abgrenzung zur Heil- und Sonderpädagogik

Die Entwicklung der Theoriebildung zur »Behindertenpädagogik«, verbunden mit den pädagogischen, didaktischen und therapeutischen Implikationen war zentraler Gegenstand der Arbeit in Bremen. Wolfgang Jantzen hatte 1976, wie schon erwähnt, den Begriff der »Arbeitskraft minderer Güte« als für Behinderung unter kapitalistischen Produktionsbedingungen kennzeichnend und den der »Isolation« von der Aneignung des gesellschaftlichen Erbes als deren sozio-psychologische Kennzeichnung in die Diskussion gebracht. Bis heute wird »Behindertenpädagogik« fälschlicherweise mit »Heil- und Sonderpädagogik« synonym gebraucht, weil, so meine Auffassung, negiert oder nicht gewusst wird, dass die »Behindertenpädagogik« als Theorie und Praxis, von der spinozinischen Denktradion herkommend, philosophisch dem historischen und dialektischen Materialismus, also einer monistischen Theorie verpflichtet ist und nicht, wie die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik ausweist, dem Descart’schen Dualismus einer getrennten Existenz von Materie und Geist unter dem Primat des Geistes. Aber wieder zurück: Ich habe schon erwähnt, dass ich 1969 nach Abschluss des Studiums der Sonderpädagogik Marburg nach Gießen ging und nicht mehr nach Frankfurt am Main zurück, wo man mich, wie berichtet, massiv bekämpft hatte.

Woran lag das?

Ich denke, allein die angedeuteten Auseinandersetzungen an der Abert-Griesinger-Schule zeigen das auf.

Also politische Differenzen?

Deinstitutionalisierung und Unterricht in der Sonderschule als Vorstufe zur Integration in die Regelschule

Sicher politische, die nicht offen, sondern nur unterschwellig auf der persönlichen Ebene abgehandelt wurden; aber auch zunehmend fachliche. Auch wenn es nach Außen als Widerspruch erscheinen mag, dass ich in Gießen eine »Schule für Praktisch Bildbare« aufbaute, war klar, dass diese zu erübrigen sein wird, wenn es gelingt, die Schüler in das reguläre Schulsystem zu integrieren, was allem voran eine gesellschafts- und bildungspolitische Angelegenheit ist, die nicht durch pädagogische Mittel oder Tricks bewältigt werden kann. Dessen ungeachtet ist sie aber auch eine hoch fachliche, die nicht nur den Prozess der pädagogischen Bewältigung der Integration/Inklusion zu leisten hat, sondern auch ins politische Feld hinein überzeugen können muss. Damals ging es vorrangig darum, diese Menschen aus der Anstalts- und psychiatrischen Verwahrung zu befreien und ihren Anspruch auf Erziehung und Bildung im bestehenden gegliederten Schulsystem durchzusetzen. Das war nur auf diesem Weg möglich. Hessen war das erste Bundesland, das die Schulpflicht für als geistigbehindert klassifizierte Menschen einführte und ihren Unterricht durch Lehrpersonal sicherte und nicht, wie in anderen Ländern, z. B. durch ErzieherInnen oder SozialpädagogInnen und allenfalls die Schulleitung eine Lehramtsqualifikation hatte. Interessant ist die Erfahrung, dass die gegen die Einrichtung von Schulen für Geistigbehinderte vorgebrachten Argumente ihrer Struktur nach denen sehr, sehr ähnlich waren, wie sie später gegen deren Integration in Regelschulen vorgebracht wurden. Ihre Funktion war, diese Kinder und Jugendlichen vom Bildungssystem ausgeschlossen zu halten und bis heute werden als behindert kategorisierte Kinder in Sonderschulen »gefördert«. Von »Bildung« ist da keine Rede. Schon damals sprach ich von »psychischer Euthanasie«, wenn diese Menschen von Bildung ausgeschlossen werden; eben auch in der Begründung für die Namensgebung der Schule in Gießen. Ich habe ja schon darauf verwiesen.

Aufbau der vor- und nachschulischen Einrichtungen

Parallel zur Entwicklung der Schule baute die Lebenshilfe einen Sonderkindergarten auf und eine Werkstatt für Behinderte, um auch im vor- und nachschulischen Bereich eine Teilnahme an Bildung und Arbeit zu ermöglichen, bei allen Fragezeichen, die da zu setzen waren und sind. Erschreckend ist nicht, dass dies damals ein Gebot der Stunde war, sondern dass dies selbst zehn Jahre nach der Ratifizierung der UN-BRK noch immer der Fall ist.

Konflikte mit der Schulaufsicht

Ich nahm damals auch junge Erwachsene in die Schule auf, die nicht mehr schulpflichtig waren, aber bis dato in ihrem Leben nie ein Bildungsangebot erfahren konnten. Das entgegen den bestehenden rechtlichen Bestimmungen, was stets zu Konflikten mit Schulträger und Schulaufsicht führte und schließlich beim RP in Darmstadt bzw. im HKM in Wiesbaden ›ausdiskutiert‹ werden musste, wie ich das schon angedeutet habe. Es verging oft keine Woche, in der ich nicht ins HKM zitiert, belehrt, verwarnt – und meist in meinem Tun bestätigt wurde. Auch die Einrichtung eines Ganztagsbetriebs an der Schule war ein Politikum besonderer Art, um zumindest den Kindern aus den Randsiedlungen einen stabilen Tagesverlauf garantieren zu können; d. h. auch ihre Ernährung, Körperpflege und Kleidung abzusichern.

Aufbau der Martin-Buber-Schule

Das Haus Liebigstrasse 40 war besenrein und leer. Selbst Tische und Stühle für die ersten 42 Kinder borgten wir von anderen Schulen, an denen sie ausrangiert waren. Nötiges Arbeitsmaterial kaufte ich z. T. ohne einen dafür seitens des Schulträgers vorliegenden Etat. Die Eltern, in Bezug auf viele von ihnen musste auch grundlegende Überzeugungsarbeit für einen Schulbesuch ihrer Söhne und Töchter geleistet werden, standen bald einheitlich hinter solchen Erfordernissen – auch hinter der Namensgebung der Schule. Das Schild »Martin-Buber-Schule«, das nach der Durchsetzung des Namens am Haus angebracht wurde, war mehrmals in der Nacht abgenommen und schließlich über einige Zeiträume hinweg von den an der Schule tätigen Zivildienstleistenden bewacht worden. Einige SchülerInnen konnten wir nur in die Schule aufnehmen, nachdem wir für sie Vormundschaften übernommen hatten und dadurch auch ihren Aufenthaltsort bestimmen konnten. Das heißt, wir holten sie aus ihrer Verwahrung in die Schule und sie kamen nicht mehr in die alten Verhältnisse zurück. Das mündete immer in politisch relevante Konflikte, aber die fachliche Begründung der Maßnahmen war so solide, dass sie den Anfechtungen – nicht selten auch juristischer Art – Stand gehalten haben.

Arbeit mit SchülerInnen mit Autismus

Allein die schon angemerkte Befassung mit den Forschungen von René Spitz zum psychischen Hospitalismus, aber auch die Arbeit an einem subjektwissenschaftlichen Verständnis des frühkindlichen Autismus und des Asperger-Syndroms war dafür grundlegend. Damals galten die später als tiefgreifend entwicklungsgestört bezeichneten Kinder als nicht beschulbar (heute spricht man von Autismus-Spektrum-Störung, wobei mir der englischsprachige Begriff der »autism-spectrum-disorder« zutreffender erscheint, aber das wäre ein eigenes Diskussionsfeld, denn ›disorder‹ hat vielschichtige Bedeutungen) und sie erfüllten natürlich auch die damals geltenden Einschulungsbedingungen nicht. An der MBS waren bald zehn Kinder mit Kanner-Syndrom, eines mit Asperger-Syndrom, wie von beiden Psychiatern in den frühen 1940er Jahren beschrieben. Im deutschen Sprachraum machte erst 10 Jahre später ein Artikel von Fischer darauf aufmerksam; was den üblichen Rückstand in Deutschland den internationalen Entwicklungen gegenüber gut verdeutlicht. Wir waren die erste Schule, die diese Kinder uneingeschränkt aufgenommen haben. In Bremen fasste etwas später Herr Cordes diese Kinder in einer Sonderklasse zusammen.

Dissertation

Mit meiner Dissertation begründete ich einen erziehungswissenschaftlichen Zugang zum Autismus auf der Basis einer materialistischen Begründung der Lern- und Entwicklungsfähigkeit dieser Kinder. Den Medizinern war die Arbeit nicht medizinisch genug, den Heil- und SonderpädagogInnen war sie zu psychologisch und zu soziologisch. Ich wollte aber bewusst in den Erziehungswissenschaften und nicht in der Heil- und Sonderpädagogik promovieren, da mir schon damals deutlich vor Augen stand, dass die Parallel-Systeme der Heil- und Sonderpädagogik und der Regelpädagogik zu überwinden und in einer fundiert human- und subjektwissenschaftlich begründeten Allgemeinen Pädagogik aufzuheben waren, was bedeutet, das selektierende, also das exkludierende und zwangsinkludierende Bildungssystem zu überwinden. Selbst heute ist man von einer Diskussion dessen noch weit entfernt und versucht, was ich immer wieder aufzeige, die (Zwangs-)Integration der Inklusion in die Segregation; ein Paradoxon. Wolfgang Klafki nahm die Arbeit an, was ihn als weit ausgreifend denkenden und im Sinne der Aufklärung zu verstehenden liberalen Erziehungswissenschaftler auswies und ich konnte 1978 die Promotion abschließen.

Ausgrenzung von SchülerInnen mit Autismus heute

In Folge meines Wirkens in Sachen ›Autismus‹ konnte immerhin verhindert werden, dass in der BRD eine Sonderschule für Kinder und Jugendliche mit Autismus-Syndrom eingerichtet wurde. Heute, das ist ein sehr bedenklicher Sachverhalt, zählen in Bezug auf die schulische Inklusion nur die als high-leveled geltenden Kinder mit Asperger-Syndrom; die rund zwei Drittel der von einer autistischen Persönlichkeitsentwicklung betroffenen Kinder mit Kanner-Syndrom sind im Inklusionismus ohne Stimme, bleiben im Dunkel inklusionsideologischer Diskurse und unsichtbar. Und jene aus dem Feld des high-functioning-autism werden, so meine Erfahrungen, aufgrund dessen, dass Lehrpersonen ihre Verhaltensweisen sich weder hinreichend erklären noch sie verstehen können, wieder aus sogenannten inklusiven Lernsettings entfernt und in Sonder- oder Spezialklassen verwiesen, die in der Regel das von ihnen für diese Kinder Erwartete auch nicht zu leisten vermögen. Man hegt dort oft einen Bildungsreduktionismus verbunden mit hohen Graden an sozialer Deprivation und toleriert die Verhaltensweisen als der klassifizierten Behinderung inhärent. Für die betroffenen Kinder und ihre Familien sind das pädagogisch unverantwortlich dramatische Geschehnisse. Die Aufnahme schwerstmehrfach beeinträchtigter oder tiefgreifend entwicklungsgestörter Menschen mit hoch herausfordernden Verhaltensweisen, die hinsichtlich ihrer Affekte sehr labil sind und sie kaum zu kontrollieren wissen, die sich beißen, schreien, toben oder in wenigen Minuten einen Raum völlig durcheinander bringen können, erfordert nicht nur, diese Handlungen als Ausdruck der Kompensation über lange Zeiträume erfahrener Isolation zu begreifen oder sie als Folgen von Traumatisierungen und als entwicklungslogisch zu verstehen, sondern auch, über angemessene Handlungskonzepte zu verfügen. Dies im Sinne eines Verständnisses von Unterricht als Formen eines Lernens, das Entwicklung induziert, wie ihn Vygotskij im Kontext der »Kulturhistorischen Schule« versteht. Einen solchen Unterricht vermag ein isolierter Fächerunterricht nicht zu leisten. Er bedarf eines durchgehenden Projektunterrichts. Als ich damals in Erkenntnis dessen, dass Stereotypien durch rhythmische Tätigkeiten in Handlungen, Sprache oder Denken das zentrale Nervensystem triggern und damit seine Funktionen stabilisieren und Stress reduzieren und sie zwischen Anforderungen an die betroffenen Kinder und Jugendlichen oder nach der Aufnahme eines Blickkontaktes zugelassen und eben nicht unterbunden habe, löste das vehementen Widerspruch aus.

Ausgrenzung im Fach

Auch innerhalb der Entwicklung fachlicher Dimensionen gab es Widerstände, heftige Auseinandersetzungen und Diskreditierungen. Ich habe massive Ausgrenzungen erlebt. Das drückt sich für mich auch darin aus, dass selbst Begriffe, die ich eingeführt habe, in z. T. wörtlicher Übernahme von damit verbundenen Ausführungen und Definitionen, nicht zitiert werden oder in einschlägigen Schriften, die Themen behandeln, zu denen ich grundlegende Arbeiten vorgelegt habe, nicht aufgenommen oder erwähnt werden, wie das auch für Wolfgang Jantzen zutrifft. Das hat mit wissenschaftlicher Arbeitsweise nichts zu tun; allenfalls mit Borniertheit und Dummheit, die es nicht zu entschuldigen gilt.

Schule ohne Einschulungsbedingungen

Die mit der MBS geschaffene Institution Schule definierte sich nicht durch das Gebäude, ihre Organisationsformen oder Strukturen, sondern durch die Art und Weise des Umgangs des Kollegiums mit der Schülerschaft und aller an der MBS untereinander. Das ist heute in Sachen Inklusion an den Schulen im Kern nicht anders zu gewichten. Es war ein eisernes Gebot an der MBS, dass kein Kind wegen Art oder Schweregrad seiner Beeinträchtigungen und Entwicklungsstörungen nicht aufgenommen worden wäre oder diese Schule z. B. mittels einer Psychiatriesierung hätte verlassen müssen, weil man sie oder ihn z. B. aufgrund von herausfordernden Verhaltensweisen für untragbar eingeschätzt hätte. Die heute grassierende »selektierende Inklusion«, die mit scheinbar wissenschaftlichen Argumentationen oder Erfahrungswerten, die sich u. a. mit der so beliebten Evidenzbasierung und/oder mit »Best-Practice-Modellen« zu rechtfertigen scheinen, sind fadenscheinig und mir unerträglich. Ausgrenzung im Namen der Inklusion – um das zu rechtfertigen und zu praktizieren, muss man anscheinend schon Pädagogik studiert haben, wie sie heute an den Universitäten und Hochschulen angeboten zu werden scheint, sonst käme man wohl nicht auf eine solche Idee. Die damals bestehenden Einschulungsbedingungen für die Schule für Praktisch Bildbare, wie sie auch Prof. Heinz Bach an der Universität Mainz in seinem Buch zur Geistigbehindertenpädagogik von 1968 vertrat (Prof. Otto Speck an der Universität München sah sie in seinem Buch von 1970 immerhin kritisch und relativierte sie), die die Mehrzahl der SchülerInnen der MBS nicht erfüllt hätten, konnten im Rahmen meiner Arbeiten im Auftrag des HKM später aufgehoben werden. Im Konfliktfall verlassen nicht die Kinder die Schule, sondern Lehrpersonen oder andere MitarbeiterInnen. Einen solchen Grundsatz würde der gegenwärtige Inklusionismus weit von sich weisen. Getreu dem Prinzip der Regionalisierung galt dieser Grundsatz auch in Bremen. Für ein Verständnis von Inklusion müsste er schon allein aus berufsethischer Perspektive selbstverständlich sein. Es gibt keine Kinder für LehrerInnen, sondern nur LehrerInnen für Kinder. Die MBS zählte bald 86 SchülerInnen, von denen eine Mehrheit noch die Kontrolle über Blase und Darm erlernen mussten – und das bei nur drei Toiletten im Haus. Später waren es über 140 SchülerInnen, die auch in auf dem Schulhof aufgestellten Baracken und in einem benachbarten Gebäude unterrichtet wurden. Um es zu vergegenwärtigen: Damals galt es, den Nachweis zu erbringen, dass diese Kinder lernfähig sind, dann, dass sie bildungsfähig und schließlich auch schulbildungsfähig sind. Die Standarddiagnosen, die mir damals für fast alle unsere SchülerInnen in die Hände kamen, lauteten lapidar: Schwachsinn ungeklärter Genese vom Grad der Idiotie (den »Schwachsinn«, damals noch ein Oberbegriff, teilte man nach Schweregraden in Debilität, Imbezillität und Idiotie ein).

Einbeziehung schwerst mehrfach beeinträchtigter Kinder

Vor allem die Aufnahme schwerst mehrfach beeinträchtiger Kinder (sie wurden später auch als intensiv und komplex behindert bezeichnet) führte seitens der Mediziner oft zu der Warnung, dass diesen Kindern ein Schulbesuch nicht zuzumuten sei und sie versterben könnten. Ich konnte dagegen erfahren, dass sie auflebten und Entwicklungsprozesse in Gang kamen, die ich selbst nicht so weitgehend erwartet hätte, wie sie im Laufe der Zeit eingetreten sind, was sich mit der Entwicklung der Integration in den Kindertagesheimen in Bremen vergleichbar wiederholte; auch das eine interessante Parallele. Diese Kinder leben heute noch, wären aber möglicherweise in ihrer Isolation weiter verkümmert oder daran verstorben. Vergleichbare Erfahrungen machte auch der Kollege Andreas Fröhlich an seiner Schule in Landstuhl. Was ist Schule? Für mich ein Ort, an dem im Sinne Vygotskijs ein Lernen organisiert wird, das Entwicklung induziert, aber nicht zwangsläufig an diesem Ort stattfindet; vielleicht sogar am allerwenigsten.

Substituierend Dialogisch-Kooperative Handlungs-Therapie

In diese Zeit fällt auch die Entwicklung der von mir so bezeichneten SDKHT (Substituierend Dialogisch-Kooperative Handlungs-Therapie), eine basistherapeutische und -pädagogische Konzeption zur Gewinnung einer neuen Lebensperspektive, wo diese für die ›aufgegebenen‹ Menschen völlig verloren gegangen war und die, konnte sie wieder gewonnen werden, im Sinne eines Lebensplans pädagogisch und assistierend weiterhin zu begleiten war. Ab 1978 konnte ich diese Konzeption in Bremen auch im Rahmen einer stationären Arbeit in den Fachräumen des Studiengangs fortführen und vertiefen. Wiederum mit Menschen, die als »austherapiert« galten und »aufgegeben« worden waren. Sie wurden als »lernunfähig«, »therapieresistent«, »rehaunfähig«, zu versorgende »Pflegefälle«, »selbstgefährdend«, »fremdgefährdend« und »gemeinschaftsunfähig« bezeichnet. Wir arbeiteten mit Menschen im Koma und Wachkoma und mit schweren mentalen Beeinträchtigungen; auch mit solchen im Grenzbereich zur Psychose. Mit dieser Arbeitsweise konnten wir z. B. auch schwer autistische Kinder in den Regelunterricht integrieren, wie das vor allem in Wien in Zusammenarbeit mit dem Stadtschulrat für Wien, Herrn Tuschel, und der Integrationsberatungsstelle, der »Autistenhilfe« Wien und dem Leiter der neuropsychiatrischen Abteilung für Kinder und Jugendliche des neurologischen Krankenhauses Rosenhügel, Wien, Herrn Prof. Berger, ab Juni 1996 in einer in Europa einmaligen Weise realisiert werden konnte. Erfahrungen damit und die Grundlagen dazu hatte ich 1978 schon im Gepäck auf dem Weg nach Bremen. Diese Arbeitsweise beruht auf dem Zusammenwirken von mindestens zwei bzw. drei Personen mit einer Klientin oder einem Klienten, wobei die Person 2 in engen synergetischen Zusammenhängen die/den Klientin/en in Bezug auf ihre/seine anzunehmenden Entwicklungsmöglichkeiten, die ihr oder ihm alleine noch nicht verfügbar sind, substituiert. Eine Person 1 arbeitet im Vis-à-vis-Kontakt mit der/dem Klientin/en z. B. in Alltagssituationen und eine Person 3 strukturiert das Lernfeld oder fungiert als Modell. Dies im Zusammenhang mit der arbeitsteiligen Erstellung eines Produkts in einer für alle gleichberechtigten kommunikationsbasierten Kooperation; also an einem Gemeinsamen Gegenstand. Das alles der Erkenntnis geschuldet, dass kein Mensch wegen Art und Schweregrad seiner Behinderung aus Bildungsprozessen auszuschließen ist und er, wie auch immer personal oder apparativ unterstützt, lernen kann, solange er lebt – wenn er in Lernfelder und Lerngemeinschaften eingebunden ist, die kommunikationsbasierte Kooperationen ermöglichen.

Auseinandersetzung mit Anstalten

Ausgehend von der HAG wirkten wir auf den verschiedensten Ebenen auch weit in das hessische Heimsystem hinein. Ich denke z. B. nur an Zustände in manchen Häusern des Hessischen Diakoniezentrums Hephata oder wie wir sie später in Bremen z. B. im Evangelischen Hospital Lilienthal oder in den Neuerkeröder Anstalten vorgefunden haben. Vor allem galt es, den Kindern einen Schulbesuch zu ermöglichen und den schon Erwachsenen die Möglichkeit, in einer Werkstatt arbeiten zu können. Bildung und Arbeit waren als Menschenrechte aufzufassen, so meine Haltung schon damals. Wie man heute mit den Vorgaben der zu nationalem Recht gewordenen UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) eine ›selektierende Inklusion‹ praktizieren kann, erscheint mir derart widersprüchlich und anachronistisch, wie es damals die an eine Aufnahme in eine Schule für Geistigbehinderte geknüpften vorauszusetzenden Bedingungen seitens der Kinder waren. Auch das sind Zusammenhänge, die im Ahistorizismus des Zeitgeistes dem Inklusionismus wohl nicht mehr verfügbar oder bedeutungslos geworden sind. Was sich aber zeigen dürfte, um noch einmal auf Ihre erste Frage zurückzukommen, ist die ungebrochene Kontinuität meiner Exklusions- und Inklusionserfahrungen in Kindheit und Jugend, dann das Ringen um den Nachweis der Lern- und Bildungsfähigkeit schwer und schwerst beeinträchtigter und entwicklungsgestörter Menschen mit dem Ziel, ihnen Zugang zu Bildung zu ermöglichen und schließlich die Entwicklung der Integration in Bremen in Kombination mit dem erforderlichen Umbau der Regelsysteme im Sinne der Inklusion.

Studiengang Behindertenpädagogik in Bremen

Der Studiengang Behindertenpädagogik an der von drei SPD-regierten Länder (Bremen, Hessen und Nordrhein-Westfalen) getragenen Reformuniversität Bremen wurde auf der Basis vorangegangener Gutachten von Wolfgang Jantzen 1974 eröffnet und aufgebaut. Dann kam Barbara Rohr als zweite Professorin nach Bremen und im Juni 1978 schließlich ich – mit der Besonderheit in der Denomination meiner Professur, die die »Integration Geistigbehinderter«, später ergänzend auch die schwerst Entwicklungsgestörter einforderte. Das Lehramtsstudium – später kam das Diplomstudium der Behindertenpädagogik dazu – war als Projektstudium konzipiert.

Projektstudium

Es gab kein Lehramt Behindertenpädagogik wie ansonsten in Bezug auf die Heil- und Sonderpädagogik in allen anderen Bundesländern üblich, sondern studiert wurde ein Studienschwerpunkt (Primarstufe und Sekundarstufe I und II)
mit einer Ergänzungsprüfung in einer zweiten Stufe, in dem Behindertenpädagogik ein Fach neben einem weiteren Studienfach war. Aus diesen Erfahrungen heraus entwickelten wir auch den Diplomstudiengang als Projektstudium. Beide Studiengänge starteten mit einem Einführungssemester (»Integrierte Einheit Lehrerbildung« und »Orientierungsphase« für den Diplomstudiengang), das einen Überblick über das zu studierende Fach und eine Einführung in die universitären Institutionen und das universitäre Arbeiten zum Gegenstand hatte. Darauf aufbauend gab es zwei je dreisemestrige Projekte, in die alle von der Studien- und Prüfungsordnung geforderten Aufgaben, so auch die Diagnostik, das Gutachten und die Praxisphasen integriert und eng aufeinander bezogen waren. Auch die Staatsexamens- bzw. die Diplomarbeit ergab sich überwiegend aus diesen Zusammenhängen. Das Projektstudium erlaubte über seine drei Semester hinweg auch sehr stabile Kohorten, was intensiv arbeitende AGs der Studierenden ermöglichte und über die Studienanforderungen im engeren Sinne hinaus auch weit in die Region hineinwirkte. Entsprechend der Landesverfassung der Freien und Hansestadt Bremen hätte es keine separaten Sonderschulen geben dürfen. Das Stufen- und nicht schulformbezogene Lehramtsstudium ermöglichte den Einsatz der LehrerInnen mit dem Studienfach ›Behindertenpädagogik‹ entsprechend in allen Schulformen, was sich für die Entwicklung der Integration als sehr vorteilhaft erwies. Die MBS zu verlassen, deren Neubau gerade beschlossen worden war, fiel nicht leicht. Aber die Aufgabe, junge Menschen für die Arbeit mit schwerst beeinträchtigten und tiefgreifend entwicklungsgestörten, langjährig hospitalisierten und oft schwer traumatisierten Menschen aller Altersstufen zu gewinnen und sie solide darauf vorzubereiten, mit ihnen so weit als nur möglich in regulären Lebensfeldern zu arbeiten, wurde zum dominierenden Motiv.

Integration im Kindergarten

Bald nach der Aufnahme meiner Tätigkeit in Bremen kam es mit dem Anliegen der Realisierung der Integration zu einer intensiven Kooperation mit dem Landesverband Evangelischer Kindertagesstätten der Bremisch Evangelischen Kirche (BEK), den Frau Dr. Wehrmann leitete. Dabei war von den ersten Arbeitskontakten an sehr klar, dass die Integration in den Kindertagesheimen in strenger Orientierung am Prinzip der Regionalisierung zu erfolgen hatte, was bedeutet, dass jedes Kind unabhängig von Art und Schweregrad seiner Behinderung in den Kindergarten seines Sprengels aufgenommen wird. Auch war nach Versuchen, die Integration auf schulischer Ebene zu starten, was an immensen Widerständen allein schon der Sonderschulen scheiterte, überdeutlich geworden, dass Integration dort und dann einsetzen und beginnen muss, wo die Exklusionen und die Separation beginnen – und das ist spätestens beim Eintritt in den Kindergarten der Fall, aber möglicherweise auch schon dort, wo Kinder in Krabbelgruppen oder Krippen zusammenkommen. Diese von mir stets vertretene und propagierte Erkenntnis, die Integration bezogen auf das Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtssystem von unten her zu beginnen, fand kaum Gehör. Viele der Probleme der schulischen Integration sind als Artefakte des Systems, aber auch der Segregierungserfahrung der Schüler im Kindergartenalter zu bewerten, was unsere Arbeit in Bremen sehr deutlich zu erkennen gab.

Zusatzausbildung
für ErzieherInnen und andere
MitarbeiterInnen

Die BEK unterhielt mehr als 50% der Kindergärten in Bremen, die Stadtgemeinde, die sich den Entwicklungen bei der Kirche bald anschloss, mit wenigen Ausnahmen, den restlichen Anteil. Die Erfahrungen der Eltern mit der Kindergartenintegration nahmen ihnen auch die Ängste bezogen auf eine schulische Integration und ermutigte sie, diese dann nach drei Jahren für ihre behinderten wie nichtbehinderten Kinder auch konsequent einzufordern. Das alles war bei Weitem kein Selbstgänger. Um es vielleicht in ein Bild zu fassen: Wir haben über Jahre in den verschiedensten Gremien, von Kirchengemeinde zu Kirchengemeinde ziehend und mit Eltern, Pastoren und Bauherren diskutierend um diese Sache geworben, an der Universität mit den Studierenden, im Rahmen einer »Zusatzausbildung Integration« mit den ErzieherInnen und therapeutischen Kräften gearbeitet, damals mit den Zivildienstleistern und vielen anderen mehr. Über 12 Jahre hatte ich keinen Urlaub; nur so konnte nach sechs Jahren erreicht werden, dass alle Regelkindergärten integrativ arbeiteten und die Sonderkindergärten zu integrativen Regeleinrichtungen ihrer Gemeinde und des Stadtteils geworden sind. Parallel liefen die Verhandlungen über eine Fortführung der streng regionalisierten Integration in der Grundschule. Selbstverständlich mussten die Personal-, Finanzierungs- und unzählige Detailfragen zur Klärung gebracht werden, ehe dann im August 1982 konkret mit der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde in Bremen-Huchting das erste Kindertagesheim seine Arbeit aufgenommen hat, getragen von den Eltern, Pastor Kruse und der Leiterin Christine Brüss im Einvernehmen mit und unterstützt von allen MitarbeiterInnen der Gemeinde, die sich ihrerseits vielen Fort- und Weiterbildungen in der Gemeinde gestellt haben, die immer auch offen für die Eltern gewesen waren. Bauherr war der damalige Sozialsenator Henning Scherf. Ein Jahr später folgte bereits in Orientierung an den Erfahrungen der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde das benachbarte Kindertagesheim St. Georg. Die dort arbeitenden PädagogInnen nutzten die Möglichkeit, in dem ihnen vorausgegangenen Kindertagesheim zu hospitieren, sich den Fortbildungen anzuschließen und damit schon orientierter und auch fachlich stabiler die Arbeit aufzunehmen. Das zu einer ersten Orientierung.

Allgemeine Pädagogik und
entwicklungslogische Didaktik

Die Konzeption der integrativen Arbeit war auf dem Hintergrund des hier schon Berichteten von mir entwickelt und eingebracht worden. Sie hat sich im Grunde bis heute bestätigt, wenn und wo man (was selbstverständlich sein müsste) eine ungeteilte Integration bzw. Inklusion praktizieren möchte. Sie entsprach schon damals dem, was sich dann begrifflich als »Allgemeine Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik« gefasst, etablierte. Es wurde von Anfang an mit altersgemischten Kindergruppen in Projekten gearbeitet, die von ihren Themen- und Fragestellungen her in den einzelnen Kindergärten der verschiedensten Stadtteile sich an den Erfahrungshorizonten und Interessensbereichen der Kinder orientierten. Das von mir als »Baummodell« skizzierte didaktische Feld kann das verdeutlichen. Die Arbeit in den Kindergärten war entsprechend vielgestaltig. Eine durchgängige Arbeit in Projekten ist bis heute ein Kernstück dieser Pädagogik – aus meiner Sicht auch für die LehrerInnen-Bildung, die ich von einer LehrerInnen-Ausbildung unterscheide.

Großes Engagement der Studierenden

Entsprechend wurde mit den Studierenden an der Universität im Rahmen des Projektstudiums intensiv an den eine »Allgemeine Pädagogik« grundlegenden humanwissenschaftlichen Erkenntnissen und den ihnen wiederum zugrunde liegenden naturphilosophischen gearbeitet, an einem grundlegend neuen Verständnis menschlichen Lernens und menschlicher Persönlichkeitsentwicklung und damit sehr zentral an einem mit dem Weltbild in engem Zusammenhang stehenden Menschenbild und Behinderungsbild. Die Studierenden waren weit über das für das Studium Obligatorische hinaus an der Arbeit in den außeruniversitären Praxisfeldern engagiert. Ohne ihre Zu- und Mitarbeit hätten diese Entwicklungen nicht in dieser ungebrochenen Weise erfolgen können, was nicht meint, dass sie widerspruchsfrei und in gewisser Weise selbstlaufend gewesen wären. Ganz im Gegenteil: Basis der Weiterentwicklung war stets das Arbeiten an den auf vielen Ebenen aufscheinenden Widersprüchen, wohl wissend, dass ihre Lösung auf eine neue Ebene führt, die ihrerseits neue Widersprüche hervorbringt. Die universitäre wissenschaftliche Arbeit verstanden wir als das Schaffen von Wissen aus durch die Forschung generierten Erkenntnissen, das, in die außeruniversitären Felder transformiert, die Lebenssituation von Menschen verbessern kann, auch dadurch, dass wir ihnen ermöglichten, selbst Wissen zu generieren. Für die Studierenden ergaben sich dadurch an der Universität Lehr- und Lernformen, die sie in ihrer späteren beruflichen Tätigkeit in vergleichbarer Weise mit den SchülerInnen praktizieren konnten, für die sie Verantwortung zu übernehmen hatten, um es einmal auf diese kurze Formel zu bringen. So verstanden wir auch den Auftrag der Reformuniversität Bremen.

Auseinandersetzungen um Anerkennung der Bremer Abschlüsse

Auch die universitäre Arbeit war durch harte Auseinandersetzungen gekennzeichnet und verlangte geradezu eine Akrobatik der Kompensation der nicht vorhandenen Finanzmittel für die operationale Seite der Arbeit. Seitens Bayern, das früher im Rahmen des Bund-Länder-Finanzausgleichs auch von Bremen unterstützt wurde, das nun ein Empfängerland geworden war, gab es heftige Angriffe gegen unsere Universität mit Diffamierungen dahingehend, dass sie eine kommunistische Kaderschmiede sei. Es gab Zeiten, zu denen LehramtsabgängerInnen nach dem Ersten Staatsexamen vor allem in den süddeutschen Bundesländern keine Möglichkeit bekamen, ihr Referendariat abzuleisten, was formal mit der anderen Studienstruktur in Bremen begründet wurde, aber nicht der alleinige Grund war. Selbst nach Ablegung der Zweiten Staatsprüfung wurden Stellengesuche von BewerberInnen aus Bremen negativ beschieden, obwohl das sogenannte Hamburger Abkommen nach Ablegung des Zweiten Staatsexamens eine bundesweite Anerkennung der Lehramtsabschlüsse garantierte.

Finanzierung
der Universität

Nachdem durch die politischen Veränderungen in den die Universität Bremen mitfinanzierenden Bundesländern (Nordrhein-Westfalen und Hessen) diese aus der Finanzierung ausschieden, hatte auch das dramatische Folgen – in der gesamten Spanne von der Nichtbesetzung der noch für den Studiengang vorgesehenen Lehrstühle bis hin zu den Finanzmitteln für Telefon und Kopierpapier. Für ProfessorInnen gab es nur wenige Stunden für sogenannte Schreibkräfte, die aber, wie im Fall von Wolfgang Jantzen und mir, über Jahre nicht zur Verfügung standen; von wissenschaftlichen MitarbeiterInnen ganz zu schweigen. Man war in allem auf sich selbst gestellt und das total.

Pädagogische Arbeit in Zeiten hoher Armut

Der selbst im wirtschaftlichen Niedergang befindliche Stadtstaat konnte die Universität nicht mehr ausreichend finanzieren. Auch diesbezüglich zeigt sich eine kontinuierliche Linie an Misswirtschaft in der Spanne vom Verlust des Borgward-Werkes, über den von Nordmende bis hin zur Werften- und Hafenkrise. Aber das sind andere Domänen. Doch diese Problemlagen führten in manchen Stadtteilen zu einer extrem hohen Arbeitslosigkeit von weit über 30%, zu Armut und sozialen Krisen auch in den Familien, in denen oft ausagiert wurde, was an Verlusten und Verletzungen sich nicht in politische Aktivitäten nach außen artikulierte. Parallel dazu wurden viele Sozialprojekte ausgedünnt bis gestoppt, vor allem Jugendzentren, und auch eine solide Schulsozialarbeit kam weitgehend zum Erliegen. Diese Entwicklungen hatten sehr kontraproduktive Wirkungen und stellten die Arbeit in den Kindertagesheimen zusätzlich vor z. T. immense Sozialprobleme, die in die Erziehungs- und Bildungsarbeit integriert werden mussten und nicht ausgegrenzt werden konnten und sollten. Auch unter diesen Bedingungen bewährte sich die pädagogische Konzeption. Vor allem die Prinzipien des Kompetenztransfers und der integrierten Therapie. Damit war die Zusammenarbeit des multiprofessionellen Teams der damals in Orientierung an Dänemark von uns so bezeichneten »StützpädagogInnen« (BehindertenpädagogInnen mit Lehramt bzw. Diplom in Behindertenpädagogik) und TherapeutInnen (im Bereich Sprache und Bewegung) mit den gruppenleitenden ErzieherInnen, den JahrespraktikantInnen und den Zivildienstleistenden gemeint und die Einbettung therapeutischer Erfordernisse in die unmittelbare pädagogische Arbeit, also nicht in Therapieräumen ausgelagert und losgelöst von den inhaltlichen und gegenständlichen Aktivitäten in der Gruppe. Dem standen anfangs vor allem die Kinderärzte sehr ablehnend gegenüber und auch Eltern hatten die erst einmal berechtigte Sorge, dass ihre behinderten Kinder durch die Integration nicht hinreichend therapeutisch versorgt sein könnten, weil Therapieräume mit einer Ausstattung, die das für sie signalisierte, nicht vorhanden waren. Da wir alle Kinder aufgenommen haben, wurde auch versucht, unsere Arbeit mit der Bezeichnung einer ›totalen Integration‹ in Misskredit zu bringen, während von »Totalen Institutionen« der segregierenden Behindertenfürsorge nicht die Rede war. Aber genau die konsequente Integration überzeugte die Eltern wie schließlich auch die Fachkräfte in den Sozial- und Gesundheitsdiensten der Stadt. Die ›Vollintegration‹ wurde bald selbstverständlich.

Wachsender Modellversuch in Kindertagesheimen

Von Anfang an war klar, dass es primär um die Schaffung einer qualitativ hochwertigen integrativen pädagogischen Arbeit geht und nicht um eine schnelle quantitative Ausweitung ohne hinreichende Vorbereitung des Personals und der pädagogischen Arbeitsweise. Die Entscheidung, welches Kindertagesheim mit der Integration beginnen sollte, fiel nach vielen Debatten und Abwägungen, auch in anderen Stadtteilen beginnen zu können, auf das Kindertagesheim der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde in Bremen-Huchting. Von dort ausgehend kamen Jahr für Jahr neue Kindergärten hinzu, jeweils in Orientierung an den Erfahrungen der schon integrativ arbeitenden Häuser. Zum Schuljahresbeginn 1983/84 standen die ersten integrationserfahrenen Kinder aus der Dietrich-Bonhoeffer- und der St. Georg-Gemeinde zur Einschulung an die Grundschule an der Robinsbalje an. Die Entwicklung der integrativen Arbeit in den Kindertagesheimen der BEK ist von mir in dem Zwischenbericht Gemeinsame Erziehung behinderter und nichtbehindertere Kinder im Kindertagesheim, 1984 vom Diakonischen Werk herausgegeben (Nachdruck 1987), sehr detailliert beschrieben worden. Ich hoffe, dass er bald auf der digitalen Volltextbibliothek Bidok (http://bidok.uibk.ac.at/) wieder zur Verfügung stehen kann. Inklusiv arbeitende Kindergärten sind bis heute bei Weitem keine Selbstverständlichkeit und so wird die schulische Inklusion doch weitgehend schlicht auf Sand gebaut, was die Vorerfahrungen von Kindern und Elternschaft betrifft und die mangelnden Möglichkeiten für die Lehrpersonen, die Kinder und eine inklusive Arbeitsweise schon im Kindergartenalltag hospitierend erfahren und alle Kinder kennenlernen zu können.

Prinzip der Regionalisierung auch in der integrativen Schule

Damals war es in der BRD die Regel, dass behinderte Kinder, deren Eltern ihnen eine integrative Beschulung ermöglichen wollten, zu den integrativ arbeitenden Schulen gefahren wurden. Das war natürlich von den Möglichkeiten abhängig, die eine Familie hatte, um das finanziell und auch personell leisten zu können. In Bremen blieb das Prinzip der Regionalisierung auch für die schulische Integration ein nicht zu unterlaufendes. Dies auch getragen durch den damaligen Senator für Bildung, Herrn Horst-Werner Franke.

Öffentlicher Diskurs um Aufnahme in die Grundschule

Dennoch kam es im Kollegium der Grundschule an der Robinsbalje im ersten Anlauf zu einem Konferenzbeschluss gegen die Integration. Das führte zu sehr deutlichen Auseinandersetzungen hinsichtlich des damit zum Ausdruck gebrachten Verständnisses einer Schule und des damit verbundenen Menschenbildes. Dass das Kollegium einer Schule per Beschluss zu einer Selektionspraxis greift, die, zwar in anderem Gewand, aber faktisch ein Geschehen reproduziert, das an die Selektionen in Auschwitz erinnert, wenn die Züge mit den deportierten Menschen angekommen sind, war nicht hinnehmbar. Diese Problematik beschäftigte die bildungspolitisch verantwortlichen Parlamentarier aller im Bremischen Senat vertretenen Fraktionen, die Presse, Radio Bremen in Rundfunk und Fernsehen und die Zivilgesellschaft. Verhandlungen, die bis in die Sommerferien hineinreichten, nach denen die integrative Unterrichtsarbeit aufgenommen werden sollte, führten schließlich zur Zustimmung und für die Kinder zur nahtlosen Fortsetzung der Integration nach der Kindergartenzeit in der Grundschule. In Anbetracht der an vielen Orten in der BRD gefassten Konferenzbeschlüsse von Schulen gegen die Integration ist die Überzeugung und auch Standhaftigkeit des Bremischen Senators für Bildung in dieser Sache sehr zu würdigen.

Schulversuch

Dass behinderte Kinder vielerorts zu Standorten integrativer Grundschulen gefahren wurden und so eine außerschulische Gemeinschaft von Kindern und Eltern in ihrem Stadtteil nicht zustande kommen konnte, machte Integration zu einem Bildungsprivileg, anstatt zu Bildungsgerechtigkeit zu führen. Es gelang auch in Bremen nicht, die schulische Integration von vornherein als Regelfall zu etablieren. Sie konnte nur in der Konstruktion eines Schulversuchs realisiert werden, hinter der sehr zentral auch das Betreiben der Schuladministration stand, die, so konnten wir sehr häufig beobachten, in ihrer Praxis hinter den politisch möglichen Entscheidungen zurückblieb und, um es einmal so zu sagen, im Grunde die Bildungspolitik machte. Eine für Bremen aus meiner Sicht typische Verfahrensweise. Das äußerte sich z. B. auch darin, dass unsinniger Weise Jahr für Jahr um die Fortsetzung des Schulversuchs gerungen werden musste; seitens der Elternschaft, seitens der Lehrerschaft, seitens der wissenschaftlichen Begleitung. Letztere wurde mir für die Universität übertragen und dem damaligen Wissenschaftlichen Institut für Schulpraxis (WIS), das für die zweite Phase der Lehrerbildung (Referendariat) zuständig war, um mich, so wurde mir das seitens der Bildungsbehörde direkt gesagt, zu kontrollieren. Man könne mich nicht alleine machen lassen, war die galantere Umschreibung des Sachverhalts.

Mit dem WIS kam ein teils unterstützender, teils aber auch die Schularbeit auf den üblichen Rahmen fachdidaktischer und methodischer Denk- und Arbeitsweisen begrenzendes Moment ins Spiel. Probleme seitens des WIS zeigten sich z. B. auch darin, dass angezweifelt wurde, dass in Integrationsklassen ein Referendariat ›ordentlich‹ abgeleistet werden könnte oder ReferendarInnen mit dem Schwerpunkt Sekundarstufe I einem Automatismus gleich die Ausbildungsangebote für die Primarstufe wahrzunehmen hatten, was lange Zeit nicht hinterfragt wurde. Diese Entwicklungen waren auch begleitet von großen Meetings der Lehrerschaft Bremens mit dem Senator für Bildung bzw. der oberen Schuladministration, organisiert von VDS und GEW.

Einfluss der Politik

Auch auf parteipolitischen Veranstaltungen gab es zahlreiche, meist kontroverse Debatten zur Integrationsfrage, die aber bis gegen Ende der 1980er Jahre zielführend konstruktiv waren, bis die Vollintegration in Koalitionsverhandlungen von SPD und CDU den Machtinteressen der SPD als Koalitionär der CDU geopfert wurde. Danach ging es steil bergab.

Landespolitische Fehlentscheidungen

Auch in den Geisteswissenschaften verankerte Studiengänge wurden zugunsten gut finanzierter, aufstrebender technologischer Forschungseinrichtungen sehr beschnitten bis aufgelöst. Es ging um zukünftig gewinnträchtige Forschungen in der Spanne der Informationstechnologien bis hin zur Mikrogravitationsforschung mit dem in Deutschland einmaligen »Fallturm« auf dem Unigelände. Es ging um Forschung im Dienste des Fortschritts, die nicht mehr der Verbesserung der Lebensqualität der Menschen zum Ziel hatte, sondern sie als das verletzlichste Glied in Produktionsprozessen und Feldern der Dienstleistungen überflüssig zu machen. Die Prekarisierung ganzer Bevölkerungsanteile und die Spreizung der Schere hinsichtlich der Reichtumsverteilung bekam damals einen großen Schub, die Bildungsgerechtigkeit wurde zurückgefahren und das auf dem Weg zur Landespleite dahin schlitterte Bremen investierte viele Gelder, die Bremen retten sollten, in wenig nachhaltige Projekte, die sich als Flopp erwiesen.

Kooperation statt Integration

Aber das hier nur am Rande, so zentral diese Entwicklungen sich auch für die universitäre Arbeit und die Integration auswirkten. Ab 1995 war klar, dass wir keinen Fußbreit Boden mehr gewinnen können: Die Integration war zugunsten der »Kooperation« aufgegeben worden. An der Universität versuchten wir, so gut es ging, den Studierenden doch noch so etwas wie ein Projektstudium zu ermöglichen, das inzwischen an der Universität weitgehend geächtet war.

Zusammenbruch der DDR und der Sowjetunion

Ein bedeutender Einschnitt war auch die sogenannte Wiedervereinigung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der DDR, die nicht nur die Menschen in den sogenannten neuen Bundesländern (sie waren ja formal Beitrittsgebiet der BRD, das sagte nur niemand) entwurzelte, sondern viele übergreifende Arbeitszusammenhänge zerstörte, die auf eine den Menschen dienende soziale Ordnung orientiert waren – bis hin dass Bücher der AutorInnen z. B. der Kulturhistorischen Schule eingestampft wurden, von denen wir einige durch schnelle Aufkäufe retten konnten. Publikationsmöglichkeiten brachen weg u. v. a. m. Mitte der 1990er Jahre wollten sowohl Wolfgang Jantzen als auch ich die Universität verlassen, aber mit den uns verpassten Stigmas hatten wir bei entsprechenden Verfahren keine Chance auf eine Berufung, selbst wenn wir auf dem ersten Platz der Berufungsliste standen.

Dokumentation
des Schulversuchs

Die Arbeit im Schulversuch dokumentierte ich zusammen mit Heike Meyer in einem Zwischenbericht mit dem Titel Integrativer Unterricht in der Grundschule, der 1987 im Jarick-Oberbiel Verlag, Solms-Oberbiel, erschienen ist. Auf ihn sei verwiesen, wenn es Interesse an Details gibt, die hier nicht angeschnitten werden können. In Kürze erscheint auch eine kommentierte und mit Blick auf die Zeitumstände eingeleitete Sammlung einiger damals sehr zentraler Arbeiten von mir zur Grundlegung einer »Allgemeinen Pädagogik und entwicklungslogischen Didaktik« – auch gespiegelt in gegenwärtigen Entwicklungen der Inklusion (als zwölfter Band der von mir im Verlag Peter Lang herausgegebenen Reihe zu Behindertenpädagogik und Integration). Auch damit dürfte dem möglicherweise noch bestehenden Interesse an diesen Entwicklungen Rechnung getragen werden, die, das wage ich zu sagen, denen von heute mit dem Firmenstempel der Inklusion auf allen Ebenen der Theoriebildung und Praxis (zumindest in der Frühen Bildung und Grundschulzeit) weit voraus waren.

Integration in
der Sekundarstufe

Der Übergang ins Gymnasium, d. h. dort auch konkret die schulische Arbeit mit als geistig oder schwer behindert geltenden SchülerInnen, gelang nicht. Unter dem politischen und wirtschaftlichen Druck, unter den Bremen (aus meiner Sicht mitnichten nur fremdverschuldet) geraten war, gab es die damals auch so ausgesprochene Devise, dass keine kompetenten und qualifizierten Fachkräfte des Managements nach Bremen zu bringen wären, die den Stadtstaat wieder aufforsten könnten, wenn deren Kinder mit Behinderten die Schule besuchen müssten. So wurden wieder selbstständige Gymnasien etabliert. Nur in Bremen-Nord gelang ein solcher Schritt. Herrn Senator Franke höre ich noch heute zu mir sagen, dass, wäre die Vollintegration im ohnehin von außen sehr geächteten Schulsystem Bremens bis zum Abitur der Fall, kein/e AbiturientIn mehr einen Studienplatz an anderen Universitäten und kein/e SchulabgängerIn eine Lehrstelle in einem anderen Bundesland bekommen würde. Das nur als ein Beispiel wie groß der Druck auf Bremen geworden war.

Beteiligung behinderter Menschen in Forschung und Lehre

Die Auseinandersetzungen um die Einrichtung der Fachräume des Studiengangs Behindertenpädagogik könnte man auch unter dem Aspekt betrachten, dass sie eine Abwehr gegen die Teilhabe behinderter Menschen an den zentralen Arbeitsbereichen einer Universität zum Ausdruck bringen – ihre Beteiligung an Forschung und Lehre. Dies verstärkt dadurch, dass die Menschen, mit denen wir auf der Basis der Konzeption der SDKHT in den Fachräumen auch stationär arbeiteten, vor allem hinsichtlich ihrer Verhaltensweisen und die wiederum dadurch bedingten Handlungsweisen mit ihnen, jeder und jedem auf dem Campus auffallen mussten. Das Arbeiten mit solchen Menschen wurde weder für wissenschaftlich und relevant für die Forschung erachtet, noch dass eine solche praktische Arbeit einen Platz an einer Universität haben sollte.

Bevorzugung naturwissenschaftlicher Studien

Dass die Arbeit in Laboren naturwissenschaftlicher Studiengänge, deren Forschungsergebnisse geradezu aus den praktisch-experimentellen Arbeiten entstehen, dagegen selbstverständlich war, wurde nicht mit unseren Anliegen in Zusammenhang gebracht. Als der Fallturm für die Mikrogravitationsforschung errichtet und u. a. mit Kameras ausgestattet wurde, die den freien Fall von Materialien in tausenden Aufnahmen pro Sekunde festhalten konnten und wir uns um die Ausstattung der Fachräume mit audio-visuellen Systemen bemühten, um z. B. eine Dialogszene im Vis-à-vis-Kontakt mit zwei Kameras aufzeichnen und sekundengenau parallel auf einem Bildschirm zur Analyse des Geschehens darstellen und speichern zu können, meinte der damalige Rektor der Universität hinsichtlich der Qualität der audiovisuellen Technik für die Fachräume zu mir, dass sein Sohn bei Neckermann eine Kamera gekauft habe, die gute Bilder mache – und empfahl uns, diese zu beschaffen. Solche Analysen waren sehr hilfreich, um z. B. Prozesse der Auslösung und Aufrechterhaltung von destruktiven oder aggressiven Verhaltensweisen erfassen und in den Interaktionen dafür auslösende Faktoren erkennen zu können. Das würde ein eigenes Feld aufmachen und harrt noch immer einer ausführlichen Publikation, die schon vorzulegen, die stets total unzureichenden Arbeitsbedingungen verhinderten. Heute ist noch lagerndes Bandmaterial, das nicht den Datenschutzbestimmungen für die Fachräume entsprechend gelöscht werden musste, nicht mehr fehlerfrei abspielbar und für Sicherungen auf DVD ist es zu spät, bzw. das wäre nur mit hohem technischen Aufwand zu realisieren.

Teilhabe an der Kultur für alle Menschen

Der Zusammenhang zu unserer Thematik hier ergibt sich aus dem Anliegen der Integration. Schon an der MBS in Gießen sahen wir den entscheidenden Auftrag darin, Menschen, die hinsichtlich ihrer Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten aufgegeben waren und z. B. als selbst- und fremdgefährdend, destruktiv und gemeinschaftsunfähig galten, durch unsere Zusammenarbeit mit ihnen zu befähigen, so weit als nur möglich in regulären Lebenszusammenhängen wohnen und arbeiten und an Kultur teilhaben zu können. Aus dem Gedanken der Lernfähigkeit eines jeden Menschen, sei er auch noch so schwer beeinträchtigt und der Unteilbarkeit dessen, was heute die UN-BRK fordert und als Inklusion beschrieben wird, ergab sich die Notwendigkeit, diese Menschen aus den Orten ihrer Verwahrung zu befreien, ihnen Bildung und Erziehung zu ermöglichen und die Frage zu klären, wie das geschehen und ermöglicht werden kann. Das führte zur Konzeption der SDKHT mit der dieses Ziel zu erreichen war. An der Universität ging es mit der Arbeit in den Fachräumen entsprechend um drei Dimensionen: Erstens, aufgegebenen Menschen wieder eine Lebensperspektive zu ermöglichen, die in integrativen (inklusiven) Lebensfeldern als stabiler Lebensplan fortgeschrieben werden kann. Zweitens, partizipativ forschend die Arbeitsweisen zu finden, die das ermöglichen und sie fortschreitend im basis-therapeutischen und pädagogischen Sinne zu kultivieren. Drittens, den Studierenden mit dem forschenden Handeln mit diesen Menschen, das mag sich banal anhören, zum einen die Angst vor ihnen zu nehmen und ihnen zu ermöglichen, das eigene vorurteilsbelastete und in Prozessen ihrer Sozialisation zum Habitus verdichtete Wahrnehmen, Denken und Handeln aufzubrechen und zum anderen sie in dieser Arbeit hoch zu qualifizieren. Aber dieses Ansinnen und die Mittel der Nutzung von Einwegscheiben und der audio-visuellen Dokumentation der Arbeit lösten massive Abwehrreaktionen aus. Dies seitens der Behindertenverbände Bremens, die wohl – ich sage es einmal so – um ihre Pfründe fürchteten, selbst aber keine Lösungen für die Fragen hatten, die diese Menschen aufwarfen und inneruniversitär seitens verschiedenster studentischer Gruppierungen vor allem der Psychologie, die nicht zurückscheuten, unsere Arbeit in den Fachräumen als ›Fleischbeschau‹ zu etikettieren. Dahinter steckte auch blindes Agieren der damals aktiven K-Gruppen fern jeder inhaltlich relevanten Diskussion. Der Konflikt reichte auch in das Kollegium des Studiengangs Behindertenpädagogik hinein. Aber die Diskussionen wurden geführt, wo sie nur möglich waren – bis hinein in die senatorische Behörde.

Fachräume zur praktischen Arbeit gegen den Willen
des Rektorats

Die Fachräume und die damit verknüpfte Intention, eine neutrale Beratungsstelle aufzubauen, waren ein essenzieller Bestandteil der Studiengangskonzeption. Schließlich entschied Senator Franke deren Einrichtung auch gegen das Votum der Universität. Wenn auch mit stets absolut unzureichenden Ausstattungsbedingungen, ohne finanzielle Mittel und personell nur durch einen Medientechniker, Wilfried Stümer, unterstützt, konnten wir dann doch im Sinne der drei Grundgedanken des Anliegens in den Räumen ambulant und stationär arbeiten. Aber gewollt und unterstützt seitens der Universität war das nie. Als ich im Sommer 2005 eine Anfrage der Universität Zürich auf eine Gastprofessur annahm und Studierende die Materialien, Dokumente und Videos schon verpackt hatten, wurde gezielt in die Fachräume eingebrochen, dort alles zerstört, aber nichts entwendet. Ein Akt des Vandalismus, der so gezielt ausgerichtet war, dass diesbezüglich an eine Auftragsarbeit zu denken war. Die Räume wurden umgewidmet und die beiden Studiengänge ein Semester später nach dem Ausscheiden von Wolfgang Jantzen aus dem aktiven Dienst – ich verwende hier diesen Begriff bewusst – ›abgewickelt‹. Alle Studierenden, die in den Fachräumen mitarbeiten und sich qualifizieren konnten, zehren noch heute von diesen Erfahrungen, wie ich immer wieder einmal höre. Ihnen ist, was Inklusion wirklich bedeutet, keine Frage und sie kämpfen gegen den Unsinn einer selektierenden Inklusion.

Unteilbare und uneingeschränkte Teilhabe an Kultur und Gesellschaft

Ich denke, damit sind zentrale Stränge dessen, was als Integration begann und heute unter dem Begriff der Inklusion gehandelt wird, skizziert. Ausgangspunkt waren die anthroplogischen Grundeinsichten in die Vernunfts-, Lern- und Bildungsfähigkeit eines jeden Menschen, die durch keine noch so spezifische Daseinsweise negiert werden kann. Exemplifiziert habe ich das vor allem durch meine Arbeit mit schwerst autistischen Menschen und später bis in Zustände hinein, die wir als Koma bezeichnen. Die Forderung nach einer anerkennungsbasierten, uneingeschränkten und unteilbaren Teilhabe an Kultur und Gesellschaft ist eine sich allein aus der Angewiesenheit des Menschen auf den Menschen (erinnern wir Buber: Der Mensch wird am Du zum Ich) ergebender unbeugsamer Sachverhalt, der im Grunde der Begriffe der Integration und Inklusion nicht bedarf. Dass in den letzten vier Jahrzehnten mittels dieser Begriffe auch der gesellschaftlich und nicht nur fachlich relevante Diskurs geführt werden konnte, ist an sich eine gute Sache. Die Arbeit an der MBS und das Projekt von Andreas Fröhlich an der Körperbehindertenschule in Landstuhl, in dessen Zentrum die Arbeit mit schwerst-mehrfach (körperlich- und geistig-)beeinträchtigten Kindern stand, bedürfen schon heute selbst in Fachkreisen des Erinnerns. Dies hinsichtlich der eben erwähnten anthropologischen Grunddimensionen als Eingangsvoraussetzungen in die Felder von Integration und Inklusion, ohne deren Berücksichtigung, was heute nahezu durchgängig mit dem Inklusionsverständnis geschieht – zumindest im Bereich der Pädagogik – nur in das bestehende selektierende, ausgrenzende und segregierende Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtssystem (sEBU) hinein ›abgewickelt‹ werden können.

Gab es eine Kooperation mit Fröhlich?

Abgrenzungen zu und von anderen Ansätzen

Gegen Ende meiner Zeit in Gießen und Marburg und in der Anfangszeit in Bremen, also um 1978 herum, gab es über die üblichen fachlichen Kontakte hinaus auch Besuche mit Studierenden in Landstuhl. Es galt ganz klar, verkürzt gesagt, die ›Schulbildungsfähigkeit‹ dieser Kinder nachzuweisen; darin bestand völlige Übereinstimmung. Wir hielten Kontakte und besuchten auch andere Orte, an denen man sich der Bildungsarbeit mit schwerst beeinträchtigten Menschen öffnete. Hier wäre u. a. auch an das Wirken von Wilhelm Pfeffer in Würzburg zu erinnern, der leider schon 1987 verstorben ist. Andreas Fröhlich entwickelte das Konzept der »Basalen Stimulation« und kooperierte überwiegend mit den medizinischen Zentren zur Rehabilitation körperbehinderter Menschen, war also auf Heidelberg orientiert. In Orientierung an den Entwicklungen, wie sie in der Rehabilitation und Bildungsarbeit mit Menschen mit zerebralen Paresen in Florenz vor allem durch Adriano Milani-Comparetti und Otto Roser in enger Verbindung mit der Demokratischen Psychiatrie Franco Basaglias vertreten wurden, teilten sich die Wege. Die SDKHT und die Basale Stimulation sind nicht nur methodisch nicht kompatibel, wie dies auch in Bezug auf die Affolter’sche »Gespürte Interaktionstherapie« und in besonderer Weise auch in Bezug auf das Konzept des Prekop’schen »forced holding« der Fall ist, sondern sie generieren sich aus anderen Menschen- und Behinderungsbildern und haben in vielen Bereichen eine sehr unterschiedliche Auffassung darüber, was aus ebenfalls unterschiedlich interpretierten Entwicklungstheorien und Entwicklungspsychologien therapeutisch und pädagogisch für die praktische Arbeit zu folgern wäre. Ich denke, Andreas Fröhlich hat, was ich verschiedenen Äußerungen von ihm zu unserem in Bremen entwickelten wissenschaftlichen Verständnis von Behinderung und damit assoziierten Kontexten entnehme, diese Entwicklungen nicht nachvollzogen, weder die der »Kulturhistorischen Schule« noch die sich aus der Selbstorganisationstheorie ergebende Systemtheorie und ergänzende Theorien, wie z. B. Fragen der Selbstorganisation der Materie und lebendiger Systeme, der Synergetik und Emergenz, der Attraktortheorien, der Theorie des Komplexen, des Hyper- und Grenzzyklus u. v. a. m. Das würde wiederum ein eigenes Feld eröffnen; allerdings von höchster Bedeutung gerade auch für die Integrations- und Inklusionsfrage, die diesbezüglich, freundlich ausgedrückt, leider sehr unterbelichtet ist.

Umstrukturierung der Bremer Universität

Seit den 1990er Jahren stagnierten die Arbeitsmöglichkeiten an der Universität Bremen. Neuorganisationen von Fachbereichen und die Zuordnungen der Studiengänge zu diesen und Berufungsangelegenheiten waren so angelegt, dass in den Gremien der Selbstverwaltung der Universität kaum noch linke Mehrheiten zustande kommen konnten. Ich habe ja schon angedeutet, dass von dem, was wir über gut drei Jahrzehnte aufgebaut haben, letztlich nichts geblieben ist.

Wechsel nach Zürich

Das führte dazu, dass ich ein halbes Jahr vor meiner offiziellen Pensionierung das Angebot aus Zürich annahm, dort für ein Jahr unsere Forschungsergebnisse in die Lehre am Institut für Sonderpädagogik der Universität Zürich einzubringen. Dort war im Grunde auch in Vergessenheit geraten, dass an der Universität Zürich 1931 der erste Lehrstuhl Europas für Heilpädagogik eingerichtet und von Heinrich Hanselmann besetzt worden war. Man wollte das Institut im Grunde schleifen, da verschiedenste Interessen an dem denkmalgeschützten Institutsgebäude Interesse hatten und Konkurrenzen vor allem bezüglich der Ausstattung des Instituts seitens der Sozialpädagogik und allgemeinen Pädagogik doch Begehrlichkeiten weckten. Nach den Erfahrungen in Bremen war es schon eine gewisse Genugtuung, dort nicht qua Altersgrenze aus der universitären Arbeit entfernt zu werden und in Zürich doch diesen historisch bedeutsamen Lehrstuhl per Gastprofessur vertreten zu können. Zu meiner Verabschiedung in Bremen nach 28 ½ Jahren fand der Rektor der Universität den Weg zu dieser von Studierenden organisierten Veranstaltung, zu der viele Menschen auch aus anderen Bundesländern gekommen waren, nicht, während ich in Zürich binnen zweier Tage einen Termin beim Rektor der Universität haben konnte und ihm in langen Gesprächen die Bedeutung Zürichs für das Fach verdeutlichen konnte – einschließlich handschriftlicher Notizen Hanselmanns z. B. an dessen Nachfolger Paul Moor. Daraus resultierte, dass das Institut erhalten bleiben sollte, das aber in Form einer zukunftsträchtigen und nachhaltigen Konzeption und Struktur.

Neukonzeption des erziehungswissenschaftlichen Instituts

Damit verband sich der Auftrag, eine solche Konzeption vorzulegen, die dann über einige Semester hinweg kooperativ erarbeitet wurde und in die Gründung eines einheitlichen erziehungswissenschaftlichen Instituts führte, das von der Sonderpädagogik bis hin zur Gymnasialpädagogik und Berufsbildung die ›Pädagogiken‹ unter einem Dach zusammenführte. Sie zu verbinden wird Aufgabe der nächsten Jahre sein, wenn denn verstanden wird, dass dieses Institut ein inklusives zu sein hätte. Mir mehren sich Zweifel ob dieses Verständnisses bei vielen, die heute dort arbeiten, oder, anders gesagt, die das Sagen haben, sich entfalten könnte; die MitarbeiterInnen, die es denken und auch realisieren könnten, sind, Schweizer Gepflogenheiten entsprechend, diesbezüglich sehr unterwürfig und zurückhaltend – vielleicht auch nicht interessiert. Eine große Chance wurde allein dadurch versäumt, dass man rein gebäudemäßig nicht unter ein Dach zusammengezogen ist, wozu die Möglichkeit bezüglich der durch einen Neubau verlagerten Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) bestanden hätte. Auch führen die PHZH und die Hochschule für Heilpädagogik (HfH) nach wie vor ein sehr separiertes Nebeneinander, würde die Inklusionsfrage diesbezüglich doch längst eine Vereinheitlichung der LehrerInnen-Bildung erfordern. Immerhin, aus den Denominationen der neu besetzten Lehrstühle des ehemaligen Instituts für Heilpädagogik ist die ›Sonderpädagogik‹ verschwunden. Sie lauten jetzt: ›Bildung und Integration‹ und ›Gesellschaft, Partizipation und Behinderung‹. Aus dem geplanten einen Jahr der Arbeit in Zürich wurden schließlich fünf Jahre, bis ich dann 2010 emeritierte.

Sie haben es ja schon angesprochen, vielleicht nochmal dezidiert, welche eigenen Interessenschwerpunkte waren für Sie denn besonders relevant?

Entwicklungen im Bereich Autismus

Da fällt mir eine Antwort nicht leicht. Selbstverständlich sind, was ich entwickelte und erarbeitete, aus der Sphäre eigener Interessen nicht zu extrapolieren. Ich versuchte zu verdeutlichen, dass dies aus meinem eigenen Entwicklungs- und Werdensprozess heraus entstanden und nicht mit einem aufgesetzten Karriere- oder Forschungsinteresse zu vergleichen ist. Ich bin, was ich tat und tat, was ich bin. Manches dürfte, auf Neudeutsch, auch in gewisser Weise nachhaltig sein, so unbestimmt auch dieser Begriff in der Pädagogik gehandhabt wird. So habe ich z. B. seit meiner Zeit in Zürich die Autismusforschung nicht mehr aktiv verfolgt, wenn Sie so wollen. Ich bin natürlich informiert, auch wenn ich manches Buch dazu schnell wieder zur Seite lege, weil es, das mag überheblich klingen, nicht einmal den Erkenntnisstand hat, den ich unter erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen schon mit meiner Dissertation erreichen konnte und hinsichtlich der Arbeitsweise mit den betroffenen Personen den mit der SDKHT erzielten Stand nicht erreicht. Hier werden Strategien praktiziert, die oft nicht über eine Art Funktionstraining bestimmter Handlungsweisen oder Wahrnehmungstechniken hinauskommen und keine wirklich als solche zu bezeichnende theoretische Grundlage haben. Die heute favorisierte Konzeption des ABA (Applied Behavior Analysis) hat, wie ich annehmen muss, selbst die mit den schon in den 1950er Jahren in den USA begonnenen Diskursen zu den »Operants« (gemeint sind hier bestimmte Verfahrensweisen operanten Konditionierens) nicht nachvollzogen, geschweige denn die sogenannte »kognitive Wende« in den 1960er Jahren, die unabdingbar die Reflexion und Beachtung der innerpsychischen Bedingungen bei Lernvorgängen einforderte. Während in einigen Staaten der USA das »forced holdig« verboten wurde, wird es in Deutschland noch exzessiv praktiziert. Und wenn von diesen Entwicklungen wirklich etwas verstanden worden wäre, könnte heute der Verein Autismus Karlsruhe e. V. (eine Gliederung des Bundesverbandes »Autismus«) doch keine Fortbildung zum »Registrierten Verhaltens-Techniker (RVT)« als Grundlage der Arbeit mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum mehr anbieten.

Response to
Intervention

Aber auch in Bezug auf die Inklusion gibt es solche Verfahren. Ich denke nur an das RTI-Programm (Response to Intervention) des sogenannten Rügener Modells der Universität Rostock; eine letztlich auf curriculare Standards bezogene (test-)datengeleitete Praxis, die individuelle Förderpläne erstellt und die Lernergebnisse, bezogen auf diagnostisch identifizierte Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten einer ständigen Leistungsmessung unterzieht und, sind diese nicht befriedigend, bezogen auf drei evidenzbasierte Förderstufen, eine fächerorientierte Intervention anbietet. Das eine hat nichts mit der Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit einer autism-spectrum-disorder zu tun, das andere nichts mit Inklusion, aber beides wird als solches verherrlicht. Das allein zeigt einen erbarmungswürdigen Zustand des Fachs, der einem Übelkeit verschafft. Da tut es schon auch gut, wenn man dann eine Dissertation wie die von Stefan Bach zur Frage der Heterogenität der Erscheinungsformen des Autismus-Syndroms und deren entwicklungsniveaubezogenen Ursachen lesen kann, die er bei mir geschrieben hat und von mir erarbeitete Grundlagen für sein Anliegen hilfreich verwerten konnte. Was vielleicht auf ein Allgemeinverständnis bezogen Interessen, die mir als Bedürfnisse aufscheinen, sein könnten, so würde ich gerne ein weiteres Leben als Schriftsteller und ein weiteres als Opernsänger führen und ein abschließend drittes als Katze bei mir selbst. Der Interessen sind viele. Dazu gehören Astrophysik und Quantentheorie, aber dazu fehlen mir total die mathematischen Grundlagen. Mein Vorhaben, nach dem Ausscheiden aus der Arbeit in Zürich dort an der Universität in diese Schwerpunkte hinein zu hören, konnte ich nicht realisieren; es standen zu viele noch einzulösende Anforderungen an – und das bis heute.

Auswirkungen des Bologna-Prozess

Heute sehe ich mit großem Bedauern, wohin die Universität, einmal Lehrstätte des Denkens, mit und nach der Etablierung des Bologna-Systems driftet, das auch andere Umsetzungsmöglichkeiten geboten hätte. Unter Dominanz quantifizierbarer Erhebungen wird die Universität zu einem Abrichtungssystem für späterhin in spezifischen Feldern effizient einzusetzenden und zu vernutzenden Fachidioten und verliert damit den Anspruch, rekurrieren wir nur auf Wilhelm von Humboldt, einer Bildungsinstitution. Das ist durchaus den Anliegen der OECD angemessen, die mit Studien wie PISA, IGLU und anderen Rankings das Geschäft der Selektion und Abrichtung von Menschen für ein neoliberales Wirtschafts- und Gesellschaftssystem betreibt, sich aber, sein Wirken euphemistisch verstellend, als System der Förderung von Chancengleichheit verkauft, die Pierre Bourdieu schon längst als Modell der Fortschreibung des bestehenden sEBU enttarnt hat. Das Bologna-Konzept hätte durch seine Modul-Struktur auch in der Weise als ein interdisziplinäres und transdisziplinäres Studienmodell umgesetzt werden können, das unserem Projektstudium in Bremen und dessen propädeutischen Vorläufer sehr nahe gekommen wäre. Ich habe die Umstellung auf Bologna in Bremen und dann noch einmal in Zürich mitbekommen. Dabei ging es nur um Verfahrens- und Prüfungsweisen, um »Gefäße«, nicht um Inhalte, die zuerst zu entwickeln wären, damit für diese angemessene Gefäße geschaffen werden könnten, um sie studieren zu können. Das mündete in einen Prüfungsterror, der mich die Frage stellen ließ, wann noch gelehrt werden könnte, was zu prüfen ist. Mündliche Prüfungen habe ich immer als ein Gespräch auf Augenhöhe aufgefasst und durchgeführt, in denen Studierende nachweisen können, dass sie, womit sie sich vertiefend beschäftigt haben, denken können; das in historischen und interdisziplinären Zusammenhängen und anwendungsorientiert. Für jemanden wie mich, der sich einst nicht vorstellen konnte, je einmal einen Fuß in eine Universität zu setzen, geschweige denn dort lernen und obendrein dort sogar noch lehren zu können, sind das dramatische Entwicklungen. Die Sokratische Weisheit, zu wissen, dass man nichts weiß (als Motiv ständigen Lernens), ist heute ein akademischer Schandfleck und nicht die größte aller erzielbaren Erkenntnisse.

Und bezogen auf die Integrationspädagogik gab es da Schwerpunkte, wo Sie gesagt haben, das war eher in Ihrem Fokus als anderes?

Pädagogik als Eröffnung von
Möglichkeitsräumen

Auch diese Frage ist für mich nur schwer zu verstehen und zu beantworten. Sie ist nicht aus der referierten Vorgeschichte herauszulösen. Vielleicht kann ich so antworten: Die Pädagogik ist nicht die zentrale Frage, sondern menschliches Leben, menschliches Lernen, menschliche Entwicklung, deren Voraussetzungen, Ausgangs- und Randbedingungen, dass sie stattfinden und damit der Mensch überhaupt leben kann. Pädagogik ist diesbezüglich erst einmal eine synthetische Wissenschaft insofern, als sie die aus diesen Fragen resultierenden Erkenntnisse in zwischenmenschliche Interaktionen, in kommunikationsbasierte Kooperationen so organisiert und gesteuert zu übersetzen hat, dass bei den Lernenden dadurch intendierte Effekte entstehen und zu beobachten sind. Sie sehen, damit bewegen wir uns, wenn wir Letzteres als angewandte Pädagogik ansehen, sofort auch im Feld von Macht- und Herrschaftsstrukturen. Man kann auch sagen, wie eben schon in Bezug auf Entwicklungstrends der Universitäten angesprochen, mit Pädagogik – vor allem in ihrer institutionalisierten Form – bewegen wir uns auf Pfaden intentionaler Selektion der Bevorzugung oder der Vermeidung bestimmter möglicher Trends von Entwicklungsprozessen mittels der Setzung von Attraktoren, die bestimmte bevorzugen oder andere benachteiligen oder ausschalten. Das ist erst einmal nicht mit den Kategorien ›richtig‹ oder ›falsch‹ zu betrachten, die es in der Evolution nicht gibt. Ich möchte damit einen Unterschied hinsichtlich Ihrer Frage aufzeigen: Schwerpunkt meiner Interessen in Forschung und Lehre, Theoriebildung und Praxis sind die auf menschliche Phylo- und Ontogenese gerichteten Fragen im Allgemeinen; im Speziellen fokussiert auf die, mit der ich meine Antwort eingeleitet habe. Die Pädagogik ist etwas Konsekutives, das sich – nun wird es ethisch – nach dem auszurichten hat, was ein Mensch seiner Möglichkeit nach werden kann, auch wenn das Mögliche im Wirklichen (noch) nicht sichtbar ist. Pädagogik ist im Sinne der Formel der kommunikationsbasierten Kooperationen etwas Grundlegendes, aber das Fundamentale daran ist nicht ein Bildungskanon, ein Curriculum, eine Studienordnung, sondern, so philosophisch es erst einmal klingen mag, das Mögliche, das sich, wie das Hans Heinz Holz in Bezug auf die geschichtsphilosophischen Thesen von Walter Benjamin so großartig herausarbeitet, eine »Idee«. Dass sich das in einer objektiven Realität abspielt, ist selbstverständlich, denn außerhalb dieser gäbe es lebende Systeme nicht, die evolvieren können. Diese, ich nenne es einmal ›Wirklichkeit‹, ist die Basis der Pädagogik und modifiziert das denkbar Mögliche. Es bedarf also nicht abrichtungsbezogener Curricula, sondern bedürfnis-, interessen- und motivbezogener Möglichkeiten, Erkenntnisse über sich, die anderen und die Welt zu gewinnen. Das würde auch die Dimension des Humanen und des Demokratischen in der Pädagogik beschreiben, das spätestens mit der Aufklärung, z. B. verdichtet u. a. in Arbeiten von Rousseau, begründet, was wir Reformpädagogik nennen, so pädagogisches Handeln das ermöglicht und nicht verstellt. Das verweist zentral auf die Frage der Mündigkeit im Sinne einer erkenntnisbasierten Selbstreflexivität, die den anderen Menschen in Bezug auf jede Handlungsentscheidung sozusagen mitdenkt. Das drückt sich, historisch noch weiter zurückgegriffen, in besonderer Weise schon im Wirken und Werk von Wolfgang Ratke und Amos Comenius, in seiner ›didacta magna‹ aus, die vor 360 Jahren erschienen ist. Beide können berechtigt als Begründer einer neuzeitlichen Didaktik angesehen werden; symbolisiert in der Aussage, dass es darum gehe, allen alles zu lehren. Ich denke, Sie spüren die Bedeutung dessen für die Frage der Inklusion in pädagogischen Feldern. Vielleicht ist Ihre Frage so erst einmal beantwortet.

Inklusion zwischen Demokratisierung und optimaler Nutzung des Humankapitals

Bezogen auf die Frage der Inklusion dürfte deutlich geworden sein, dass sie zum einen außerhalb dieser historischen und auch philosophischen Kontexte nicht vernünftig zu denken ist und zum anderen kein Additivum sein kann, das den aktuellen Pädagogiken als ein weiterer Aspekt zur Steigerung deren Pluralität hinzuzufügen oder diesen, ich sage es einmal so, beizumischen wäre. Ich habe auch bereits angedeutet, dass die Frage der Inklusion im Sinne des Gedankens der Humanisierung und Demokratisierung der Pädagogik eine grundlegend reformpädagogische ist. Das kollidiert mit weit verbreiteten Auffassungen, dass die gegenwärtig zu konstatierenden Problemlagen der Pädagogik eine Folge der vielen vorgenommenen, nicht zu Ende gedachten und nicht zu Ende gebrachten Reformen sei. Die Frage der Inklusion wird dadurch sofort in diese Kritik miteinbezogen und als weitere Destabilisierung der Pädagogik und als Verunsicherung der Lehrpersonen bewertet. Dabei bleibt aber meist ungeklärt, welches denn die abzuwehrenden Problemlagen sind und was als Fehlschläge der pädagogischen Reformen angesehen wird, was die beklagten Zustände im Einzelnen sind und was überhaupt mit dem Begriff der beklagten ›Reformen‹ gefasst und gemeint ist. Solches bleibt meist völlig unklar und ist leicht als ein Bemühen zu enttarnen, an den OECD-freundlichen Abrichtungs- und Verwertungsinstitutionen der Überführung von Humanressourcen in Humankapital, die sich Schule nennen und unter Preisgabe eines qualitativen Bildungsbegriffes in Standardisierungs- und Quantifizierungskonzeptionen erstarrt sind, wovon auch die Hochschulen und Universitäten nicht ausgenommen werden können, um jeden Preis festzuhalten.

Zugang zum Weltwissen

Die Geschichte einer neuzeitlichen Didaktik, wie ich es nur kurz angesprochen habe, ist von ihren Quellen her daran orientiert, unter kollektiven Gesichtspunkten niemanden vom Erwerb eines Weltwissens auszuschließen und, damit verbunden, unter Individualisierungsgesichtspunkten einer Persönlichkeitsbildung verpflichtet, die im Sinne der Kulturhistorischen Schule aufgeschlüsselt und verstanden werden kann. Das ist im Grundsatz keine Frage von Behinderung oder Hochbegabung, um diese beiden Begriffe hier noch einmal zu bemühen. Die Welt, die es zu erkennen, zu erklären und zu verstehen gilt, ist eine gemeinsame Welt und deshalb erst einmal nicht in Form ihrer Fraktionierung und Elementarisierung zu begreifen, wie das mit der Fächerorientierung der Schule zum Ausdruck kommt. Das Element erklärt nicht das Ganze, das Ganze aber die Funktion des Elements in Bezug auf das Ganze, was pädagogisch das Erfordernis aufwirft, von diesem Ganzen, das auch das Abstrakte genannt werden kann, zum Konkreten aufzusteigen.

Kooperationsprozesse in Kommunikation

Forschungs- und Erkenntnisprozesse im Sektor des Bildungssystems sind meist dem Pfad vom Konkreten zum Abstrakten verpflichtet, was suggeriert, dass dies nicht nur der leichtere Lernweg sei, sondern auch der logischere. Dahinter dürfte eine ausschließliche Fokussierung des Verständnisses von menschlichem Lernen und menschlicher Entwicklung als rein individuelle Praxis stehen – und ein mechanistisch, lineares und gleichzeitig polares Verständnis dieser Prozesse, die damit ihrer Dialektik enthoben werden. Diese verweist – und ich könnte hier einfach wieder Buber zitieren – auf das Kollektive, das sich in Kooperationsprozessen realisiert, die ihrerseits Kommunikationen erforderlich machen, die wiederum keine Frage einer elaborierten Sprache sind, sondern auch in Form eines ›somatischen Dialogs‹ auf taktile Weise ohne jede Lautäußerung erfolgen kann. Allein der Atem eines Menschen und die Veränderung dessen Intensität und Rhythmizität sind eine Sprache, wenn wir sie als solche zu verstehen gewillt sind. René Spitz schreibt in einer Arbeit über das Leben und den Dialog: »Leben in unserem Sinne wird durch den Dialog geschaffen«. In der Lehre verwende ich oft das einfache Beispiel des Stillens eines neugeborenen Kindes seitens seiner Mutter. Das ist eine kommunikationsbasierte Kooperation an einem Gemeinsamen Gegenstand, den wir in der Herstellung eines die beteiligten Personen auf ihre je spezifische Weise befriedigenden Produkts sehen können. Das Kind, dessen Homöostase disbalanciert ist, drückt diese als Unwohlsein empfundene Situation (sagen wir ›Hunger‹) kommunikativ aus, es schreit in einer der Mutter sehr schnell verstehbaren Weise (z. B. hinsichtlich der Unterscheidung eines Weinens, das Schmerzen zum Ausdruck bringt, eine nasse Windel signalisiert oder auch Langeweile im Sinne des sich bald ausbildenden Bedürfnisses nach Gegenwart der primären Bezugs- und Bindungsperson). Die Mutter, deren Motiv, das auf den dahinter stehenden Bedürfnissen basiert, dass es, vereinfacht gesagt, ihrem Kind wohl ergehen soll, nimmt das Kind auf, wird mit ihm es tröstend und beruhigend reden und legt das Kind an die Brust, was diesem durch ihm wiederum längst vertraute Körpergerüche, den Schlag des Herzens der Mutter u. a. m. signalisiert, verstanden worden zu sein. Entsprechend den schon intrauterin erlernten Handlungen des Brust-Such-Verhaltens kann das Kind, durch weitere Handlungen der Mutter unterstützt, saugen und seine basalen Bedarfe befriedigen – in Assoziation mit allen Signalen, die für diese Situation charakteristisch sind bis hin zur Prosodik des ›Gesprächs‹ der Mutter mit ihrem Kind (z. B. durch die reziproke Kommunikation der Nachahmung der Schmatzgeräusche des Kindes beim Saugen). Die Brust als Gegenstand der Tätigkeit des Kindes, der ›gegenständlichen Tätigkeit‹ (der Handlung) des Saugens, stellt die Materialisierung der übergeordneten Bedürfnisse dar und führt die dominierenden Motive zum Ziel, das u. a. auch in der Schaffung einer gemeinsamen Lebensgrundlage und eines gemeinsamen Weltverständnisses gesehen werden kann. In solchen Momenten, so würde ich sagen, entsteht Inklusion. Schon in einer Arbeit von 1957 zeigt René Spitz auf, dass jede Verhaltensäußerung, ob sie nun bewusst oder unbewusst, gerichtet oder ungerichtet erfolgt, Kommunikation ist, die von einem anderen Menschen wahrgenommen werden kann und dessen Gefühle, Affekte, Gedanken oder Handlungen beeinflusst.

Begegnung als
Kern der Pädagogik

In der Pädagogik – besser: in der pädagogischen Beziehung und, ein Buber’scher Begriff: in der ›Begegnung‹ – geht es um keine anderen Grundlagen. Kommunikationsbasierte reziproke Kommunikationen sind universal für die menschliche Existenz und seine Entwicklung. Aus der ursprünglichen Dyade der Mutter-Kind-Beziehung wird ein Kollektiv von Lernenden (ich sehe auch in den Lehrpersonen stets Lernende), deren Bedürfnisse sind differenzierter, ihre Motive komplexer, aber hinsichtlich des Erfordernisses zu Handeln im Sinne der Hierarchisierung eines dominierenden Motivs geordnet. Die Tätigkeitsformen sind im Sinne entwicklungspsychologisch zu beschreibender Niveaus von Wahrnehmung, Denken und Handeln bezogen auf die zu untersuchenden oder zu gestaltenden Zusammenhänge in der Spanne vom sinnlich-konkreten bis zum formal-logischen und dialektischen Denken und Handeln aufgefächert – und das gilt in gleicher Weise für die Lehrpersonen oder andere Fachkräfte wie für die Kinder bzw. Schüler.

Der Gemeinsame Gegenstand

Der Gemeinsame Gegenstand ist in kollektiven Lernprozessen, die, ich wiederhole, als kommunikationsbasierte Kooperationen zu verstehen sind, die Basis des intendierten Erkenntnisgewinns, aus dem als Produkt Wissen resultiert, das im Moment seines Auftretens zum Werkzeug der in der handelnden Auseinandersetzung mit den Objekten neu zu gewinnenden Erkenntnisse wird. Es sei schon hier betont, mit dem Gemeinsamen Gegenstand sind eben nicht die Objekte der ›gegenständlichen Tätigkeit‹ gemeint, wie es, vielleicht jetzt nachvollziehbar, in der Mutter-Kind-Dyade des Stillens nicht um die Brust als Objekt der Tätigkeit des Saugens geht, sondern um das übergeordnete Moment des darin sich realisierenden gemeinsamen Weltverständnisses. Das schließt gleichwohl für beide interagierende Personen komplexe Erkenntnisse über sich selbst, das eigene Tun und seine Folgen und – ich sage es hier einmal bewusst so – über die gesellschaftlichen Verhältnisse ein.

Institutionen als Machtapparate

Das ist keine Frage von Institutionen, sondern, hier als umfassenden Begriff gebraucht, von Bildung. Die Institutionen sind schlicht Orte, die Bildung für alle umfassend ermöglichen sollten und eben nicht begrenzen oder gar verunmöglichen. Als Machtapparate sind sie strukturelle Garanten, Herrschaft auszuüben und ständische (ich könnte auch sagen, herkunftsmäßige) Politik zu realisieren und sie dienen in vielen (vielleicht sogar in den meisten) Fällen ausschließlich dazu, Bildung zu verunmöglichen, auch wenn man in Verblendung durch die Euphemismen der schon angesprochenen Standardisierung und Quantifizierung des Pädagogischen, also von Sachverhalten, die dem Grunde nach nicht standardisiert und quantifiziert werden können, sondern nur durch qualitative Analysen transparent zu machen und aufzuschließen sind, geneigt ist, das eben nicht zu erkennen oder erkennen zu wollen, was im Besonderen die Lehrpersonen selbst und die Elternschaft betrifft. Andererseits ist Persönlichkeitsbildung, wie oben skizziert, keine Domäne von Kindergarten, Schule oder Universität, kein Verdikt von Altersgruppierungen, von Behinderung oder Nichtbehinderung oder anderer Faktoren, wie es keine Kindergarteninklusion oder Schulinklusion etc. geben kann.

Kontinuierliches Bemühen Institutionen als Ort der Begegnung herzustellen

In Bremen haben wir in Anlehnung an das schon Skizzierte versucht, die Kindertagesheime so weit als nur möglich als herrschaftsfreie Räume und Orte der inhalts- und sachbezogenen ›Begegnung‹ zu gestalten und das auch im Herrschaftsbereich der Schule zu ermöglichen, wenngleich dort die Widersprüche oft gewaltig aufbrachen. So allein durch die an keinen anderen Orten des gesellschaftlichen Lebens vergleichbar existierende Abstrusität der Bildung von Jahrgangsstufen oder durch die Altersfixierung von Lernstoff im Sinne von Lehrplanvorgaben und einer für alle einheitlichen Leistungsmessung und –bewertung, wie sie mit dem Zentralabitur wie die Spitze eines Eisberges aus dem Meer eines total sich selbst pervertierenden Schulsystem herausragt. Was ich beschrieben habe, wird nie ein Zustand sein, sondern nur als dynamischer Zustand immer wieder herzustellen sein – im Bemühen aller, sofern sie einen ›Gemeinsamen Gegenstand‹, z. B. Inklusion, haben. Das bedeutet, vom Gegenteil dessen her, was sein soll und in der gegenteiligen Realität dessen, die existent sein sollte, das Gegenteil des Gegenteils aufzubauen. Das erinnert an die Feststellung Adornos in seinen Minima Moralia, dass es kein richtiges Leben im Falschen geben kann. Vielleicht vermag diese Aussage besser zu verdeutlichen, als ich es zu sagen vermag, dass mit den Mittel und in den Strukturen eines über Jahrhunderte selektierenden, ausgrenzenden und segregierenden und darin fortwährend perfektionierten EBU Inklusion nicht zu realisieren ist, wenngleich von diesem System ausgegangen werden muss. Man verfängt sich aber sofort in dessen Systemlogik, wenn man nicht vom ersten Moment an mit dem Willen einer revolutionären Transformation des Systems an die Arbeit geht – und das in Bezug auf alle Pfade dieses Systems.

Revolutionäre Transformation

Ich spreche bewusst von einer revolutionären Transformation und nicht, wie heute zu lesen oder zu hören ist, von einer Transformation des gegenwärtigen EBU als solches. Das EBU ist ständigen Transformationsprozessen ausgesetzt. Eine Transformation im Sinne der Inklusion als Akt des ›guten Willens‹ halte ich nicht für möglich. Dass hier von einer revolutionären Transformation zu sprechen ist und von nichts weniger, soll auf die Bewusstheit der Positionen und Errungenschaften der Französischen Revolution und der Aufklärung und ihren Traditionen auch durch die Geschichte der Pädagogik hindurch verweisen, die nicht zu begrenzende und zu beschränkende Menschenrechte und eine unbeugsame Orientierung am Subjekt zur Grundlage hat, was die Gegebenheiten der Realität nicht negiert. Allgemein ist das mit der UN-BRK in Ansätzen zum Ausdruck gebracht, auch wenn ihr durchaus diesbezüglich Abstriche inhärent sind. Diese menschenrechtsbezogene Subjektorientierung kommt in der notwendigen Weise in einem Artikel von Franca und Franco Basaglia mit dem Titel »Befriedungsverbrechen« im gleichlautenden, von ihnen herausgegebenen Buch zum Ausdruck, mit dem sie davon ausgehen, selbst Gefangene der herrschenden Situationen zu sein, die es zu überwinden gilt. Im Gespräch mit Jean-Paul Sartre betont Basaglia, dass es nicht nur darum gehe, das Andere nur zu denken, sondern es zu machen, worauf Sartre antwortet, dass es darum gehe, die bestehenden Verhältnisse, die nicht zu negieren sind, schrittweise außer Kraft zu setzen, durch die Praxis, die er als die offene Flanke der Ideologie beschreibt. Diesen Artikel müsste man jeder Lehrperson und allen im Feld der Pädagogik Arbeitenden und Verantwortung Tragenden zur Pflichtlektüre machen und ihn auch mit Eltern bearbeiten.

Zeithorizont

Ob eine revolutionäre Transformation je gelingen wird, muss heute – auch nach vier Jahrzehnten der Entwicklung der Integration bzw. Inklusion – als offene Frage behandelt werden. Manchmal, um es in ein Bild zu bringen, verweise ich auf die katholische Kirche, die 360 Jahre gebraucht hat, um Galileo Galilei hinsichtlich des seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse wegen gegen ihn verhängten Bannspruchs zu rehabilitieren. Die Realisierung der Inklusion dürfte die doppelte Zeit in Anspruch nehmen. Enrique Dussel diskutiert in seinen 20 Thesen zur Politik den Fragenkomplex der Transformation politischer Institutionen auch für die hier zu lösenden Problemstellungen richtungsweisend.

Ausschluss vollständig vermeiden

Aber zurück: Inklusion ist fachlich gesehen mit Blick auf den Unterricht nicht mehr und nicht weniger als eine Frage der Didaktik, das aber im umfassendsten Sinne ohne Kompromiss an das alte System und ebenso kompromisslos ein politischer Akt. Bei allen Erfordernissen, Kompromisse zu schließen, schließen sich solche, die gegen einen Menschen gerichtet sind, (siehe z. B. die 80/90: 100 Regel der Umsetzung der UN-BRK) aus. Kein Kind ist nicht ins Regelsystem aufzunehmen, keines aus diesem auszuschließen. Die in Folge resultierenden Veränderungen des Systems werden lange Zeiträume beanspruchen; das macht den Kompromiss aus. Ein entschiedenes »Nein« zur Selektion, Ausgrenzung und Zwangsinklusion in Sonderräume ist unabdingbare Voraussetzung, die dann viele Pfade ermöglicht, das zu realisieren. Der Ausschluss auch nur eines Menschen ist kein Kompromiss mehr, sondern Korruption.

Im Gespräch mit Politikern habe ich im Sinne einer Metapher immer betont, dass das gegenwärtige Schulsystem noch so viele AbiturientInnen hervorbringt, wie wir heute haben, ist nicht eine Leistung des Systems, sondern der Intelligenz von Kindern und Jugendlichen zu verdanken, die trotz des Systems und seinen zutiefst menschenverachtenden Praxen solches noch schaffen; ob das psychisch unverletzt der Fall sein kann, ist eine andere Frage. Auch, dass dieses EBU weder Menschen ohne noch mit Behinderungen oder Migrationshintergrund zuzumuten ist und dass es die Faktizität von Armut, sozialer und kultureller Deprivation weitgehend negiert. Man hat dafür ja den die Schuld an die Betroffenen delegierenden Jargon der ›Bildungsferne‹ der Familien dieser Kinder und Jugendlichen. Gleichzeitig dient aber der die Leistungsanforderungen überlebende Rest der Schülerschaft vor allem des gymnasialen Systems der Verstetigung des Gesamtsystems hinsichtlich Wirtschaft, Finanzsystem, Handel, Militär, Verkehr und Kunst, um nur einige Domänen zu benennen. Dafür bedarf es vielleicht 10% eines Jahrgangs, sodass es genügen mag, den verbleibenden 90% gerade jenen Grad an ›Kompetenzen‹ zu vermitteln, dass sie sozial nicht über Gebühr auffällig werden und im System als Verfügungsmasse, je nach Konjunkturlage, in den verschiedensten Domänen subaltern einzusetzen sind.

Zielstellung: kindgerechte Schule für alle Kinder

Bezogen auf den Beginn der Integrationsentwicklung in Deutschland vor mehr als vier Jahrzehnten kann ich in Bezug auf die KollegInnen, mit denen wir zusammenarbeiteten und mit denen wir uns austauschten, nur betonen, dass es – um es in dieser Formulierung auszudrücken – ganz klar um eine kindgemäße Schule für alle Kinder ging und die Frage der Integration im EBU primär eine pädagogisch-didaktische und damit eine Bildungsfrage ist. Ich denke da an Alfred Sander, an Helmut Reiser, Helga Deppe, Hans Eberwein, Hans Wocken, Wilfried Schley, Jutta Schöler und es ließen sich noch mehr nennen, die unmittelbar mit Schulversuchen konfrontiert waren; vor allem auch Jakob Muth. Das auch, wenn heute z. B. Hans Wocken, sich der Auffassung verpflichtet fühlt, dass doch für einen kleinen Rest schwer beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher deren Sonderschulung beizubehalten ist, was ich nicht für vertretbar halte.

Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma

Wenn ich heute die verschriftlichten Diskurse zur Inklusionsfrage betrachte, bedienen wir uns nahezu ausschließlich einer Sprache, die die Errungenschaften der Aufklärung für die Pädagogik weitgehend außer Acht lässt und, wie es z. B. mit dem Begriff des ›sonderpädagogischen Förderbedarfs‹ sehr deutlich zum Ausdruck kommt, eines aus dem Geist des Selektierens und des Segregierens stammenden Jargons. Das lässt sich weder damit begründen noch rechtfertigen, dass solche (diagnostischen) Zuschreibungen als Voraussetzungen fungieren, finanzielle und personelle Mittel zu bekommen, um Inklusion zu ermöglichen. Selbst wenn solche Begriffe im Recht verankert sind, kann man sie in Diskursen kritisch analysieren und sich dafür einsetzen, dass sie aus dem Gesetz verschwinden, so wie dies schon Anfang der 1980er Jahre in Dänemark mit dem Begriff ›Behinderung‹ möglich geworden war. Wer vermeintlich eines sonderpädagogischen Förderbedarfs bedarf, wird ›gefördert‹ und hat – was heute leider nicht nur aufgeweicht, sondern aus einem pädagogischen Verständnis schon weitgehend getilgt ist – seinen Anspruch auf Bildung verwirkt, ist aus dem Recht auf Bildung ent-setzt.

Verweigerung von stigmatisierender Diagnostik

Als in Bremen der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule anstand, wurde kein einziges Kind getestet oder diagnostiziert. Alle Eltern haben die Durchführung von Tests verweigert; auch Eltern nichtbehinderter Kinder. Und alle stellten Antrag auf gemeinsame Beschulung in Fortsetzung der Kindergartenzeit. Das waren hoch solidarische Akte. Die Reaktionen der Lehrerschaft dahingehend, dass sie dann keine zuverlässigen Informationen über ihre SchülerInnen hätten (als könnten Test solches schaffen!), wurde mit Einladungen in die Kindergärten beantwortet, wo die Kinder in ihren Sozialräumen und Handlungsfeldern und auch alle MitarbeiterInnen der Institution und die Eltern der Kinder anzutreffen waren. Das heißt nicht, dass notwendig fundierte Informationen über Beeinträchtigungen der Kinder vorenthalten wurden, so z. B. die Tetraspastik des einen Kindes, oder die aus einer Epilepsie resultierenden Dämmerattacken eines anderen Kindes, das Down-Syndrom oder ein Autismus-Syndrom eines weiteren etc. Die Überwindung einer kategorialen Heil- und Sonderpädagogik im Sinne ihrer Dekategorisierung hat nicht, wie z. B. von Herrn Ahrbeck zum Ausdruck gebracht, damit zu tun, Beeinträchtigungen und Entwicklungsstörungen oder entwicklungspathologische Phänomene (um den Begriff hier einmal der Bedeutsamkeit wegen in klassischer Weise zu verwenden) zu verschweigen oder, im Glauben, das sei Inklusion, zu schönen. Solche Tendenzen stelle ich mit Erschrecken in der Lehre und in Ausbildungszusammenhängen fest, was eine harte Kritik rechtfertigt. Ich musste an Institutionen, an denen ich in den letzten Jahren arbeitete, feststellen, dass bei den Studierenden kein auch nur minimalst ausreichendes Verständnis für Syndrom bedingte Beeinträchtigungen menschlichen Lernens und menschlicher Entwicklung vorliegen und die Ausbildungscurricula solches mit Hinweis auf Integration/Inklusion und zu vermeidender Stigmatisierung erst gar nicht anbieten. Das ist eine Katastrophe. Aber das hat nichts mit der Dekategorisierung des Faches zu tun, die nötig ist, um sich wieder dem Subjekt annähern zu können, dessen ihm zugeschriebene Diagnosen, wie Franco Basaglia in einem anderen Zusammenhang betont, ich glaube in seiner Arbeit mit dem Titel Was ist Psychiatrie, jede Annäherung verunmöglicht.

Subjektwissenschaftliche Grundlegung

Ein weiteres in diesen Zusammenhängen zu betrachtendes Vorurteil ist, dass die Inklusion die soziale Integration der Kinder dadurch zu bewerkstelligen versuche, dass sie Angebots- und Lernniveaus nivelliert und gut lernende Kinder in ihrer Entwicklung einschränkt. Es ist in meinen Ausführungen deutlich geworden, dass es gerade durch die subjektwissenschaftliche Grundlegung einer Allgemeinen Pädagogik um die Ermöglichung der Entfaltung der Lern- und Entwicklungspotenziale eines jeden Kindes und Schülers geht, um das Mögliche also, das im Gegenwärtigen (noch) nicht sichtbar ist. Die Zuordnung eines Kindes oder Schülers in eine Kategorie, z. B. einer geistigen Behinderung, negiert eine seine Potenziale entfaltende Bildung, fixiert sein Entwicklungsniveau auf das im entsprechenden Sonderschulsystem herrschende Angebot und reduziert soziale Kontakte auf in gleicher Weise kategorisierte MitschülerInnen – und beraubt das betroffene Kind, wie ich das zum Ausdruck bringe, seines Namens. So geht es um eine geistige Behinderung und nicht um den Knaben Jakob, für dessen Lernen die Bedingung einer Trisomie 21 besteht, um eine Körperbehinderung und nicht um Xaver, dessen Bewegungen durch eine cerebrale Parese beeinflusst sind und um eine Epilepsie und nicht um das Mädchen Erika, dessen zerebrale Anfälle eine Variable ihrer Lebensvollzüge sind, nicht mehr und nicht weniger – eben keine Konstante, wie das die Diagnostik suggeriert, sondern eine Variable, weil diese und sämtliche andere Bedingungen durch Lernen selbst Veränderungen unterliegen. Ich konnte oft beobachten, wie als geistigbehindert klassifizierte Kinder Innovationen zur Problemerfassung oder -lösung in ihre Lerngemeinschaften einbrachten, die auch für sogenannte hochbegabte und schnell lernende MitschülerInnen handlungs- und erkenntnisleitend wurden. Sehen Sie, in Bezug auf viele Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder, die ich oft schon im Alter von zwei oder drei Jahren kennenlernen durfte, habe ich deren Potenziale bei allem wissenschaftlichen Hintergrund für geringer eingeschätzt, als es sich dann erwies. Dafür schäme ich mich heute.

Projektunterricht

Und ich kann die Erkenntnis hinzufügen, dass sie durch forschendes Lernen in Teams eines projektfundierten Unterrichts sich ein Wissen erwarben, das sich dadurch auszeichnete, dass sie wussten was sie wissen, während der traditionelle Fächerunterricht, der übergeordneten Zusammenhängen enthoben ist und bei dem die Vermittlung von (später dann standardisiert abfragbarem) Wissen im Vordergrund steht, zu einem Wissen führt, das nicht gewusst wird. So bleibt Wissen totes Kapital für weiteres Lernen und die Lebensbewältigung. Es hat spätestens dann ausgedient, wenn die Klassenarbeit gelungen ist. Man will das nur nicht wahrhaben und schürt den Glauben an das mystifizierte, wunderbare Schulsystem, das wir haben. Mir ist das selbst so überdeutlich geworden, als ich nach mehr als zehn Jahren nach meinem Abitur und schon in der Lehrerbildung tätig, des nachts Alpträume hatte, in Mathematik im Abi durchzufallen, obwohl ich in Mathematik nicht schlecht war und meine Aufgaben zur Lösung bringen konnte. Ich suchte meine Abiaufgaben zusammen und präsentierte sie damals an der Rheinhardswaldschule in Kassel einer Gruppe dort tagender Mathematiklehrer an Gymnasien. Sie erklärten mir, was ich mit meinen Aufgaben eigentlich berechnet hatte. Ich kam also zu richtigen Lösungen ohne zu wissen, was ich tat. Danach hörten meine Alpträume auf. Ich beherrschte formal die Integralrechnung, aber ich hatte nichts davon verstanden.

Historische Bezugspunkte

Unterricht, wie schon erwähnt, als Lernen zu betrachten, das Entwicklung induziert, bedarf einer didaktischen Grundlegung, die mit dem gegenwärtigen Verständnis von Didaktik, das erziehungswissenschaftlich überwiegend der Methodik zuzuordnen ist, wenig bis nichts zu tun hat. Hinter die Didaktik von Wolfgang Klafki kann nicht zurückgegangen werden, wenngleich sie, wie ich das versucht habe, unter subjektwissenschaftlichen Gesichtspunkten weiterzuentwickeln ist. Selbst im ersten Lehrbuch der Heilpädagogik von Georgens und Deinhardt von 1861 finden sich Aussagen und Hinweise, die z. T. weitergehend sind als das, was heute als Standard fungiert. Sie erkennen die Heilpädagogik als Besonderung einer Tätigkeit, welche der Erziehung schlechthin zukommt und verorten sie damit – auf heute bezogen – in der Erziehungswissenschaft und damit in einer allgemeinen Didaktik. Sie begreifen das Fach, das sie mit ihrem Werk in den Rang einer Wissenschaft erhoben haben, als den pädagogischen Kampf gegen bestimmte Gestaltungen der Not und des Leidens, die in einer zivilisierten Gesellschaft hervortreten und ursächlich mit der Vernachlässigung zu tun haben, die die Gesellschaft den, wie sie sagen, »Heilbedürftigen«, zumutet. Schon sie fordern, die von Haus aus Ausgeschiedenen und Ausgestossenen in den Umkreis der menschlichen Gesellschaft aufzunehmen und ihre Isolierung aufzuheben – eine durch und durch der Inklusion würdige Aussage. Da frägt man sich wirklich, was der gegenwärtige Inklusionismus denn Substanzielles hervorgebracht hat. Zuzulassen zu denken, dass gesellschaftliche Verhältnisse schaffen, was dann heil- und sonderpädagogisch zu lösen aufgegeben ist, und diese Lösungsversuche selbst isolieren und dadurch Lernen und Entwicklung behindern, bricht noch heute Tabus. Sie erkennen in Ansätzen, dass es für politisch zu verantwortende gesellschaftliche Verhältnisse, die Lebensvollzüge von Menschen behindern oder Ursache für deren als ›pathologisch‹ aufscheinenden Entwicklungsverläufe sind, keine sonderpädagogischen Lösungen gibt. Die traditionelle Status-Diagnostik macht auch das gesellschaftlich Bedingte zum individuellen Gebrechen, fokussiert auf die Verhaltensweisen, die dann in Kombination mit dem Einschluss in Sonderinstitutionen auch heil- und sonderpädagogisch behandelt werden und negiert die Verhältnisse, macht sie unsichtbar. Was sichtbar bleibt, ist die diagnostizierte Pathologie, die dann im Dunkel der Institutionen verwahrt wird. Schließlich sieht man, wie Brecht schreibt, die im Dunkeln nicht mehr. Das ist, was diskutiert, enttarnt, aufgeschlüsselt und in die politischen Räume hinein transportiert werden muss, damit die Prozesse wieder sichtbar werden und die Betroffenen ihren Namen zurückbekommen. Ich hoffe, dass ich damit etwas ausdrücken konnte, was oft durch fachliche Begriffsschimären, wie ich es nenne, eher verschleiert, denn aufgeklärt wird.

Bottom-Up-Prozesse

Das ist nicht durch Verordnungen und Gesetze zu lösen, sondern dadurch und dort, wo Eltern, Lehrpersonen und Kindergarten- bzw. Schulleitungen zusammenkommen und sagen: »Wir machen das anders«. Wo immer Schulen andere Wege gehen, werden sie nicht durch unzumutbare Sanktionen blockiert, sondern, ganz im Gegenteil, gelingt das von einer Schule und ihrer Elternschaft auf den Weg Gebrachte, wie weit es auch immer dem Grundgedanken der Inklusion entsprechen mag, geht es durch die Presse und audio-visuellen Medien und wird schließlich selbst von Politikern oft nicht nur honoriert, sondern zu deren Renommee noch hervorgehoben. Ich erinnere nur an Berg Fidel. Es werden Filme gedreht, die, wie jüngst in Rostock erlebt, große Kinos füllen. Worin gründet also die Angst, anders zu arbeiten, auch schwer beeinträchtigte Kinder aufzunehmen? Es ist, so meine ich, u. a. Faktoren auch dem aus der Geschichte der Professionalisierung der Lehrtätigkeit heraus erklärbare vorauseilende Gehorsam, der die Lehrerschaft kollektiv durchdrungen hat, die subalterne, Knecht gleiche Verhaltensweisen den »Oberen« gegenüber zeigen und dadurch bedingt die Subordination einer für die Gesellschaft, ihren Erhalt und ihre kulturelle Weiterentwicklung bedeutendsten Wissenschaft, der Pädagogik, unter alle anderen gesellschaftlichen Belange verursachen, die ich schon benannt habe. Es zeigt sich ein fachlich und in den Personen gebrochenes Selbstbewusstsein hinsichtlich der gesellschaftlichen Bedeutung der eigenen Tätigkeit und eine in ihren Fragmenten verloren gegangene Berufsethik, die in der Geschichte noch nie auf einen erforderlichen Stand entfaltet und vereinheitlicht war.

Pädagogische Emanzipationsprozesse

So blüht auch der Etikettenschwindel mit der Inklusion. Aber eine Flasche, mit Essig gefüllt, bleibt Essig, auch wenn wir das Etikett eines Spitzenweines auf die Flasche kleben. Entsprechend bleiben wir die von den Basaglias benannten »Zustimmungsfunktionäre«, »Techniker des praktischen Wissens«, und »Angestellte der Herrschaft«. Die Pädagogik ist nicht Politik, aber sie ist hoch politisch und das verlangt, den Politikern klar aufzuzeigen, um was es pädagogisch gehen sollte. Dies ist eine seitens der Pädagogik hoch vernachlässigte Aufgabe. Nach innen gerichtet muss die Pädagogik einen Ausgang aus ihrer zu Teilen auch selbst verschuldeten didaktischen Unmündigkeit finden und die Problemlagen nicht weiterhin mit fraktionierten und Bildung fraktionierenden fachdidaktischen Ansätzen verkleistern, die, wie schon betont, erziehungswissenschaftlich überwiegend dem Bereich der Methodik zuzuordnen sind. Erforderlich ist eine Wiederbelebung und Weiterentwicklung der allgemeinen Didaktik auch als Grundbaustein pädagogischer Emanzipation. Erst von einer solchen Warte aus können auch fachdidaktische Ansätze tatsächlich im didaktischen Sinne wirksam werden. Wo man sich aus fachdidaktischen Ansätzen heraus der Inklusion annähert, so meine Beobachtungen, geht das in Richtung allgemeindidaktischer Reflexionen und Praxisorientierungen, eben auch in Richtung Projektunterricht.

Resümierend bleibt mir nur die Feststellung: Integration und Inklusion sind pädagogisch gesehen in keiner Weise etwas Beliebiges. Wo immer man Menschen (a) aus ihren Zwangsinklusionen befreit und ihnen (b) den Zugang in die Regelsysteme ermöglicht – diese Prozesse bezeichne ich heute mit dem Begriff der Integration – werden sich (c) die Regelsysteme im Sinne der UN-BRK in allen Lebensbereichen revolutionären Veränderungen stellen müssen, sie wollen und realisieren, dann können wir vielleicht von Inklusion sprechen. Pädagogisch, ich habe das zu skizzieren versucht, geht es um die Schaffung von Lernräumen, in denen Lerngemeinschaften in kommunikationsbasierten Kooperationen in Projekten an einem Gemeinsamen Gegenstand forschend und damit erkenntnisbezogen Wissen generierend lernen und arbeiten und durch Individualisierungen dieser Prozesse im Sinne einer entwicklungslogischen Didaktik, also entwicklungsniveaubezogen und auf die ›nächste Zone der Entwicklung‹ ausgerichtet, sich ihrer Möglichkeit nach (und damit auch bezogen auf noch nicht sichtbar Mögliches) entwickeln können. Besser kann ich diesen Komplex nicht beantworten.

Welche MitstreiterInnen sind für Sie besonders wichtig?

MitstreiterInnen

Da gibt es natürlich sehr viele. Bezogen auf die Umsetzung der Integration im sogenannten ›Bremer Modell‹ sind es in allererster Linie und unmittelbar die StudentInnen, die sich in Projekten von der Idee der Integration haben überzeugen lassen, sich tief in die Materie eingearbeitet haben und ihre Mitarbeit weit über das hinaus, was die Studienordnung verlangt hätte, eingebracht haben. Das gilt in gleicher Weise auch für die ambulante und stationäre Arbeit nach dem Konzept der SDKHT mit Menschen, die auch aus der Schweiz zu uns nach Bremen kamen, Menschen, die von allen Fachdisziplinen aufgegeben waren und nicht selten Jahre an sie traumatisierender Verwahrung erfahren mussten. Auch in diese Arbeit, in die humanwissenschaftlichen Hintergründe der Konzeption und deren Umsetzung haben sie sich nicht nur eingearbeitet, sondern auch hinsichtlich der Organisation und Durchführung der Basistherapie auch im sogenannten Trockentraining eingeübt. Die Studierenden konnten damit natürlich auch ihre Bildungsinteressen realisieren und im Rahmen des Projektstudiums alle erforderlichen Leistungsnachweise damit verbinden.

Eltern als PartnerInnen

Die zweite, in gleicher Weise bedeutende Gruppe vor allem hinsichtlich der Umsetzung der Integration waren die Eltern der behinderten und nichtbehinderten Kinder. Auch Eltern, die unter sehr prekären Bedingungen von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ausgrenzung ihr Leben bewältigen mussten, dies damals mit zunehmender Aushöhlung der verschiedensten Unterstützungssysteme bis hin zum Abzug von Sozialarbeitern aus sozialen Brennpunkten der Stadt, waren für die Sache zu gewinnen. Eltern, die ihre Kinder geschlagen haben, erwiesen sich nicht als brutale Gewaltmenschen, sondern versuchten aus ihrer Not heraus das Beste für ihre Kinder zu bewirken. Wenn man ihnen in Anerkennung ihrer Würde begegnete, waren sie für das Vorhaben der Integration und einer völlig anderen Erziehungspraxis ansprechbar und, wie ich es vor allem auch in Gießen an der MBS erleben konnte, bald tragende Säulen der Entwicklungen. Vor allem Eltern schwerer beeinträchtigter Kinder vermissten die ihnen aus Sondereinrichtungen bekannten und vermeintlich zur Therapie unbedingt erforderlichen Utensilien und waren in Sorge, dass ihre Kinder nicht hinreichend therapeutisch versorgt sein könnten. Es war interessant zu erkennen, dass z. B. ein Spastiker-Ball oder eine Rolle allein durch ihre Anwesenheit diese Sorgen beruhigte. Die Geräte an sich machen nichts und was mit ihnen getan wird und wie, das wurde als an sich gut wahrgenommen und nicht hinterfragt. Im Prozess der Aufklärung darüber und dass therapeutische und assistive Hilfen direkt in die Kooperationen der Kinder mit den zu bearbeitenden Sachverhalten hinein angeboten werden, machte den Eltern Sinn, zumal ihnen jederzeit unmittelbar Einblick in die Arbeit gewährt wurde.

Kompetenztransfer

Auch das Prinzip des Kompetenztransfers überzeugte. Dabei geht es darum, dass z. B. ein/e KrankengymnastIn nicht nur mit einem Kind arbeitet, das dieser Therapie bedarf, sondern mit einem/r ErzieherIn oder einer Assistenz des Kindes, damit diese im Alltaghandeln einen auch therapeutisch wirksamen Umgang mit dem Kind erlernen können, zumal diese Personen über lange Zeit in unterschiedlichsten Zusammenhängen mit ihm arbeiten. Dadurch kann auch vermieden werden, dass die ErzieherInnen oder Assistenzen problematische Bewegungsmuster des Kindes mangels Wissen und Können sogar noch verstärken. In einer Institution für Körperbehinderte gibt es für ein Kind vielleicht zweimal in der Woche im Therapieraum eine Sequenz in Physiotherapie, die wenig mit den Alltagshandlungen des Kindes zu tun haben. Im Regelkindergarten konnten den Kindern durch den Kompetenztransfer bald von Anfang an in jeder Situation des Tages ein angemessenes Handling im Sinne einer therapeutisch wirksamen Unterstützung ihres Tuns zuteilwerden. So auch im Bereich Sprache. Das war einer der Gründe, dass die Kinder oft in kurzer Zeit Entwicklungen realisieren konnten, die über die von mir erwarteten Möglichkeiten hinaus wiesen und von Ärzten oft für völlig unmöglich gehalten wurden.

Skepsis gegenüber der Wissenschaft

Ich erinnere einen Vater, der mir bezüglich der Aufnahme seiner Tochter in das integrative Kindertagesheim nach Jahren bekannte, dass er meinte, da komme mal wieder jemand von der Universität, mache schnell etwas, um publizieren zu können, und verschwindet dann wieder. Wir haben die Sache der Integration über eineinhalb Jahrzehnte gemeinsam betrieben und viele der zu Beginn sehr skeptischen Eltern wurden zu Hauptvertretern des Anliegens. Es ist meine durchgehende Erfahrung, dass Eltern, wenn wir ihnen vermitteln können, dass es uns um ihre Kinder geht, um die bestmögliche Realisierung ihres Lernens, um ein humanes Lernen und um Bildungsgerechtigkeit, dann sind Eltern bald die zuverlässigsten Bündnispartner. Ich war und bin sehr erschrocken, wie in vielen Institutionen, gerade auch in der Schweiz, das Verhältnis von Eltern und Fach- und Lehrpersonen sehr gestört ist und man sich nicht selten feindlich begegnet.

Politische
PartnerInnen

Ein weiterer, in gleicher Weise bedeutender Partner – ich habe das schon angedeutet – waren die Leitung und Mitarbeiterinnen des Landesverbandes Evangelischer Kindertagesstätten der Bremisch Evangelischen Kirche, Frau Wehrmann in der Leitung, Frau König und Frau Peppel. Und, last, not least, ist auch Herr Senator Franke hier in Fortsetzung der integrativen Frühen Bildung im Schulversuch zu erwähnen. Ich würde es so sagen: Er ist bis an die Grenze des mit seiner senatorischen Behörde und damit der Administration seines Hauses Möglichen gegangen – auch in Bezug auf seine Partei, die SPD. Sein Ausscheiden aus dem Amt aus gesundheitlichen Gründen, wie es hieß, sah ich damals, als das Gymnasium tangiert wurde, eher in dem Ansinnen begründet, auch dort inklusiv zu arbeiten. Aber das ist meine Wahrnehmung.

Finanzierung
von Integration

Wenn ich das einmal als die regionale Seite des Prozesses bezeichne, so kommt noch die nationale und internationale hinzu, also Fragen der Entwicklungen im Feld der Fachwissenschaft. Hier gab es Mitstreiter, aber auch Gegner, was sich allerdings dahin entwickelte, dass einerseits bald niemand mehr etwas fachlich fundiert gegen die Entwicklung und Praxis der Integration einwenden konnte, es andererseits aber auch obsolet wurde, gegen Integration zu sein. Das führte dann zu den verdeckten Blockaden der Entwicklung und z. T. sehr repressiven Maßnahmen, die natürlich nicht als gegen die Integration gerichtet bezeichnet wurden, sondern offiziell aus anderen Gründen erfolgten. Die beliebteste Verweigerung waren die Hinweise, dass die Integration zu teuer und nicht zu finanzieren sei. Kompetente Rechenmodelle zeigten auch für den Stadtstaat, dass eine Vollintegration mit den Mitteln des segregierenden Systems bewältigt werden könnte und allenfalls der Übergang zusätzliche Mittel erforderlich macht. Für den Schulversuch Integration hatte ich für die Dauer der Anzahl der Unterrichtswochen eines Schuljahres zwei studentische Mitarbeiterinnen mit unzureichend wenig Wochenstunden; wir waren der am schlechtesten ausgestattete Schulversuch in der BRD. Leider, und das ist sehr schmerzhaft, gab es keine Mittel, auch nicht seitens der Universität, allein die erhobenen Daten mit von uns entwickelten Beobachtungssystemen, die die Qualität der Sozialkontakte zwischen allen Beteiligten, also SchülerInnen, LehrerInnen und Fachkräften qualitativ erfassten, auszuwerten. Mit meinem Weggang von Bremen nach Zürich habe ich 6000 Seiten digitalisiertes Datenmaterial vernichtet, das bis heute sowohl hinsichtlich der Erhebungsverfahren wie der Auswertung einmalig gewesen wäre. Im Zwischenbericht zum Schulversuch Integration von Heike Meyer und mir findet sich eine Darstellung des Verfahrens der ›Sequentierten Interaktionsanalyse‹, falls das jemanden interessieren sollte.

Bedeutung
der Kinder

Aber: Die Hauptmitstreiter, das waren die Kinder und SchülerInnen. Wenn es Ferien gab, weinten die Kinder oft, weil sie ihre Projekte fortsetzen oder neue beginnen und darin nicht gestört sein wollten – in den Kindergärten wie in der Schule. Vielleicht ist das die überzeugendste Evaluation.

Sie haben jetzt schon ganz viele Bezüge zur Praxis angesprochen. Gab es da noch welche, die Sie jetzt noch nicht genannt haben?

Verzahnung von Theorie und Praxis

Das waren schon die zentralen Praxisbezüge. Durch unsere Studienkonzeption in Bremen waren Theorie und Praxis nicht, wie meist üblich, getrennt, sodass die Studierenden permanent die Erfahrung machen konnten, dass humanwissenschaftlich vertretbares und zielführendes Handeln einer fundierten Theorie bedarf und die bearbeiteten Theorien nicht nur praxisrelevant sind, sondern geradezu praxisleitend. Das schließt die Forschung mit ein, die nicht unabhängig davon in anderen Feldern oder bezogen auf andere Thematiken separiert erfolgte. Das mir so oft begegnende Dilemma der Theoriefeindlichkeit gerade in der Pädagogik hatte bei uns keinen Nährboden. Die Arbeit mit der SDKHT, das wäre sicherlich noch zu erwähnen, ging ja auch in den Bereich der Arbeit mit Menschen im Koma und Wachkoma hinein. Ich hatte schon kurz darauf verwiesen. Es ging damit auch darum, aufzuzeigen und nachzuweisen, dass Menschen, solange sie leben, gleich welcher Unterstützung sie bedürfen, lernen können – und wollen. Aufgegebene Menschen aus desolaten Zwangsinklusionen zu befreien und mit ihnen gemeinsam neue Lebensperspektiven zu entwickeln und zu realisieren galt auch für den Bereich der Frührehabilitation schwerst hirnverletzter Menschen, für die oft die lebensunterstützenden Systeme der Intensivmedizin abgeschaltet werden sollten, weil sie aufgegeben waren.

Arbeit mit KomapatientInnen

Ich erinnere eine Studie, die aufzeigte, dass 60% der bundesdeutschen Bevölkerung annimmt, dass Menschen im Koma tot seien. Das führt – eben auch für die Studierenden – in das Feld bio-politischer und bio- und medizinethischer Zusammenhänge hinein, in Bereiche der ›neuen Euthanasie und Lebenswertdebatte‹, des Hirn- und Teilhirntodes, Konstrukte, die die sich perfektionierende Technik der Organtransplantationen hervorgebracht hat. So gesehen, sind utilitaristische und präferenzutilitaristische Annahmen, aber auch einige Aspekte der analytischen Philosophie und ihre ethischen Implikationen allgegenwärtig. Auch die Neurowissenschaften mit Konzepten der Frage von Bewusstsein als zentrales Moment menschlichen Lebens mischen in diesem Bereich kräftig mit. Exemplarisch konnten die Studierenden das anhand der Initiative zur Rettung des Lebens von Monika Schubert über Jahre erfahren. Ich kann den Namen hier nennen, weil sie mir das selbst erlaubt hat und die Arbeit mit ihr und ihre Arbeit auch durch Presse und Fernsehen bekannt geworden sind. Frau Schubert war durch drei aufeinander folgende Schlaganfälle, deren Vorläufersymptomatik man leider medizinisch nicht hinreichend ernst genommen hatte, in ein Koma gekommen, das bezogen auf die Glasgow-Scale die tiefste Komatiefe auswies. Die lebenserhaltenden Systeme sollten abgeschaltet werden. Dem widersprach ihre Mutter und auch ich hielt das weder für angemessen noch ihren Interessen entsprechend. Wir kannten Frau Schubert aus der Teilnahme an unserem Doktorandenkolloquium. Sie war Geschichts- und Russischlehrerin und promovierte zu Wassili Suchomlimskis humanistischer Pädagogik. Drei studentische Teams arbeiteten über Jahre täglich drei Stunden mit Frau Schubert mit unterschiedlichsten thematischen und therapeutischen Inhalten und Maßnahmen im Konzept der SDKHT. Sie überwand das Koma, konnte über eine Zwischenzeit in einem Pflegeheim wieder in die eigene Wohnung zurückkehren und mit einer Assistenz rund um die Uhr zu Hause leben und auch wieder an ihren Themen arbeiten. Jeder von mir befragte Neurologe meinte aufgrund der ihm vorgelegten MRT ihres Gehirns, dass man mit einem solchen Gehirn nicht leben könne. Wenn ich dann Videoaufzeichnungen aus unserer Arbeit mit ihr und einen Fernsehbericht von Radio Bremen zeigte, wie sie lebt, an ihrer Dissertation arbeitet, mithilfe eines Delta-Talkers einen Vortrag an der Universität hält, ihre Disko besucht, eine Auslandsreise unternimmt, um Freunde zu besuchen, war das Erstaunen sprachlos groß. Viele Anregungen aus dieser Arbeit wurden auch anderenorts übernommen und umzusetzen versucht, so z. B. auch durch den Kollegen Ernst Berger an der neuropsychiatrischen Abteilung für Kinder und Jugendliche des neurologischen Krankenhauses Rosenhügel in Wien oder durch den Kollegen Andreas Zieger an der Universitätsklinik für Neurologie am Evangelischen Krankenhaus Oldenburg in der Neurorehabilitation.

Eine andere Arbeit war die mit einem Buben, der infolge eines Ausfalls von Reanimationsgeräten nach einem Krupphustenanfall ins Koma kam und schwerste Hirnschädigungen erlitt. Man sprach damals von einem Apallischen Syndrom; ein untauglicher Begriff. Es sollte hier von einem Wachkoma gesprochen werden. Er galt, um es hier kurz zu sagen, als reines Stammhirnwesen, unfähig zu lernen. In der Sprache von Euthanasiebefürwortern »human vegetable«. Man sprach ihm symbolisch ein unscheinbar kleines Schmerzensgeld zu, weil er, wie begründet wurde, mit Geld nichts anfangen könne. Die Eltern meldeten sich nach Jahren völlig verzweifelt und am Rande ihrer Möglichkeiten, ihren Sohn zu versorgen, in meiner Sprechstunde, nachdem sie von unserer Arbeit gehört hatten. Der Junge wurde weder beschult noch die Eltern in irgendeiner Weise unterstützt. Wir arbeiteten mit dem Jungen und sein ›Fall‹ wurde auch juristisch wieder aufgegriffen. Durch die Arbeit mit ihm im Konzept der SDKHT konnten wir nachweisen, dass er lernfähig ist und Dinge erlernen konnte, die eine Beteiligung kortikaler Strukturen des Gehirns erfordern, sodass auch nachgewiesen werden konnte, dass neuronale Funktionen über alle Regionen des Gehirns organisiert werden konnten. Juristisch wurde ein hohes Schmerzensgeld erzielt, das den vom Bundesgerichtshof vorgesehenen Höchstbetrag für solche ›Fälle‹ um ein Vielfaches überstieg, und er konnte für vier Jahre mit seiner Mutter in einer behindertengerechten Wohnung mit Assistenz leben, die Schule besuchen u. a. m. Daraufhin änderte der Bundesgerichtshof für solche ›Fälle‹ seine Rechtsprechung. Ich durfte das umfassende Gutachten nicht veröffentlichen; eine Bedingung der beklagten Stadt. Später verstarb der Junge infolge eines epileptischen Anfallgeschehens, das aufgrund dessen nicht bemerkt wurde, weil der Nachtdienst, der für ihn erforderlich gewesen wäre, aus Kostengründen in eine Nachtbereitschaft für eine ganze Station des Hauses, auf der er zu dieser Zeit lebte, nicht mehr gewährleistet war. So bezahlen Menschen, die letztlich im gesellschaftlichen Dunkel bleiben, mit ihrem Leben für die Kürzungen im Sozial- und Gesundheitsbereich. Aber das ist in der öffentlichen Wahrnehmung wohl kein Problem und wenn, dann eben normal.

Veränderungen in der LehrerInnenbildung

Sie sehen, die Praxisfelder waren im stationären und ambulanten Bereich sehr breit angelegt, von den vielen Fach- und Institutionsberatungen ganz zu schweigen. Allein dadurch, dass den Lehrpersonen an Regelschulen und in der Mehrzahl auch denen, die ein Studium der Heil- und Sonderpädagogik absolviert haben und als SonderschullehrerInnen bzw. schulische HeilpädagogInnen tätig werden, solche Erfahrungen fehlen, erklärt sich das Unvermögen, sich die Aufnahme schwerst beeinträchtiger Menschen in Regelkindergärten und –schulen auch nur vorstellen zu können, ganz zu schweigen davon, begreifen zu können, dass dies eine Bereicherung des Unterrichts für alle Kinder und SchülerInnen sein kann. Das gilt auch für die Beschäftigung dieser Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Vieles, was pädagogisch für eine inklusive Arbeit in Kindergarten und Schule hoch relevant ist, lässt sich weder aus der eigenen Lerngeschichte noch durch Hospitationen und Praktika in Kindergärten und Schulen erfahren. Von daher müssten im Rahmen von Ausbildung und Studium auch Kenntnisse und Erfahrungen aus dem Bereich der Neurorehabilitation angeeignet werden können.

Effekte jahrgangsübergreifenden Lernens

Oft stoßen die Vorstellungen aber schon mit der Frage der Überwindung der Jahrgangsklassen an Grenzen. Ich habe schon auf die von Pestalozzi in seiner Anstalt zu Stanz gemachten Erfahrungen verwiesen. Die Wiener reformpädagogischen Mehrstufenklassen, die auch integrativ arbeiten und keine Kinder wegen Art oder Schweregrad der Behinderung ausschließen, wenn Eltern die Regelbeschulung für ihr Kind wünschen, dürften im deutschsprachigen Raum heute diesbezüglich wegweisend sein. Sie weisen schon eine langjährige Praxis aus. Über Jahre konnte ich im Rahmen der Etablierung der Integration von Kindern mit ›autistischer Wahrnehmung‹ viele Einblicke in die Mehrstufenarbeit gewinnen und auch dort meine Auffassung bestätigt finden, dass ein wirklich inklusiver Unterricht der Altersmischung, wie man das in der Schweiz nennt, oder eben jahrgangsübergreifender Lerngemeinschaften unabdingbar bedarf. Es ist geradezu der Grad an Heterogenität der Kinder und SchülerInnen, der in ihren Lerngemeinschaften Synergien freisetzt, die in jahrgangsorientierten Klassen nicht ermöglicht werden können. Verkürzt gesagt: Die Selbstregulation der sozialen Bezüge und sachbezogenen Kooperation entlassen die Lehrpersonen aus der Falle ständig kritisierender, disziplinierender negativer Interventionen – in Bremen konnten wir solche Verhaltensweisen mit 70–80% der pädagogischen Einflussnahmen messen –, da sich die SchülerInnen selbst wechselseitig motivieren und auch in ihren Handlungen regulieren bis hin zu schwierigen Konfliktlösungen, die ohne Gewalt und solidarisch ausgetragen werden können und das entlastet die Lehrpersonen. Die Kinder finden oft Lösungen zur Verbesserung der Teilhabemöglichkeiten eines auch schwer beeinträchtigten Mitschülers, was Fachkräften oft nicht gelingt. Selbstverständlich ersetzt das keine Lehrpersonen und es bedarf eines frühen Lernens solcher Umgangs- und Arbeitsformen, wie wir das in den Kindertagesheimen in Bremen realisieren konnten. Dann ist solches Handeln und Arbeiten schon mit dem Eintritt in die Schule weitgehend entwickelt und selbstverständlich, wenn nicht ein unsinniger, die SchülerInnen zueinander in Gegnerschaft versetzender Leistungsdruck und sie diffamierende und beschämende Etikettierungen durch Bewertungen ihren Gemeinsinn zerstören.

Demokratisches Lernen

Die überregulierte und in vielen ihren Dimensionen total regulierte Schule bedarf, um ihren Bildungsauftrag wahrnehmen zu können, sofern sie das überhaupt noch als ihren Auftrag versteht und nicht nur affirmative Strategien des Lernens verfolgt, eines großen Maßes an Anarchie. Der Begriff ist leider seiner ursprünglich aus dem Griechischen kommenden Bedeutung der ›Herrschaftslosigkeit‹ beraubt, nur noch negativ konnotiert und als Gesellschaftsmodell total geächtet. Herrschaftslosigkeit ist nicht, wie es sich durch die Geschichte zieht, gleichbedeutend mit Zügellosigkeit (im Sinne von Führungslosigkeit), Rechtlosigkeit und ein Einfallstor der Tyrannei und sie bedeutet auch nicht die Missachtung von Autorität, wohl aber autoritärer Strukturen, von denen das EBU wie ein Schwamm, bis an die Grenze dessen, was er an Wasser halten kann, durchtränkt ist. Das verhindert angstfreies, solidarisches und kreatives Lernen. Die Altersheterogenität ist ein zentraler Faktor für das Entstehen einer sozialen Ordnung, die nicht durch Herrschaft von oben verordnet wird und dadurch erfahrbar macht, was Demokratie meint und bedeutet. In einem Lernkollektiv kann jedes Mitglied die Führung z. B. eines Teilvorhabens übernehmen, was eine Lerngemeinschaft als Kollektiv auszeichnet; die Lehrpersonen einbezogen. Die Schule, so meine Auffassung, versagt heute weitgehend darin, das zu schaffen, wessen wir in unserer demokratisch verfassten Gesellschaft am Dringlichsten bedürfen, nämlich Demokratiefähigkeit, die nicht verordnet, sondern nur in Freiheit und durch Mündigkeit erreicht werden kann, eben dadurch, sich im Sinne Kants seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen bedienen zu können. Die Bewertung der Situation der Regierungsbildung nach den letzten Bundestagswahlen ist ein beredtes Beispiel dafür, wie unterentwickelt das Demokratiebewusstsein in unserer Gesellschaft bereits ist.

Internationale Kontakte

Um auf Ihre Frage zu noch zu erwähnenden Praxisbezügen zurückzukommen, wären auch langjährige internationale Kontakte und Arbeitszusammenhänge zu erwähnen, wie sie mit Bezug auf meine Tätigkeit in der Schweiz, mit den Verweisen auf die Arbeiten von Franco Basaglia mit Italien, und in Bezug auf Österreich schon angeklungen sind und sich auch in der Zusammenarbeit mit dem österreichweiten Elternverband »Integration:Österreich« bis heute realisiert hat. Erwähnen möchte ich vor allem auch die Kontakte in die USA, namentlich zentral verbunden mit dem Kollegen Tom Bellamy und seinem Forschungsprojekt am Center on Human Development der University of Oregon, Eugene, schon zu Zeiten meiner Arbeit an der MBS in Gießen, die sich dann auch von Bremen aus weiter fortgesetzt haben. Im Rahmen des ›Specialized Training Program‹ ging es z. B. um die Eingliederung langjährig psychiatrisch verwahrter Jugendlicher und Erwachsener in ein selbstständiges Wohnen und Leben und ihre Befähigung, auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten zu können; also um Fragen der Integration Erwachsener, auch solcher, die aufgrund ihrer herausfordernden Verhaltensweisen in den Psychiatrien stereotaktischen Hirnoperationen unterzogen worden waren, was ihre Persönlichkeit total zerstört hatte. Eine kleine Anmerkung: Viele der behinderten Menschen kamen aus der Anstalt, die mit dem Film Einer flog übers Kuckucksnest bekannt geworden ist.

Unterstützte
Beschäftigung

Anlass waren die mir zugänglichen Arbeiten von Tom Bellamy und seinen MitarbeiterInnen, die bezogen auf die erwähnte Zielsetzung eine sehr erfolgreiche Arbeit mit diesen Menschen beschrieben, die damals in Deutschland nicht einmal in den Anlernbereich einer Werkstatt für Behinderte aufgenommen wurden, geschweige denn, dass diesbezüglich auch nur entfernt an eine partizipative Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt gedacht worden wäre, was heute, selbst ein Jahrzehnt nach Inkrafttreten der UN-BRK, selbst für weniger schwer beeinträchtigte Menschen kaum denkbar erscheint. Dort, aber auch in Madison, Wisconsin, war man im Übergang der 1970er zu den 1980er Jahren weiter als wir uns das im Zeichen der Inklusion heute vorstellen können, bei allen Verdiensten des Konzepts der »Unterstützen Beschäftigung«, das sehr zentral von Stefan Doose auf der Basis entsprechender Erfahrungen in den USA in der BRD entwickelt wurde, aber leider noch immer schwer beeinträchtigte Menschen praktisch nicht erreicht hat. Mir wurde damals im wahrsten Sinn des Wortes einsehbar deutlich, wie blockierend die caritativ motivierte Organisation und Umsetzung des Behindertenbetreuungssystems in der BRD gegenüber dem empirisch orientierten, behavioristisch fundierten Vorgehen wirkte. Es wurde in den Diskursen zu solchen Fragen auch bei uns in Bremen oft nicht gesehen, dass die materialistische Theorie in gleicher Weise wie die Behavioristische bei aller Unterscheidung anderer philosophisch zentraler Komponenten, eine gemeinsame haben, nämlich ihre empirische Grundauffassung. Ich verkürze: Es ist die Auffassung, dass auch psychische Phänomene grundsätzlich erklärbar und mithin die hervorgebrachten Verhaltensweisen gewordene, erlernte sind und diese mithin veränderbar. Wenn ich die inneren Bilder des Dahinlebens vergleichbar schwer beeinträchtigter und entwicklungsgestörter Menschen in unseren Heimen und Anstalten mit dem freudigen Leben, Wohnen und Arbeiten der Menschen in der Kommune in Eugene verglich, war ich damals geneigt, meine Ernennung zum Professor wieder zurückzugeben. Schon in den 1950er Jahren wurde das Black-Box-Modell infrage gestellt und mit der sogenannten Kognitiven Wende in den 1970er Jahren schließlich überwunden und in vielen Staaten der USA sogar geächtet. Die »Operants«, wie es hieß, waren out. Die damit verbundenen Orientierungen eröffneten Arbeits- und damit Lernmöglichkeiten und Lebensweisen für die betroffenen Menschen, die hier, wie mit der irrationalen Abwehr der Einrichtung der Fachräume unseres Studiengangs schon geschildert, nicht im Mindesten fachlich solide zur Kenntnis genommen wurden. Ich selbst konnte damals sehr viel für meine Arbeit in Gießen und auch in Bremen lernen, bis dann später, als das Arbeitsmodell der SDKHT entwickelt und wiederholt erprobt war, man mich fragte, ob nicht StudentInnen aus Eugene zu uns zum Studium kommen könnten. Das ging nicht. Es schien mir in Anbetracht der total unter dem absoluten Minimum liegenden Ausstattung, mit der wir arbeiten mussten, nicht vertretbar, Gaststudierende in der SDKHT auszubilden; leider. Wir mussten die stationäre Arbeit im Jahr 2000 einstellen. Auf dem Hintergrund der entwickelten humanwissenschaftlichen und philosophisch materialistischen Fundierung dieser Arbeitsweise waren wir einer vorwiegend behavioristisch fundierten Arbeitsweise mit diesen Personenkreisen überlegen und konnten sie u. a. auch auf Menschen im Koma und Wachkoma erfolgreich anwenden. In Zürich konnte ich vergleichbare Arbeitsmöglichkeiten nicht einrichten, da ursprünglich nicht angedacht war, dass ich dort schließlich doch fünf Jahre arbeiten würde, was das ermöglicht hätte.

Italien

Von besonderer Bedeutung war auch die Entwicklung der Demokratischen Psychiatrie in Italien, die mit dem Namen Franco Basaglia unmittelbar verbunden ist. Darauf aufmerksam geworden, ermöglichten die Schriften, Besuche und persönliche Kontakte die Erfahrung, dass es in gleicher Weise Denkende und die Verhältnisse Analysierende gab, die unsere Erkenntnisse und Auffassungen, die stets diskriminiert und als ›spinnert‹ bezeichnet wurden, bestätigten. Das war für Wolfgang Jantzen und mich, auch bei gemeinsamen Besuchen in Italien, eine bedeutende Erfahrung. Die Demokratische Psychiatrie strahlte auch auf das EBU in Italien aus und vor allem bei Andrea Canevaro von der Universität Bologna fand ich in Bezug auf die Konsequenzen der Befreiung der als behindert kategorisierten Menschen aus ihren Zwangsinklusionen in sonderpädagogischen Institutionen und für ihre Integration ins reguläre Bildungssystem Begründungszusammenhänge, die sich auch historisch der gleichen Quellen bedienten, die ich in meinen Arbeiten anführte. Leider wurde Andrea Canevaro in Deutschland kaum bekannt, da seine grundlegenden Arbeiten nicht übersetzt worden waren, dies ganz im Gegensatz zu dem leider schon verstorbenen Kollegen Nicola Como, um dessen Arbeiten sich die Kollegin Jutta Schöler sehr bemühte. Die Kontakte führten von Franco Basaglia auch nach Arezzo zu Agostino Pirella, der in Gorizia noch mit Franco Basaglia zusammengearbeitet hatte und dann die Anstalt zu Arezzo reformierte. Angestoßen durch Andrea Canevaro in Bologna führten die Wege auch nach Florenz. Dort schuf Adriano Milani Comparetti ein völlig neues Denken über Kinder mit zerebralen Paresen, die als körperbehindert gelten, und entwickelte im Sinne der Integration neue kompetenzorientierte Arbeitsansätze mit ihnen. Er war der Bruder des Priesters und Schulreformers Don Lorenzo Milani, der mit seiner »Schülerschule« in Barbiana und durch die Schrift Brief an eine Lehrerin sehr bekannt geworden ist. Papst Franziskus besuchte jüngst das Grab dieses – auch aus Sicht der katholischen Kirche – Rebellen und Reformers. Die Entwicklungen in Florenz wurden in Deutschland vor allem durch Otto Roser bekannt. Auch diesbezüglich ergab sich ein wichtiger wissenschaftlicher Austausch und große Solidarität in Bezug auf die Notwendigkeit einer tiefgreifenden Reform des Bildungswesens. Die Rezeption dieser Entwicklungen erfolgte in Deutschland weitgehend unter Ausblendung der sie in Italien ermöglichenden gesellschaftlichen und politischen Hintergründe. Die entsprechenden Gesetzesänderungen waren nur durch Mehrheiten und Einfluss der kommunistischen Partei Italiens möglich geworden. Als diese Zusammenhänge deutlicher in Erscheinung traten, wurde der Widerstand gegen unsere Aktivitäten bezüglich der Integration im Feld der Pädagogik und Psychiatrie massiver und der damalige Vorsitzende des Bundesverbandes Deutscher Sonderschulen (VDS), Herr Bruno Prändl, diffamierte diese Entwicklungen als »italienische Seuche«. Das vermag ein sehr deutliches Zeichen für die Widerstände sein, die uns entgegenschlugen. Das in Anbetracht dessen, dass es um nichts mehr und nichts weniger ging, als den Menschen und seine Lebensperspektiven in den Mittelpunkt pädagogischen und therapeutischen Handelns zu stellen und einem biologistisch-medizinisch-psychiatrisch fundierten Defizitmodell den Boden und den Institutionen die Macht ihrer Zugriffsmöglichkeiten auf entsprechend klassifizierte Menschen zu entziehen. Der Mensch ist der Souverän und darf seiner Rechte nicht entsetzt werden.

Humanisierungs- und Demokratisierungspotenzial

Gerade die Pädagogik müsste daran das größte Interesse haben, aber sie erwies sich – und erweist sich bis heute – als Instrument der Entsetzung von Recht, der Unterdrückung und macht seine Klientel zu Untertanen, beraubt sie ihrer Mündigkeit und Selbstbestimmung bzw. verhindert, dass sich der Mensch dahin entwickeln könnte, sein Handeln in Reflexion seiner sozialen und ethischen Verantwortung selbst zu bestimmen. Die Integrationsbewegung hatte, so gesehen, von Anfang an ein Humanisierungs- und Demokratisierungspotenzial und damit in gleicher Weise hoch bedeutsame fachliche und politische Dimensionen. Man hätte das alles schriftlich dokumentieren und publizieren sollen, aber ohne Ressourcen, täglich entsprechend diesen Überzeugungen in die konkrete Arbeit involviert, blieb dazu kaum Kraft und Zeit. Das ist mir heute ein sehr großes Problem. Dies nicht, weil ich der Meinung wäre, dass solches Schrifttum in einer Zeit des Ahistorismus, der ›Alternativen Fakten‹ und einer immensen fachlichen Verflachung und Verelendung der Pädagogik und in Anbetracht dessen, dass im Zeitalter der SMS-Sprachverstümmelungen selbst Studierende nur mit Mühe einen philosophisch oder fachlich anspruchsvollen Satz mit einem eingeschobenen Infinitiv noch sinnentnehmend lesen können, von Interesse wäre, sondern um einer potenziell möglichen Zukunft willen, die damit etwas anzufangen weiß.

MitstreiterInnen hat es auf vielen Ebenen gegeben, wenn man MitstreiterInnen als Kontexte betrachtet, die einen ermutigt haben, die solidarisch waren und von denen man im Austausch mit ihnen selbst wieder neue Ideen gewinnen konnte.

Dann bleiben wir doch gleich bei der Frage, welche Internationalen Forsche­rInnen für Sie am bedeutsamsten waren? Wir hatten jetzt hier die Italiener …

Erfahrungen
aus den USA

Ja, das sind auf jeden Fall die Italiener. Es sind aber auch die Erfahrungen, die ich, ausgehend von Eugene, in den USA bezogen auf das Mainstreaming machen konnte. Mainstreaming war damals der Begriff, die vielen Strömungen im Bildungsbereich zu einem Hauptstrom zu vereinen, wie wir das mit dem Integrationsbegriff bezeichneten. Bezogen auf die Studienkontexte waren die Studierenden in Eugene von Anfang an in Feldern tätig, mit denen sie sich an der Universität wissenschaftlich befassten und es gab sehr enge Kontakte zwischen Universität und Schulen. Die Studierenden waren als ›Student Teacher‹ tätig und konnten durch diese Arbeit einen Teil der schon damals sehr hohen Studiengebühren finanzieren, während bei uns die Studierenden überwiegend in Arbeitsverhältnissen ihren Lebensunterhalt verdienen mussten, die nichts mit ihrem Studium zu tun hatten. Immerhin kamen wir mit unserem Projektstudium in Bremen der engen Verknüpfung von Theorie und Praxis an den Universitäten, die ich in den USA kennenlernen konnte, sehr nahe. Dadurch konnte ich sehr viel lernen und war selbst in verschiedenen Zusammenhängen in das Training der Studierenden in konkreten Arbeitsfeldern, aber auch an der Universität, vergleichbar unserer Fachraumkonzeption in Bremen, einbezogen.

Unterstützte Beschäftigung

In Eugene war Elektronikindustrie angesiedelt und Menschen, denen man aufgrund ihrer Beeinträchtigungen in der BRD kein sinnvolles Lernen anbot, erlernten in Eugene Arbeitsprozesse von bis zu 120 aufeinander aufbauenden Schritten, um z. B. ein Schaltelement zusammenzubauen. Dazu wurden für die behinderten MitarbeiterInnen ihren Handlungsmöglichkeiten angemessene Werkzeuge und Arbeitsplätze entwickelt und ArbeiterInnen aus den Betrieben, in denen sie später tätig wurden, schon im Spezialiced Training Program an der Universität in den Umgang und in die Arbeit mit ihren behinderten MitarbeiterInnen eingeführt und eingeübt. Von den ›Student Teacher‹ war in Integrationsklassen eine Qualität des Unterrichtens zu sehen, der man bei uns selten begegnete. Oder: In Madison, Wisconsins, habe ich im Universitätsspital nach unseren Kriterien geistigbehinderte Frauen und Männer arbeiten sehen – und zwar in Abteilungen, in denen das bei uns noch heute absolut undenkbar und unmöglich wäre: in der Apotheke der Universitätsklinik beim Herrichten der Medikamente für die Patienten und in der Abteilung für die Sterilisation der Operationsinstrumente. Sie waren die präzisesten ArbeiterInnen mit den geringsten Fehlerquoten. An Kassen von Supermärkten waren sie ohnehin ganz selbstverständlich tätig – und das in der ersten Hälfte der 1980er Jahre. Zu der Zeit aßen bei uns geistigbehinderte Menschen in Heimen ihre Suppe noch aus Plastiktellern und mit Plastikbesteck, weil sie das Geschirr zerstören oder sich mit Metallbesteck verletzen könnten, während sie in Madison in aller Form in regulären Restaurants als KellnerInnen arbeiteten. Als ich davon berichtete und schrieb hieß es, dass sich der Feuser nun von Geistigbehinderten bedienen lasse, was wohl als unanständig bzw. als Ausbeutung dieser Fachkräfte wahrgenommen wurde. So tief waren damals im Behindertenbetreuungswesen der BRD die Sümpfe im Denken. Diese Arbeit war die Profession dieser Menschen zu einem regulären Verdienst. Man beobachtete die Menschen, arbeitete mit ihnen, versuchte herauszufinden, was sie gerne arbeiten würden und arbeitete sie im Sinne eines Training on the Job in ihre berufliche Tätigkeit ein; und das schon vor Ort am künftigen Arbeitsplatz. Das durchaus auch auf der Basis monetärer Überlegung dahingehend, dass diese Menschen dann ihren Unterhalt ganz oder weitgehend selbst verdienen können und dadurch nicht von Sozialfürsorge abhängig sind und diese finanziell entlasten. Dabei wurde Assistenz so umfangreich und so lange gewährt, wie sie in beiderseitigem Einvernehmen für erforderlich oder erwünscht gehalten wurde. Dazu wieder ein Beispiel, das die Unterschiede verdeutlicht: Tom Bellamy und ich hatten eine vergleichbare Denomination unserer Professuren. Tom hatte einen persönlichen Jahresetat von fünf Millionen Dollar zur Verfügung, über den er für Forschungen und die Arbeit im Specialized Training Program, ohne Vorschriften durch andere, verfügen konnte. Ich hatte zur selben Zeit einen Jahresetat von 470 DM für Telefon, Kopien oder Reisekosten; den ersten PC an der Uni kaufte ich mir von meinem persönlichen Geld, wie ich viele meiner Arbeiten an der Uni selbst finanziert habe. Das berufsvorbereitende Training erfolgte meist für drei Arbeitsbereiche in den Firmen, damit bei Produktionsausfall eines Bereiches die Arbeiter in anderen Bereichen eingesetzt werden konnten. Die ›Vocational Habilitation‹ war nur eine Schiene des Programms. Die andere war das sogenannte ›Community Training‹. Das hatte das selbstständige oder, wenn nötig, ab und an assistierte Leben in der Stadt, in der eigenen Wohnung oder in einer WG zum Gegenstand, das Waschen der Wäsche im Waschsalon, das Bedienen von Automaten, die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel u. a. m. Diese Arbeitsweisen wurden aufgrund einer Initiative der Kennedy-Regierung in systematisch aufgebauten Handbüchern dokumentiert und mit Zeichnungen, Bildern und Anleitungen versehen und USA-weit den Fachinstitutionen zur Ausbildung Studierender und zur Fort- und Weiterbildung des Personals zur Verfügung gestellt.

Die theoretisch hinsichtlich der Analyse- und Erklärungsmöglichkeiten weitreichendere Theorie ist die des historischen und dialektischen Materialismus im Zusammenhang mit den Arbeiten der Kulturhistorischen Schule. Den Pragmatismus des Behaviorismus, seine zweite Säule neben der empirischen, funktionalisiert den Menschen im Sinne seiner Vernutzbarkeit in Produktionsprozessen und macht ihn im Grunde zu einem biologischen Teil von Maschinen für Funktionen, die metallurgisch noch nicht bewältigt werden können; so wie das heute bei uns weitgehend unhinterfragte Normalität ist. Das spiegelt sich in dem berühmten Satz vom richtigen Mann am richtigen Platz. Ich betone das noch einmal, um keine Unklarheiten darüber aufkommen zu lassen, dass die beobachtbaren und auch zu übernehmenden Kenntnisse nicht bedeuten, die Hintergrundphilosophie zu übernehmen. In Lehrveranstaltungen, in denen ich die Arbeit theoretisch in unseren Denkweisen erklärte, löste das bei den Studierenden großes Erstaunen und Anerkennung aus. Sie waren sehr offen, bessere Denk- und Analysewerkzeuge zu bekommen als das Vorgehen derart, verkürzt gesagt, wenn etwas funktioniert und das wiederholt und auch in unterschiedlichen Fällen und Zusammenhängen, dann wird dieses Vorgehen zur Philosophie und Theorie erklärt und zum Standard gemacht. Wir haben das heute mit dem ›Best-Practice-Modell‹ aus der US-Amerikanischen Betriebswirtschaftslehre reimportiert; eine Art Erfolgsmodell nach dem Motto, was funktioniert ist nicht nur gut, sondern auch richtig. Das wird neben einem evidenzbasierten Vorgehen besonders in Bezug auf Inklusionsversuche hoch gelobt. Ein theoretisch fundiertes Analysemodell menschlichen Lernens und menschlicher Sozialbezüge umfasst es nicht. Historisch gesehen verdanken wir nach Pawlow weitere zentrale Grundlagen der Lerntheorie und –psychologie den Arbeiten von Skinner und Thorndike. Das war vor der kognitiven Wende. Schon Pawlow hatte mit seinen als assoziatives Lernen bekannt gewordenen Versuchen das spätere Black-Box-Modell des Behaviorismus überwunden. Was aber bei uns u. a. noch heute extrem unterbelichtet ist oder einfach nicht gelehrt und gelernt wird, sind Verfahren der unsystematischen und systematischen Verhaltensbeobachtung. Sie sind das zentrale Instrument, Zusammenhänge von z. B. sehr herausfordernden Verhaltensweisen mit Umweltkonstellationen in spezifischen Situationen und in Referenz zu bestimmten Personen zu gewinnen, die im Sinne einer Baseline dann auch ermöglichen, allgemein gesagt, den Verlauf von Interventionen zu bewerten, sie zu modifizieren oder auch als untauglich zu erkennen. Das alles spielt heute, soweit ich weiß, in pädagogischen Ausbildungszusammenhängen keine Rolle. Dennoch erfahren Strategien wie das ABA (Applied Behavior Analysis) als ›Therapie‹ für Menschen aus dem Autismus-Spektrum, wo es doch ein Beobachtungs- und Analyseinstrument ist, und andere Strategien, wie das Forced Holding, ein hohes Ansehen – und man bildet, worauf ich an anderer Stelle verwiesen habe, ›Registrierte Verhaltens-Techniker‹ für die Arbeit mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum aus.

Nach einem Forschungssemester in den USA wurde ich bei der Verabschiedung im Kollegenkreis gefragt, was mir im Vergleich zu Deutschland so besonders aufgefallen sei. Ich antwortete: »Alles, was sich in den USA als Fehlentwicklung erwiesen hat und korrigiert wurde, wird in Deutschland importiert und als letzter Schrei gehandelt«.

Können Sie da eventuell ein Beispiel geben?

Überholte
Therapieformen

Das habe ich ja schon angedeutet. Zum Beispiel die längst überwundende rein operante Form der Verhaltenstherapie oder die Prekop’sche Festhaltetherapie, die auch in ihrer modifizierten Form bleibt was sie war; forced holding – in manchen Staaten der USA ist sie sogar verboten. Damals gab es auch eine forciert geführte berufs- und handlungsethische Debatte, die so in der BRD in unserem Fach und seinen Nachbargebieten nicht geführt wurde. Das trat erst mit der Auseinandersetzung um die Schriften von Peter Singer und seiner utilitaristischen Euthanasie für schwer beeinträchtigte Menschen befürwortende und für moralisch geboten gehaltene Ethik ein. Aber darauf habe ich ja schon verwiesen.

Ausgrenzung im Fach

Derweil, das ist auch nicht zu verschweigen, wurden Fachbeiträge und Bücher von Wolfgang Jantzen und mir an Studienstätten für Heil- und Sonderpädagogik aus Bibliotheken entfernt. Luden mich Studierende zu von ihnen selbst organisierten Vorträgen oder Seminartagen an ihre Universitäten oder Hochschulen ein, weil sie an unseren Arbeitsergebnissen und Arbeitsweisen interessiert waren, erschien in keinem einzigen mir erinnerbaren Fall eine Kollegin oder Kollege, der dort lehrte. Über viele Jahre war ich, oft auch zusammen mit Studierenden, nahezu jedes Wochenende zu solchen Veranstaltungen in der BRD oder Westberlin unterwegs. Selbstverständlich auch auf eigene Kosten. Auch das zeigt, wie hoch tabuisiert es war, unsere Schriften und Arbeit zur Kenntnis zu nehmen und sich mit uns einzulassen. Die Gründung der Zeitschrift Behindertenpädagogik im Rahmen der Vorstandstätigkeit im Landesverband Hessen e. V. des Verbandes Deutscher Sonderschulen (VDS) war eine Konsequenz daraus. Ich habe dazu ja schon ausführlich berichtet. Die Aufdeckung der Verbrechen an behinderten Menschen im Faschismus und die Kritik an der Fortsetzung eines biologistisch-medizinisch-psychiatrischen, auf Defekte, Defizite und Devianzen fokussierten Menschen- und Behinderungsbildes und der Versuch der Humanisierung und Demokratisierung des Heim- und Schulwesens war nicht nur absolut unerwünscht, sondern wurde in vielen Attacken unter der Gürtellinie auch gegen uns gerichtet ausagiert. Wir waren die Nestbeschmutzer, wie man das so nennt.

Welche Rolle haben denn die Sowjetunion und die ForscherInnen da und auch die DDR gespielt?

Rolle der ForscherInnen der Sowjetunion

Selbstverständlich eine sehr große Rolle, die zentralste, würde ich sagen. Und das nicht, wie Ihre Frage, nur auf die Vergangenheit bezogen, sondern ungebrochen bis heute. Das lässt sich unter dem Begriff der »Kulturhistorischen Schule« fassen und ist mit der sogenannten Troika, die namentlich mit Vygotskij, Leont’ev und Luria zu verknüpfen ist, das Zentrum für eine fundiert subjekt- und humanwissenschaftliche Bearbeitung unserer Fragen in Theoriebildung und Praxis. Das schreibt sich, um nur ein Beispiel zu nennen, bis in Fachbeiträge des von Wolfgang Jantzen, Iris Beck, Peter Wachtel und mir im Kohlhammer Verlag herausgegebenen zehnbändigen Enzyklopädischen Handbuchs der Behindertenpädagogik mit seiner Orientierung auf Behinderung, Bildung und Partizipation fort. Dort finden Sie Beiträge z. B. von Dmitrij Leont’ev, dem Enkel von Aleksej N. Leont’ev oder von Nina Fedorovna Talyzina, die mit ihren Forschungen die Arbeit von Petr Jakolevic Gal’perin weiterführt, dessen Interiorisationstheorie eine bedeutende psychologische Grundlage einer ›entwicklungslogischen Didaktik‹ darstellt, die für die Realisierung eines inklusiven Unterrichts, wie ich herausgearbeitet habe, eine von drei Dimensionen der erforderlichen didaktischen Strukturmomente ist. Unterricht, der inklusionskompetent ist, erfordert eine dreidimensionale Didaktik der Strukturelemente der Tätigkeit, Handlung und Gegenständlichkeit. Hier wären viele Namen zu nennen, die mit großartigen Werken zu verbinden sind, die ein dialektisch fundiertes Verständnis menschlichen Lernens und menschlicher Persönlichkeitsentwicklung und deren Beeinträchtigungen grundlegen, das keine vergleichbaren Äquivalente in der westlichen Forschung hat – so gesehen z. B. auch nicht durch Piaget – und das vor bald 100 Jahren. Für die Tätigkeitsstrukturanalyse, ein erstes Moment der drei didaktischen Strukturen, sind z. B. die Entwicklungspsychologien von Vygotskij, Leont’ev, Piaget und Spitz von herausgehobener Bedeutung, die sich aber nur erschließen und didaktisch reliabel transferieren lassen, wenn man sich die entwicklungstheoretischen Hintergründe dieser Konzeptionen zu erschließen vermag. Damit tut sich aber ein sehr weites Feld auf, das hier nicht hinreichend behandelt werden kann.

Standardisierung menschlicher Entwicklung

Zugänge zur Kulturhistorischen Schule erschlossen sich durch die Rezeption der Troika vor allem in den USA, die mit deren Forschungsergebnissen die behavioristisch nicht erschließbaren psychischen Zusammenhänge zu begreifen versuchten, um u. a. das Black-Box-Modell zu überwinden. Teilweise hat das aber auch dazu geführt, die aufgeschlüsselten Vorgänge psychischer Entwicklungsprozesse – ich sage es einmal so – in Entwicklungs-, Alters- und Kompetenzraster zu übertragen und sie auf diese Weise in Richtung pragmatischer Handhabbarkeit quantitativ zu standardisieren, was den Grundanliegen dieser Autoren völlig widerspricht. Es geschah, wie ich es damals in den USA mitbekommen konnte, so etwas, wie es heute vergleichbar mit der ICF passiert, die in Fortschreibung der ICIDH der WHO entgegen ihrem Grundanliegen zu Standardisierungen menschlicher Entwicklungs- und Teilhabeprozesse umfunktioniert wird. Der Quantifizierungs- und Messbarkeitswahn schlägt auch hier voll durch.

Übersetzungen russischer Literatur

Von zentraler Bedeutung waren aber die Übersetzungen der zentralen Werke der Kulturhistorischen Schule ins Deutsche in der DDR und selbstverständlich auch die Literatur der DDR in Bereichen der Pädagogik und Rehabilitation. Zu Zeiten als in der BRD die ersten Publikationen zur Geistigbehindertenpädagogik von Heinz Bach und Otto Speck erschienen, lagen in der DDR mit Bezug auf die ungarische Heilpädagogik und die ungarische Entwicklung der Psychoanalyse schon Fachpublikationen vor, die vergleichbare westdeutsche Publikationen hinsichtlich ihrer inhaltlichen Aussagekraft bei Weitem übertrafen. Ich erinnere nur an die Einführung in die heilpädagogische Arbeit mit geistig schwer und schwerst behinderten Kindern von Liselotte Eichler von 1968 oder später, nur um ein weiteres Beispiel zu benennen, an die Einführung in die Rehabilitationspädagogik von Sigmar Eßbach und seinem AutorInnenkollektiv. Diese Literatur wurde in der BRD nicht zur Kenntnis genommen; der Eiserne Vorhang und die Hetze gegen alles, was des Kommunismus verdächtig war, funktionierte perfekt. Auch die Leistungen auf dem Feld der Didaktik waren hervorragend, sodass ich in meinen Seminaren oder in Vorträgen zur Didaktik noch heute auf Lothar Klingbergs Einführung in die Didaktik (leider ohne Jahreszahl später auch im Westen erschienen) und Ursula Drews Didaktische Prinzipien von 1976 verweise. Eine Entsprechung dazu, von ganz anderen Zugängen ausgehend, leistete für die Didaktik nur Wolfgang Klafki. Werner Kienitz und sein AutorInnenkollektiv diskutierte u. a. mit seinem Buch zur Einheitlichkeit und Differenzierung im Bildungswesen 1971 viele der heute im Inklusionismus aufgehübschten Fragen zur Konstruktion von Diversität und Vielfalt und deren Bedeutung für einen Unterricht der Einheitlichkeit, der Vielfalt eben nicht ausschließt, angemessener, als ich es im plakativen Inklusionsgerede heute finde. Man könnte das auch wieder so sehen: In der BRD tendierten die Entwicklungen der Didaktik (Wolfgang Klafki in der BRD ausgenommen) mehr oder weniger in einen Pragmatismus, der schließlich der Fachdidaktik – und damit dem gefächerten Stoff – höchste Weihen verlieh und die allgemeine Didaktik beerdigte, während die Arbeiten in der DDR in qualitativer Forschungsorientierung in qualitativer Weise prozessorientiert Lernen und Entwicklung in den Vordergrund stellten und das bis hin zu den jüngsten Arbeiten des Kollegen Joachim Lompscher, der leider schon verstorben ist.

Abwicklung der DDR und die Auswirkung auf das Fach

Dem Pahl-Rugenstein-Verlag kommt eine besondere Bedeutung hinsichtlich der Funktion zu, DDR-Fachliteratur zugänglich zu machen. Wolfgang Jantzen und ich haben damals ja auch ab 1981 in einer Jahrbuchreihe für Psychopathologie und Psychotherapie elf Bände im Pahl-Rugenstein-Verlag herausgegeben (die letzten beiden im Jarick-Oberbiel-Verlag), in denen wir und die MitautorInnen uns schwerpunktmäßig mit der Reinterpretation von Syndromen unter subjektwissenschaftlichen Gesichtspunkten und mit der Weiterentwicklung unserer Theorien befassten. Es war bitter, mit ansehen zu müssen, wie mit der sogenannten Wende und der ›Abwicklung‹ der DDR bedeutende Werke auch der Kulturhistorischen Schule vernichtet wurden; einiges konnten wir noch schnell aufkaufen. Das zeigte auch deutlich, wie man in der BRD mit diesen bedeutenden wissenschaftlichen Werken umging – und heute finde ich, wenn ich das Lehrangebot an den Hochschulen und Universitäten der Lehrerbildung und Pädagogik ansehe, nahezu an keiner Lehrangebote für Studierende, die sich mit der Kulturhistorischen Schule befassen würden. In der erforderlichen inhaltlichen Konsistenz dürfte das meines Wissens an der Evangelischen Hochschule Darmstadt im BA und MA des Studiengangs ›Inclusive Education‹ am deutlichsten zum Tragen kommen. Nach der Wende kamen viele Studierende aus der ehemaligen DDR zu uns nach Bremen, was eine große Bereicherung war, waren sie z. T. doch schon mit den Grundlagen einer materialistisch-dialektischen Theoriebildung befasst. Als ich noch an der Universität Zürich tätig war, konnten Erich Graf und ich ein langes Interview mit dem Kollegen Klaus Peter Becker und seiner Lebens- und Berufsgeschichte in der DDR aufzeichnen, das ja auch für Lehrzwecke herangezogen werden könnte, für sich genommen aber ein wichtiges Dokument einer negierten Geschichte ist. Was sich ›Abwicklung‹ nannte, hat nicht nur im Ökonomischen mit der Verschleuderung von DDR-Gut, das auf 600 Milliarden geschätzt werden kann, für 250 Milliarden DM an westliche Investoren zu deren Bereicherung geführt, sondern auch zur Zerstörung eines bedeutenden Verlagswesens und vielen wissenschaftlichen Netzwerken, was auch in der BRD zu einer Art wissenschaftlichen Aderlasses führte. Das waren dann die »blühenden Landschaften«, die zu schaffen in verlogener Weise vorgegeben wurde.

Sowjetische Forschung mit taubblinden
SchülerInnen

Vor ihrer Erkrankung übersetzte Monika Schubert noch ein Buch von Alvin Valentinowicz Aprauschev über seine Arbeit mit taubblinden Menschen im Sagorsker Kinderheim ins Deutsche. Einige seiner von Geburt an taubblinden SchülerInnen konnten an der Lomonossow-Universität Moskau studieren und promovieren, was weltweit Aufsehen erregte. Bei einem Aufenthalt in Moskau in den frühen 1970er Jahren fuhr ich nach Sagorsk, um dort das Kloster zu besuchen, eines der Klöster, die Moskau wie einen Schutzring umgeben. Das Kloster war sehr gepflegt und in Funktion und, so mit eigenen Augen gesehen, Offiziere der Sowjetarmee in Uniform ließen dort im Kreis ihrer Familie ihre Kinder taufen. Mein Anliegen war, das Kloster zu sehen und die Gesänge der Mönche hören zu können. Beim Gang durch den Ort entdeckte ich das Kinderheim von Aprauschev, von dem ich zuvor noch keine Kenntnis hatte. Mit nur minimalen Kenntnissen des Russischen konnte ich die am Eingang angebrachten Schilder entziffern. Auch das Buch über seine Arbeit wurde kaum zur Kenntnis genommen. Der im Buch beschriebene Film über sein Schaffen, der von der DDR gedreht wurde, war später auch im Westen ausgestrahlt worden. Ich betone das, um auch dadurch zu verdeutlichen, wie fahrlässig und unwissenschaftlich seitens der westlichen Pädagogik, Heil- und Sonderpädagogik und Psychologie mit herausragenden sowjetischen Forschungsergebnissen umgegangen wurde, auch mit denen aus der DDR. Aber uns hat man den Ideologievorwurf gemacht!

Allgemeine Behindertenpädagogik

Als Episode sei noch angefügt: Wolfgang Jantzen und ich beschlossen, dass er russisch, ich italienisch lerne, um die Fachliteratur im Original zur Kenntnis nehmen zu können. Aber wir scheiterten bald mit unseren Volkshochschulkursen aus Termingründen bei unserer, wie ich immer sage, Rund-um-die-Uhr-Arbeit. Wolfgang Jantzen ist im deutschsprachigen Raum in besonderer Weise für die Rezeption und Weiterentwicklung der Arbeiten der Kulturhistorischen Schule zu danken, wie sich das mit seinem zweibändigen Werk der Allgemeinen Behindertenpädagogik dokumentiert. Es liegt heute bei Lehmanns Media in Berlin in einem Band vor. Für meine Arbeiten kommt der Kulturhistorischen Schule eine noch größere Bedeutung zu, als der Demokratischen Psychiatrie Italiens, aber beide haben Schlüsselfunktionen – auch als Türöffner zu einem neuen Denken.

Krüppelbewegung

In Zusammenhang damit ist auch die in Bremen und zentral auch an der Universität bei uns stattfindende Auseinandersetzung mit der von Franz Christoph begründeten »Krüppelbewegung«, die später sozusagen in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung aufgegangen ist. Diese Bewegung war berechtigt als eine Empow­erment-Bewegung zu verstehen, die auch, vor allem durch Horst Frehe initiiert, in das Assistenzprojekt für behinderte Menschen führte, die sich ihre Assistenzen selbst einstellen, anleiten und auch entlassen können. Geschichte hat die Aktion von Franz Cristoph im Rahmen des UNO-Jahres der Behinderten 1981 geschrieben, als er zum Nachweis, dass behinderte Menschen in unserer Gesellschaft nicht ernst und nicht als gleichberechtigt wahrgenommen werden, dem damaligen Bundespräsidenten Carstens bei der Eröffnung der Rehamesse in der Dortmunder Westfalenhalle zweimal mit seiner Gehhilfe schlug. Wir hatten Sorge, dass er von Sicherheitskräften erschossen werden könnte, rechneten aber zumindest mit seiner Verhaftung und einem Prozess – aber es geschah nichts, gar nichts. Ich war oft mit Franz Christoph in der BRD und in Österreich unterwegs, wo wir Veranstaltungen über Behinderte ohne Behinderte besetzten und aufmischten. Das Plakat der Krüppelgruppe zum UNO-Jahr der Behinderten deklarierte das Jahr als ›Jahr der Behinderer‹ und zeigte das Logo von zwei skizzierten Menschen in rot, die einen anderen Menschen in blau in der Mitte hatten und ihn unterhakten in der Weise, dass der blau skizzierte Mensch einen Knüppel über den Köpfen der beiden anderen schwang. Und zu lesen war: »Jedem Krüppel seinen Knüppel!« Franz Christoph hat später in den Niederlanden aus Gründen seiner Benachteiligung in der BRD Asyl beantragt, das aber nicht gewährt wurde. Die Entwicklungen in den USA, die in der Bürgerrechtsbewegung wurzelten, wie sie mit Martin-Luther-King ihren Höhepunkt erreichte, setzten sich auch in die Empowerment- und People-First-Bewegung hinein fort, die auch in der BRD aufgegriffen wurden. Ihnen fehlte hier aber der Hintergrund einer Bürgerrechtsbewegung, in die sie hätten eingebettet werden können. So wurde das Anliegen der Empowermentbewegung, dass Behinderte sich selbst ermächtigen und in dieser Selbstermächtigung von uns unterstützt werden, aus meiner Sicht etwas zur Farce insofern, dass es ein Paradoxon ist, dass wir die behinderten Menschen ausgrenzen und wegsperren und sie dann zu ihrer Selbstbefreiung befähigen sollen. Schließen wir sie also nicht aus und sperren sie nicht weg, dann ist dieses Problem gelöst.

Kolonialisierung

Die Dimensionen von Aus- und Einschluss lassen sich nur erfassen, wenn man sich in die Zusammenhänge und Geschichte von Imperialismus, Kolonialisierung, Sklavenhandel und Sklaverei einarbeitet. Da leistet ein Buch von Achille Mbembe mit dem Titel Kritik der schwarzen Vernunft, mit dem er die bedeutende Schrift von Frantz Fanon Die Verdammten dieser Erde aufgreift und fortsetzt, hervorragende Dienste. Die Auseinandersetzung damit lässt auch die Dimensionen der psychischen Folgen isolierender Ausgrenzung von Menschen mit Beeinträchtigungen bzw. psychischen Erkrankungen in einem neuen Licht erscheinen, denn der Zustand der Ausgrenzung ist ihre soziale Welt, die angeeignet wird und mit der zu kooperieren ist. Aus systemtheoretischer Sicht ist das mit den Arbeiten von Umberto Maturana und Francisco Varela in neuer Weise die Biologie und auch in die Psychologie eingegangen. Immerhin hat ihr Buch Der Baum der Erkenntnis eine gute Verbreitung gefunden.

Disability Studies

Im Grunde ist mit den Disability Studies eine Bewegung in Gang gekommen, die Situation von Behinderung in gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen aus den Fragestellungen und Erlebenshorizonten der Betroffenen heraus zu erforschen und das durch behinderte ForscherInnen selbst. Aber längst haben sich die nichtbehinderten WissenschaftlerInnen auch dieses Feldes bemächtigt und, so sehe ich es, es droht, seiner ursprünglichen Funktion verlustig zu gehen.

Notwendigkeit partizipativer Forschung

Das Modell der partizipativen Forschung in Gemeinschaft von behinderten und nichtbehinderten ForscherInnen vermag das vielleicht abzumildern, was aber erfordert, sein Forschen in den Dienst des anderen zu stellen, auch der Menschen, die aufgrund der Schwere ihrer Beeinträchtigungen das nicht selbst artikulieren und anleiten können. Das setzt aber ein Einlassen auf sie in Augenhöhe mit ihnen voraus, was der Inklusionismus bis heute nicht geschafft hat, da er genau diese Personen weiterhin ausgrenzt. Diesbezüglich werden auch viele Studien, die als Dissertationen verfasst werden, unglaubwürdig und reüssieren weit mehr als Stufe auf der Karriereleiter, denn als Entwicklung der Sachanliegen. Ich erinnere noch sehr gut, dass an der MBS ein Psychologiestudent auf mich zu kam, der eine Studie an der Schule durchführen wollte. Seine Ausgangshypothese, so die universitären Überlegungen, war, dass kognitiv-mentale Beeinträchtigungen auch Auswirkungen auf die Sprache der betroffenen Menschen haben und man annehmen könne, dass ein Mensch, wenn er denn sprechen kann, je nach Schwere der kognitiven Beeinträchtigungen, Sätze mit weniger Worten bildet, Worte mit weniger Silben verwendet, oder zum Teil nur Silben ausspricht; dies im Vergleich mit gleichaltrigen Nichtbehinderten. Ich sagte ihm nur: »Sie dürfen eine Woche in die Schule kommen, ohne Papier, ohne Tonbandgerät. Danach schreiben Sie Ihre Erfahrungen auf. Dann wissen Sie es«. Die Studie erübrigte sich infolge. Aber der Student widmete sich einem Schüler, seiner Geschichte, seinen Lebenserfahrungen in einer Obdachlosensiedlung, befasste sich dort mit den Lebensverhältnissen der BewohnerInnen der Siedlung und schuf eine weitgehend lückenlose Biografie dieses Schülers mit ihm, mit seiner Familie und in seinem sozialen Umfeld. Er entdeckte, dass seine ausagierenden, oft destruktiven aber auch selbstverletzenden Handlungen stets seinem Erleben von Situationen angemessen, sinnhaft und im Kontext seines Systems auch systemhaft sind. Für den Schüler konnte ein Hauptschulabschluss ermöglicht und eine Lehrstelle gefunden werden. Das gerann in eine herausragende Dissertation und in eine langjährige Verbundenheit mit den SchülerInnen der MBS. Dass eine gemeine Stubenfliege sechs Beine hat, eine weitere auch und dass dann angenommen werden kann, dass alle gemeinen Stubenfliegen sechs Beine haben, bedarf keiner Forschung – aber so wird heute vielerorts und häufig geforscht. Für mich bedeutet in unseren Bereichen Wissenschaft, Wissen zu schaffen, das Menschen nützt, ihre Lebenssituation und ihre Lebensverhältnisse verstehen und verbessern zu können – Punkt – nicht mehr und nicht weniger.

Zusammenarbeit von Regel- und Sonderpädagogik

Die beiden Pädagogiksysteme der Regel- und der Heil- und Sonderpädagogik arbeiten sich da ja sehr gut in die Hände: Was der eine Bereich ausschließt, schließt der andere ein, okkupiert und kolonialisiert die Menschen, beraubt sie der Möglichkeit einer Identitätsbildung in regulären sozialen Verhältnissen und kreiert so eine beschädigte Identität, die sich aus der Kooperation mit der Isolation ergibt. Manchmal fällt es mir schwer, noch zu verstehen, wie ein solches System in Perfektion im institutionalisierten EBU überhaupt noch von Lehrpersonen so weiterbetrieben werden kann, ohne dass sie an Zweifeln oder gar in Schuldgefühlen den Kindern und SchülerInnen gegenüber ersticken, anstatt sich dem zu widersetzen und ein EBU ohne Ausgrenzung und Beschämung der Kinder und SchülerInnen zu praktizieren und das gegenüber den Oberen durchzusetzen, sie eben ihrer Macht zu berauben, dieses Herrschaftssystem weiter aufrechterhalten zu können. Aber das ist mein Unverständnis. Manchmal habe ich den Eindruck, dass jenen alles klar, mir aber alles eine Frage ist.

Was waren aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen?

Fachlich?

Ja, persönlich und für das Feld …

Persönlich: mich aus den reaktionären, rassistisch-faschistoiden, erzkatholischen Denkstrukturen meiner Kindheit und frühen Jugend zu befreien und dialektisch denken zu lernen.

Einbeziehung schwer beeinträchtigter Menschen in die Schule

Fachlich gesehen war die größte Herausforderung, die Lern- und Bildungsfähigkeit schwer beeinträchtigter Menschen nachzuweisen, sie aus den Anstalten und Heimen zu befreien und in die Schule zu holen, auch wenn es eine Sonderschule war. Dazu war die Zeit als Rektor der MBS eine sehr große Herausforderung, vor allem auch in der Zusammenarbeit in vielen Fragen mit dem Hessischen Kultusministerium im Widerspruch oft zu örtlichem Schulamt und Regierungspräsidium. Schließlich den Nachweis zu führen und das auch in der Praxis umzusetzen, dass es darum geht, wie Comenius schrieb, ›allen alles zu lehren‹ und dass wir dazu keine Sonderkindergärten und Sonderschulen mehr benötigen und das für die Kinder am Ort, an dem sie leben, im Kindergarten und in der Schule möglich ist.

Transformation
des Bildungssystems

Dazu brauche ich keine Gesetzesänderungen, sondern den Willen der Lehrerschaft zur Durchführung und die Überzeugungskraft für die Eltern. Wir haben heute die UN-BRK, das ist sicher ein großer Vorteil. Aber aus ihr und durch sie resultiert kein Automatismus zur Inklusion. Schon Jahre zuvor gab es die Menschen- und Kinderrechtsresolution, die vollständig dafür ausreichen würden, ein Bildungssystem für alle zu realisieren und die Teilhabe aller an diesem zu garantieren. Ich weiß nicht, auf welche Resolution man noch warten möchte, bis ein Ruck durch die Bildungslandschaft geht und endlich die revolutionären Transformationen des Systems eingeleitet und durchgeführt werden, von denen ich sprach. Die Zielsetzungen sind mit den Klafki’schen Vorgaben der Schaffung von Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit hinreichend beschrieben und es muss als Aufgabe der ErzieherInnen und der Lehrpersonen als Gesamtheit angesehen werden, das zu realisieren. Sie sind dafür die Fachleute, oder sie sollen in andere Arbeitsbereiche gehen. Das muss auch der Politik einmal deutlich gesagt werden. Erziehungswissenschaftlich haben wir in Theoriebildung und Praxis eine Allgemeine Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik, die das zu realisieren erlaubt. Das mag überheblich klingen, aber wo immer ich Einblicke habe und Rückmeldungen bekomme, zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass dort, wo kein Kind wegen Art oder Schweregrad seiner Beeinträchtigungen oder anderer Faktoren aus einem gemeinsamen Unterricht ausgeschlossen wird, man sich dieser Didaktik mehr und mehr annähert – auch dort, ich habe es schon betont, wo man sich diesem Grundsatz auch in den Unterrichtsfächern unter fachdidaktischen Aspekten stellt. Das Besondere dieser Arbeit liegt im Allgemeinen pädagogischer Theorie und Praxis und eben nicht der Verbesonderung der Lernenden, die wie ein Naturgesetz gegeben zu sein scheint. Nur, Naturgesetze gibt es nicht. Die Natur hat keine Gesetze. Nur der die Natur beobachtende Mensch entdeckt in Abläufen konstante oder sich wiederholende Prozesse, z. B. im Lauf der Gestirne, die man gesetzmäßig beschreiben und damit vorhersagen kann, wann und wo eine bestimmte Konstellation wieder auftreten wird. Das sind Menschengesetze über Abläufe in der Natur und keine Naturgesetze. Das sollte man in Bezug auf pädagogische Sachverhalte endlich erkennen und auch, dass in Bezug auf lebende Systeme das Unbestimmte das ist, was mit höchster Sicherheit angenommen werden kann, denn Lern- und Entwicklungsprozesse sind nicht linearer Natur, auch wenn das nicht heißt, das sie beliebig seien; das sind sie mit Sicherheit nicht. Fabian Scheidler führt in seinem Buch Das Ende der Megamaschine, das mir 2015 zugänglich wurde, ein schönes Beispiel dafür an – sinngemäß: Ein Stein, den ich trete, bewegt sich mit der ihm dadurch verliehenen Energie, ein Hund, den ich trete, bewegt sich dagegen mit der Energie seines eigenen Stoffwechsels. Die Bewegung des Steins kann ich berechnen und vorhersagen. Die Bewegung des Hundes aber nicht; er kann mich angreifen, knurrend weglaufen u. a. m. Aber selbst wenn ich seine Reaktion richtig vorhersagen würde, bleibt es unmöglich, seine genauen Bewegungen vorherzusagen. Ach, wenn die Pädagogik das nur begreifen würde.

Abschaffung segregierender Institutionen

Nicht die Inklusion ist die zentrale Herausforderung, sondern die Beendigung der Exklusionen und die Abschaffung aller segregierenden, deprivierenden und isolierenden Institutionen für Menschen, die den normativen Ansprüchen und Erwartungen der Gesellschaft nicht entsprechen – und ihre uneingeschränkte Anerkennung.

Welche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte sollten nicht in Vergessenheit geraten?

Interessengeleitetes Lernen

Alles, worüber wir gesprochen haben – und vieles von höchster Bedeutsamkeit haben wir nicht tangiert. Allen alles zu lehren heißt nicht, alles zu wissen, aber zu erkennen, dass wir im sokratischen Sinne nahezu nichts wissen und daraus nicht den falschen Schluss ziehen, nur das zu lehren, was wir wissen. Denn dadurch wird die eigene Dummheit zur Begrenzung des Lernens der Kinder und SchülerInnen. Deshalb gilt es, mit ihnen gemeinsam in zunächst Unbekanntes vorzudringen, das ihnen von Interesse ist, ein Motiv zu handeln, zu arbeiten und uns eine Erweiterung der eigenen Erkenntnisse und folglich des eigenen Wissens erlaubt. Das heißt, eine echte Erzieherin, ein echter Erzieher, eine echte Lehrerin, ein echter Lehrer zu sein; egal mit welchen Schwerpunkten. So gesehen gibt es keinen schöneren Beruf als den der Pädagogin und des Pädagogen. Er erlaubt ein lebenslanges bezahltes Lernen!

Ich erinnere noch mein Erschrecken im Rahmen eines Besuchs in Bologna einige Zeit nach Franco Basaglias Tod, wo ich in einer Hochschule erfahren musste, dass man nicht mehr wusste, wer Basaglia war und was er getan hat. Dort wurden PädagogInnen und PsychologInnen ausgebildet. Das ist ein schlimmes Vergessen.

Diskussion: Integration Inklusion

Ein Vergessen ist auch die Umetikettierung von Integration in Inklusion und die Zuschreibung aller zu kritisierender Sachverhalte an den Begriff der Integration. Ich habe das ja schon als Etikettenschwindel bezeichnet und ich sehe nirgendwo, wo ich Zugänge und Einblicke habe oder Gespräche führen kann, dass sich dadurch etwas zum Besseren verändert hätte. Wir haben das Paradox selektierender Inklusion, die man der Integration vorgeworfen hat; auch ein unbesonnenes Hineinsetzen von behinderten Kindern in Regelklassen ohne Anspruch der Veränderung des Unterrichts und der Schule und die Anpassung der Kinder an diese. Ich denke, dass deutlich wurde, dass dem von Anfang der Integrationsentwicklung an nicht so war; zumindest für mich kann ich das in Anspruch nehmen. Der grassierende Ahistorismus, der nicht nur alle Wissenschaftsbereiche, sondern inzwischen alle Lebensbereiche erfasst, hat solide Vergessensstrukturen hervorgebracht auch dadurch, dass man durch Temposteigerung aller Abläufe, jederzeitiger Verfügbarkeit, permanenter Bombardierung mit Events und überwiegend völlig unsinniger Konsum- und Habenzwänge wirksam davon abgehalten wird, eine kleine Zeitspanne der Besinnung zu haben.

Völkische Bezüge der Reformpädagogik

Dass schließlich auch das Feld der Pädagogik von »Alternativen Fakten« nur so wimmelt, nötigt mir kein Erstaunen mehr ab – leider. Dagegen waren die Zeiten der Debatte um die antiautoritäre Erziehung selbst in ihren völlig falsch verstandenen Auswüchsen hin zu einem Laissez-faire und um manche antipädagogischen Bewegungen fast noch erträglicher. Und in der Einschätzung sogenannter reformpädagogischer Modelle gelangte man, wie ich schon eingangs des Gesprächs betonte, doch zur Einsicht, dass sie den Gedanken der Inklusion nicht ermöglichen können, zumal ihr Verständnis von Gemeinschaft nicht das leisten konnte, was kommunikationsbasierte Kooperationen im Kontext entwicklungslogischer Didaktik erfordern. Von der Wandervogelbewegung bis hin zum Leben auf dem Monte Verita bei Ascona geriet das Gemeinschaftliche schnell ins Fahrwasser des Völkischen. Selbst im Jena-Plan Peter Petersens gibt es nur ganz wenige Stellen, an denen er eine/n HilfsschülerIn auch in der Regelschule zu unterrichten für möglich hält und in dem Buch Bildung von Hentig von 1996 finden sich nur drei Stellen, die das ansprechen.

Reggio-Pädagogik

Dagegen sind pädagogische Reformansätze, die der Aufklärung verpflichtet sind und sich auch politisch als antifaschistisch verstehen bzw. aus dem Widerstand gegen den Faschismus entstanden sind, wie z. B. die Reggio-Pädagogik, hinsichtlich ihres impliziten Menschenbildes und bezogen auf ihre Solidarität mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen von besonderer Bedeutung, die eine Art Fallout dieses Systems bilden, der im Dienste der sogenannten Bildungseliten, deren ständischen Interessen und hegemonialen Machtansprüchen aus dem Weg geräumt wird. Hier wäre z. B. auf Antonio Gramsci, Célestine Freinet, Anton Semjonowitsch Makarenko, Wassili Suchomlinski, aber auch auf die ›Pädagogik der Befreiung‹ von Paolo Freire zu verweisen, die in der Literatur gut vertreten und zugänglich sind. Nicht dass uns diese Konzeptionen zu sagen wüssten, wie Inklusion zu realisieren sei. Sie können uns aber eindringlich vermitteln – und dessen bedürfen aus meiner Sicht die jungen Menschen, die eine schon von Bildungsarmut geprägte Schulzeit hinter sich bringen mussten und sich in Pädagogik qualifizieren wollen, in besonderer Weise –, dass die Solidarität mit den ausgegrenzten oder von Ausgrenzung bedrohten Kindern und Jugendlichen, die das gegenwärtige EBU stigmatisiert, diskreditiert, beschämt und erniedrigt, eine unabdingbare Voraussetzung ist, das Anliegen der Inklusion überhaupt denken zu können. Viele Auszubildende sind an Wissen interessiert, das aber als Wissen tot bleibt, nicht mehr ist als Information, wenn man nicht denken kann. Gerade aber Denken zu lernen und zu denken wird im Bildungssystem auf allen seinen Ebenen nivelliert bis abgeschafft. Ich habe darauf ja schon verwiesen. Erforderlich ist ein Verstehen der Menschen, für die man Verantwortung übernimmt, in dem Sinne, dass ich der Andere sein könnte, wäre meine Entwicklung unter vergleichbaren Ausgangs- und Sozialisationsbedingungen verlaufen, wie sie der Andere hat hinnehmen und verkraften müssen. Pädagogisch verlangt das, aus der Wahrnehmung der Kinder und SchülerInnen als andere Andere herauszukommen. Das hat mit Bewusstseinsbildung und Demokratisierung zu tun, wie das z. B. für das Wirken von Freire sehr zentral ist.

Modellversuche: Integration ohne Ausschluss

Blicken wir zu den Anfängen der Integrationsentwicklung in der BRD zurück, so war Bremen der einzige Ort und Schulversuch, der keinen Ausschluss von Kindern und SchülerInnen auf Basis ihrer Kategorisierung als Behinderte oder wegen Art und Schweregrad ihrer Beeinträchtigungen vorgenommen hat. Berlin ist noch zu erwähnen, wo man an einer Schule entgegen dem Dekret der damaligen Schulsenatorin Hanna-Renate Laurin, keine als geistigbehindert klassifizierten Kinder aufzunehmen, dies dennoch getan hat. Das war mit den Kollegen Wolfgang Podlesch, Rainer Maikowski und auch Hans Eberwein verbunden, wenn ich das recht erinnere. Schulversuche in der BRD führten auch zu solchen Kuriositäten, dass SchülerInnen, die im Laufe der Grundschulzeit mit Lernschwierigkeiten zu tun hatten und als ›lernbehindert‹ klassifiziert wurden, in eine Schule für Lernbehinderte gehen mussten, während als geistigbehindert klassifizierte Kinder, auf die hin der Schulversuch ausgerichtet war, in der Grundschule verbleiben konnten. Tobias Erzmann hat mit seiner Dissertation die damalige Schulversuchslandschaft unter verschiedensten Gesichtspunkten dargestellt, sollte es von Interesse sein, sich dazu informieren zu wollen.

Jahrestagung

Mit diesen Entwicklungen haben wir damals, die wir in Schulversuche involviert waren, die heute als IFO bekannte Internationale Jahrestagung der Integrations-/InklusionsforscherInnen ins Leben gerufen, die in 2018 zum 32. Mal tagt und jeweils von einer Studienstätte ausgerichtet wird. Das war mit dem Anliegen verbunden, einen Austausch über die verschiedensten Problemlagen der Schulversuche und der Aufgaben wie Strategien ihrer wissenschaftlichen Begleitung zu diskutieren. Die Schulverwaltungen konnten dem Druck vor allem der Eltern, die sich auch bundesweit organisierten und den Verein »Gemeinsam leben – gemeinsam lernen« gründeten, nicht mehr widersetzen. Man verfuhr nach dem bekannten Motto ›teile und herrsche‹ und schuf Schulversuche, also die Ausnahme, damit die Regel nicht angetastet wird – und so blieb es. Kein Schulversuch wurde nach dessen Beendigung als Regelfall übernommen, wie keine Stelle an den Universitäten, die KollegInnen inne hatten, die sich dem Anliegen der Integration/Inklusion widmeten, wurde nach deren Ausscheiden aus dem aktiven Dienst beibehalten und wieder besetzt. Es erfolgten Änderungen der Denominationen oder Stellen fielen auch weg.

Zwiespalt
Schulversuch

Die Schulversuche waren eine total zwiespältige bis in sich widersprüchliche Sache. Man musste sich auf sie einlassen, weil es ansonsten im Bereich Schule keine Praxisfelder für einen integrativen Unterricht gegeben hätten und der Schulversuch ermöglichte, Handlungsfelder in der Schule zu erschließen, die sonst nicht möglich gewesen wären. Dabei behielt die Politik und Administration aber jederzeit die Kontrolle. Wobei, wie ich für Bremen schon berichtete, der wissenschaftlichen Begleitung durch die Universität zu deren Kontrolle wiederum eine weitere durch das Landesinstitut für Schulpraxis angeordnet wurde. Die Geschichte der Schulversuche zur Integration in der BRD wäre einer historischen Dokumentation und Analyse ihrer Strukturen und Funktionen würdig, aber dem hat man sich in der erforderlichen Weise bislang nicht gewidmet. Dass die 29. Jahrestagung der Integrations-/InklusionsforscherInnen sich das Thema gab: »Inklusion ist die Antwort – was war noch mal die Frage?« mag die LeserInnen dieses Interviews anregen, darüber nachzudenken, was solches über das Fach, sein Verständnis von Wissenschaft und von Integration und Inklusion zum Ausdruck bringt. Zusammen mit sechs Kollegen und einer Kollegin habe ich dazu ein Buch herausgegeben, das 2017 mit dem Titel Inklusion – ein leeres Versprechen? Zum Verkommen eines Gesellschaftsprojekts erschienen ist . Einen Diskurs, der aus meiner Sicht mehr als überfällig wäre, hat das nicht ausgelöst – auch das ein beredtes Zeichen für das Dilemma und das Paradoxon, in dem die Inklusion heute steckt.

Was waren die wichtigsten Erkenntnisse aus Ihrer Sicht?

Erkenntnisse welcher Art?

Jetzt im Feld der Integrationspädagogik.

Allgemeine Pädagogik und
entwicklungslogische Didaktik

Eine sehr zentrale Erkenntnis war, dass sich die auf dem Hintergrund des hier schon wiederholt angemerkten humanwissenschaftlichen Erkenntnisniveaus mit besonderem Blick auf die Kulturhistorische Schule schon im Vorfeld der konkreten Integrationspraxis von mir grundgelegten ›Allgemeinen Pädagogik und entwicklungslogischen Didaktik‹ ohne Nachbesserungen, sicher aber im Laufe der Zeit mit Präzisierungen und Vertiefungen im Sinne einer nicht ausgrenzenden und verbesondernden pädagogischen Praxis bewährt hat. Wo sie richtig verstanden wurde, ist sie bis heute nicht angefochten worden – und das nicht nur im Feld von Kindergarten und Schule, sondern, was ich schon angedeutet habe, auch im tertiären Bildungsbereich. Um diese Grundlegung noch einmal zugänglich zu machen, habe ich zentrale Arbeiten dazu jetzt im 12. Band meiner Reihe im Lang Verlag Behindertenpädagogik und Integration kommentiert und in Kontexten der fachlichen Ereignisse ihrer Entstehungszeit noch einmal zur Verfügung gestellt; das unter dem Titel Wider die Integration der Inklusion in die Segregation. Damit ist es gelungen, zentrale Erkenntnisse über Ausgangsbedingungen und zentraler Randbedingungen der Ermöglichung menschlichen Lernens und menschlicher Persönlichkeitsentwicklung in eine pädagogische Theoriebildung und Handlungspraxis zu transformieren, die hinsichtlich der Zielsetzung erlaubt, so basal und allgemein und gleichzeitig so spezifisch pädagogisch zu arbeiten, dass unabhängig von Art und/oder Schweregrad seiner Beeinträchtigungen, Entwicklungsstörungen oder schon entwickelter, soziale Isolation und bildungsmäßige Deprivation kompensierender Handlungen, eine Teilhabe aller an Gesellschaft und Kultur und damit auch an Bildung garantiert werden kann.

Bildung im Kontrast zum gegenwärtigen Schulsystem

Dem immanent ist das Beharren auf Bildung, die sich von den Bedürfnissen, Interessen und Erfahrungen der Lernenden her bestimmt und erlaubt, davon ausgehend das kulturelle Erbe aufzunehmen, es kritisch zu analysieren und eine eigene, reflektierte Position dazu zu entwickeln. Sie ist auf Mündigkeit hin angelegt. Solches hört sich sehr hochtrabend an, aber nur deshalb, weil man diese grundlegenden Momente irgendwelchen abstrakten Leistungen zuordnet, die unter den derzeit gegebenen Bedingungen nur wenigen Menschen zugänglich sind und man sich nicht vorstellen kann, dass sie auf jedem Entwicklungsniveau abbildbar sind und damit über alle Entwicklungsniveaus hinweg realisiert werden können, wie ich das glücklicherweise über nahezu zwei Jahrzehnte täglich beobachten konnte. Eine solche Bildung ist, ich wiederhole mich, auf Erkenntnisgewinn ausgerichtet, aus dem Wissen generiert werden kann, das seinerseits zum Werkzeug weitergehenden und neuen Erkenntnisgewinns wird. Ihre zentralen Komponenten sind Aufklärung und Erziehung. Erziehung verstanden als die Entfaltung des Bedürfnisses des Menschen nach dem Menschen unter den Prämissen von Gleichheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Ein curricular verordnetes, Schulbesuchsjahren, Schulformen und Schulstufen zugeordnetes Lernen vermag eine solche Bildung nicht zu generieren. Es tönt heute von vielen Seiten, dass dies letztlich auf Abrichtungsprozesse hinausläuft, die Verwertungsverdikten untergeordnet sind, also, wie ich schon herausgestellt habe, einer effizienten Umwandlung von Humanressourcen in Humankapital.

Subjektorientierung

Bildung hat vom Subjekt auszugehen und ist auf die Entfaltung seiner Potenziale ausgerichtet – ich sprach vom Möglichen, das im Wirklichen oft noch nicht sichtbar ist – was wiederum nur unter uneingeschränkter Anerkennung der Lernenden und deren Gleichheit als Mensch bei aller Unterschiedlichkeit im Individuellen gelingen kann. Das zu leisten ist wiederum ein didaktisches Problem der Individualisierung eines im Sinne des Gemeinsamen Gegenstands übergeordneten Gemeinsamen in den kommunikationsbasierten Kooperationen und eben nicht eines individueller Curricula oder eines unvermittelt nebeneinander abzuarbeitenden Fächerkanons. Dabei ist das potenziell Mögliche nicht etwas intrinsisch Vorgegebenes, das zu entdecken und wie aus einer Grube zu ›fördern‹ wäre, was durch spezielle sonderpädagogische Fachkenntnisse geleistet werden könnte, die man wohl einer nie vorhanden gewesenen Kompetenz der Heil- und Sonderpädagogik zuspricht. Im Sinne der von Vygotskij beschriebenen »Zone der nächsten Entwicklung« entsteht dieses Potenzial aus den gemeinsamen Kooperationen. Ich gebrauche ein hartes Bild: Die Schwere einer geistig-mentalen Beeinträchtigung ist nicht der Begrenzung oder Einschränkung der neuronalen und folglich auch psychischen Funktionen eines Menschen geschuldet, sondern den vorenthaltenen und begrenzten Möglichkeiten an gelingenden Kommunikationen und Kooperationen insofern, als sie den Wahrnehmungsraum des betroffenen Menschen erreichen, die Signale zu Informationen werden können, was als Basis eine reziproke Kommunikation, den Dialog erfordert. Das verweist auf die Aussage von Maturana und Varela in ihrem Werk Der Baum der Erkenntnis, dass Geist als ein Phänomen des In-der-Sprache-Seins im Netz sozialer Koppelungen zu verstehen ist und sich nicht in meinem Gehirn befindet. Das im Zusammenhang mit dem Hinweis und der hinreichend empirisch nicht nur in den Neurowissenschaften belegten Tatsache, dass ein lebendes System sich nur verändert, wenn sein Interaktionsbereich sich verändert, was auch die Bindungstheorie bis in die Psychotraumatologie hinein belegt, dürfte verdeutlichen, wie sehr man Menschen geistig in ihrer Entwicklung be-hindert, wenn man sie in Annahme einer geistigen Behinderung in Gruppen vergleichbar kategorisierter Menschen bilden möchte; aber bilden will man ja nicht, man ›fördert‹. Dass ich über Jahre und oft schon vom zweiten Lebensjahr an unter den geschilderten pädagogischen Bedingungen in den integrativen Kindertagesheimen in Bremen die Entwicklungsverläufe sehr schwer beeinträchtigter Kinder als Beleg für die Angemessenheit der theoretischen Grundlagen und Erklärungsmöglichkeiten beobachten konnte, ist mir eine Erfahrung, die ich um keinen Preis missen möchte. Im Rahmen der stationären Arbeit mit der SDKHT haben sich solche Verläufe oft binnen weniger Tage ereignet, auch wenn sie in regulären Entwicklungsprozessen und -verläufen nur über Jahre zu beobachten sind. Das war oft wie im Zeitraffer. Deutlicher als ich es erfahren durfte, können die Belege für die Notwendigkeit der Integration und Inklusion in reguläre Bildungsinstitutionen und das umso notwendiger, je schwerer Menschen beeinträchtigt sind, nicht sein. Das bestätigte auch meine Aussage aus den frühen 1970er Jahren in Bezug auf schwer autistische Menschen, die in Kombination mit meiner Feststellung, dass der autistische Mensch nicht autistisch sei, für viel Aufruhr gesorgt hat und ganz einfach lautete: Nicht Isolation der Isolierten, sondern Integration der Isolierten. Mit der Aussage negierte ich ja nicht das schon vor der sogenannten Erstbeschreibung der Autismus-Syndrome von Kanner und Asperger von Grunja Jefimovna Suchareva beschriebene Phänomen eines spezifischen Entwicklungsverlaufs in der Kindheit, den sie als »schizoide Psychopathie« beschrieb, sondern kritisierte die mit dem Begriff des Autismus suggerierte Annahme der Unfähigkeit dieser Menschen zu sozialen Austauschprozessen. Wie oft wurde mir gesagt, dass autistische Menschen im Rahmen der Arbeit im Konzept der SDKHT die Person-2 nicht akzeptieren würden, was in keinem einzigen Fall zutraf. Im Gegenteil, selbst von früher Kindheit an schwer autistische Menschen haben die Person-2 nach kurzer Zeit der Arbeit mit ihnen geradezu eingefordert oder sie hinter sich geholt. Ich habe das in einem Grundlagenbeitrag im Band 12 des Enzyklopädischen Handbuchs der Behindertenpädagogik zusammengefasst. In diesem Band findet sich auch ein Grundlagenbeitrag zu ›Bindung und Dialog‹ von Wolfgang Jantzen und mir. Auch die im zweiten Teil meiner Dissertation, die 1979 veröffentlicht wurde, gemachten Ausführungen zum Verständnis des kindlichen Autismus unter erziehungswissenschaftlicher Perspektive finden eine laufende Bestätigung; nicht zuletzt auch durch die modernen Neurowissenschaften. Ich denke da, um nur einige Wissenschaftler zu nennen, an die Arbeiten von Gerhard Roth bei uns in Bremen, an Manfred Spitzer oder Gerhard Hüther. Es sei noch ein nahezu trivialer Hinweis ergänzt: Eine Fingerhut voll Gehirnmasse einer Ratte hat mehr neuronale Verknüpfungen als mit dem Zusammenschluss aller auf dieser Erde heute vorhandenen Computer erreicht werden könnten. Wenn man nun bedenkt, wie viel an menschlichem Gehirn selbst bei einem schwerst hirngeschädigten Menschen noch funktionstüchtig sein muss, um selbst ein intensivmedizinisch unterstütztes Leben führen zu können, bleibt mir nicht mehr nachvollziehbar, wie man schwerst beeinträchtigten Menschen die soziale Isolation und bildungsmäßige Deprivation durch Zangsinklusionen in sonderpädagogische Lern-, Wohn- und Arbeitsräume noch zumuten kann, ohne dass dies strafrechtlich als ›psychische Euthanasie‹ verfolgt wird. Mir drängt sich da immer wieder der Basaglia’sche Begriff der »Befriedungsverbrechen« auf, die wir noch staatlich honoriert, uns im Rechtsbewusstsein wiegend, begehen dürfen.

Welche Arbeiten zu den theoretischen Grundlagen erachten Sie für besonders wichtig?

Theoretische Grundlagen

Einige habe ich angesprochen; sehr viele von grundlegender Bedeutung sind natürlich nicht benannt, um sich, wie ich es fasse, die postrelativistischen Erkenntnistheorien und ihre naturphilosophischen Grundlagen aneignen zu können, wie sie die Selbstorganisationstheorie und die resultierende Systemtheorie aber auch grundlegende Aspekte des Konstruktivismus repräsentieren. Sie sind Grundlage einer Allgemeinen Pädagogik und auch der Konzeption der SDKHT. Besonders möchte ich aber noch einmal die Arbeiten der Kulturhistorischen Schule und ihrer Nachfolger hervorheben und die Arbeiten von Franca und Franco Basaglia; aber das wird schon aus meinen Ausführungen deutlich.

Fliegenbeinzählerei, welche empirischen Forschungen erachten Sie für besonders wichtig?

Relevanz empirischer Forschung

Das hört sich jetzt sehr anmaßend an, ist aber nicht anmaßend gemeint: Bezogen auf das, was ich in Pädagogik und Therapie entwickelt habe, habe ich nicht wirklich eine empirische Arbeit gefunden, die mich auf diesem Weg weiter gebracht hätte. Ich fand allerdings Arbeiten, die bestätigten, was ich erfahren habe, also meiner eigenen Empirie entsprechen. Voran gebracht haben mich, wie Ihnen geschildert, die Begegnung und Arbeit mit den Menschen auf dem Dorf, in den Kasernen von Rastatt, in den Randsiedlungen der Städte, vor allem in Gießen und selbstverständlich auch Arbeiten, wie z. B. schon die Dissertation von Wolfgang Jantzen, die im Grunde – und verkürzt gesagt – bestätigen, dass man aus dem Sozialstatus von Familien, dem Grad ihrer Armut oder der Wohnverhältnisse und Arbeitstätigkeit der Eltern bzw. aus ihrer Arbeitslosigkeit schlussfolgern kann, dass ein Kind eine Lernbehindertenschule besucht. Die Arbeiten haben immer eher nachgängig bestätigt, was wir erkannt und entwickelt haben und nicht zu diesen Erkenntnissen und Entwicklungen angeregt. Was Wolfgang Jantzen und ich schon zu Beginn unserer Zeit in Bremen gelehrt haben, fand nahezu ohne Ausnahme im Laufe der Zeit seine Bestätigung in Forschungen anderer Wissenschaften. Damit wir uns recht verstehen: Ich habe nichts gegen empirische Studien, aber aus der Feststellung von quantifizierbaren Zusammenhängen lässt sich keine Pädagogik entwickeln, keine Didaktik und keine Therapie. Das sind Fragen, wie ich es schon gesagt habe, der Transformation grundlegender Erkenntnisse über menschliches Leben, Lernen und Entwicklung in pädagogische Theorien und Praxis und damit qualitative Prozesse, die in besonderer Weise die Philosophie, Psychologie, Soziologie, eine sich human verstehende Psychiatrie und Neurowissenschaft betrifft. Einfacher ist eine Erziehungswissenschaft und Pädagogik nicht zu haben. Viele Studien, die heute zu Inklusionsfragen gemacht werden – ich ordne sie dem Inklusionismus zu –, sind erkenntnistheoretisch gesehen das Papier nicht wert auf dem sie stehen. Auch das mag überheblich klingen, ist aber meine Meinung. Vieles führt über das nicht hinaus, was wir vor vier Jahrzehnten zu Beginn der Integrationsentwicklung schon gedacht, erkannt und praktiziert haben, was ja nachgeprüft werden kann, oder erreicht in manchen Fällen nicht einmal diesen Stand, ist aber statistisch aufgeblasen und schillert wie eine Seifenblase. So etwas kann aber auch schnell platzen wie eine Seifenblase. Im Spiegel der Arbeiten seit der Umetikettierung der Integration in Inklusion, so wage ich anzunehmen, ist man in der Sache nicht weiter gekommen.

Anregungen aus anderen Wissenschaftsfeldern

Anstöße, weiter zu denken, finde ich in ganz anderen Wissenschaftsfeldern. Es sei hier vielleicht kurz angedeutet. Ich habe schon auf die naturphilosophischen Hintergründe verwiesen, die humanwissenschaftliche Erkenntnisse erst richtig verstehbar machen. Ich skizziere kurz in Bildern: Vor mehr als 50 Jahren haben Peter Higgs und Francois Englert berechnet, dass es ein nach Higgs benanntes Boson, das Higgs-Boson geben muss. Ein Elementarteilchen aus dem Standardmodell. Wir bewegen uns also im Feld der Quantenphysik. Dieses Teilchen trägt als Eigenschaft die Masse, die Materie hat. Aber diese Masse ist, wie am CERN in Genf 2013 experimentell herausgefunden werden konnte, keine intrinsische Eigenschaft dieses Teilchens, sondern es gewinnt seine Masse durch Wechselwirkung mit einem Feld, dem Higgs-Feld. Das führte noch im gleichen Jahr zum Nobelpreis, was die Bedeutung dieser Erkenntnis verdeutlicht. Damit ist das letzte Elementarteilchen aufgeklärt und nachgewiesen – ich sage es jetzt generalisierend –, dass alles was ist, aus Wechselwirkungen entstanden ist. Gehen wir nun im Sinne des historischen und dialektischen Materialismus davon aus, dass höhere Systeme in der Evolution sich aus vorausgehenden niedrigeren Systemen aufbauen, wie das Darwin erstmals fundiert nachgewiesen hat, müssen wir auch für lebende Systeme, die ja aus Materie aufgebaut sind, davon ausgehen, dass dieser sie aufbauende Grundsatz nicht verletzt werden kann, sonst könnten sie nicht existent sein. Ich denke, Sie, oder späterhin die LeserInnen können leicht erkennen, dass dies auch Gültigkeit für die Bereiche der Pädagogik hat, worauf ich eben in Bezug auf den ›Geist‹ nach Maturana und Varela verwiesen habe. Was ist also eine Behinderung? Und wodurch entstehen in pädagogischen und therapeutischen Prozessen, die am Subjekt beobachtbaren ›Eigenschaften‹ – aus dem Subjekt oder aus dessen Wechselwirkungen mit seiner Umwelt? Sie können das selbst weiterdenken. Oder ein anderes Beispiel: Auf welchem Hintergrund kann z. B. in einer Therapie ein Erfolg erzielt werden? Es interagieren Personen und es gibt das schon von Freud herausgearbeitete Phänomen der Übertragung. Was könnte deren Grundlage in der Materie sein? Da fällt einem der Quantentunneleffekt der Quantenmechanik auf. Nach dem Energieerhaltungsgrundsatz dürfte, nehmen wir zwei Berge, die wie ein ›U‹ durch ein Tal verbunden sind und ein Wägelchen wie in der Achterbahn ohne Widerstand die eine Seite hinunterrollt, es auf der anderen Seite gerade mal so hoch und dort wieder in Ruhe kommen, wie es auf der anderen Seite gestartet ist. Ist der Berg, den es hinauf rollt, höher als der Berg, den es hinunterrollte, könnte es diesen Berg nach Maßgabe der klassischen Physik nicht über dessen Gipfel hinweg überrollen, um auf der anderen Seite wieder hinunterzufahren. Und dennoch findet man Quanten auf der anderen Bergseite. Sie müssten quasi durch den Berg hindurch getunnelt sein. Woher kommt aber die Energie dazu? Sie müsste für eine sehr kurze Zeit geliehen und dann schnell wieder zurückgegeben worden sein. Wäre es nicht wert, darüber nachzudenken, ob der psychische Effekt der Übertragung seine Wurzeln nicht in diesem quantenphysikalischen Phänomen haben könnte, wenn wir einer evolutionären Logik folgen und nicht mit Setzungen arbeiten?

Trennung von
Natur- und Geisteswissenschaften

Ich möchte damit ein wenig verdeutlichen, woher die Anregungen und die Sicherheit kommen, dass wir mit dem, was der Begriff der Inklusion fasst, pädagogisch und therapeutisch aus naturphilosophischer Sicht mehr Erkenntnisse generieren können als aus der klassischen Geisteswissenschaft, der die Pädagogik entstammt, die sich noch immer nicht von ihrer theologisch-philosophischen Herkunft eines Descart’schen Dualismus gelöst hat. Aus diesen Feldern kommen dann die angedeuteten utilitaristischen und eschatologischen ethischen Begründungen, dass es moralisch gerechtfertigt sei, Schwerstbehinderte im Sinne der Euthanasie zu töten, auch um sie von ihren Leiden zu erlösen. Weiter hat es bis heute die Mutter der Pädagogik in dieser Frage nicht gebracht. Daraus kann ich keine Erkenntnisse für die Inklusion gewinnen, wohl aber Erklärungen, warum wir wider besseres wissenschaftliches Wissen im Feld institutionalisierter Erziehung und Bildung noch immer selektieren, ausgrenzen und einschließen. Wird da nicht die Zusammenführung autistischer Menschen zu einer Gruppe zum Zweck des sogenannten ›sozialen Kompetenztrainings‹ zur Farce? Das alles hat mit Pädagogik nichts zu tun. Das suggeriert man uns nur, um weiterhin willig so zu verfahren, wie es von denen, denen die Macht im Bildungsbereich zu rauben ist, gewünscht wird. Sehen Sie, das ist auch eine Folge der Dramatik in der Wissenschaftsentwicklung, dass Natur- und Geisteswissenschaften getrennt sind, wie es in der Psychologie die Emotions- und Kognitionspsychologie leider noch immer sind, wider jede vernünftige Erkenntnis deren Zusammenhänge. Diesbezüglich muss man sich wirklich mit Fragen der Biopolitik befassen, wie sie Foucault grundgelegt hat, deren Prinzipien Agamben mit »Sterben machen«, »leben machen« und »überleben machen« beschreibt, was, wie schon angedeutet, von der Präimplantationsdiagnostik über das sogenannte ›Liegenlassen‹ schwerst beeinträchtigter Säuglinge bis zur Hirntodfrage reicht.

Essenzielle Kontakte zu Menschen mit Beeinträchtigungen

Unter diesen Gesichtspunkten gesehen, hatte ich das Glück, durch den Dorfdeppen bis hin zu den Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen, tiefgreifenden Entwicklungsstörungen und schwersten Traumatisierungen sehr viel lernen zu können. Ich sage das immer so: Ich kann auf viele Menschen verzichten, denen ich in meinem Leben begegnet bin, aber auf keinen einzigen von ihnen. Sehr viel und Grundlegendes habe ich von autistischen Menschen gelernt. Bis wir z. B. schauen, ob sie schauen, haben sie schon einen ganzen Raum und jedes Detail desselben gesehen und registriert und wir meinen dann, sie würden das alles nicht beachten können oder ignorieren. Da versagen unsere Beobachtungsinstrumente sehr schnell. Aber genau dann wird es spannend. Auf der anderen Seite überbewerten wir mit der Annahme, dass viele Entwicklungsprozesse unserem Unterricht zu verdanken sind. Einen genauen Nachweis, was z. B. durch Unterricht oder durch andere Faktoren im Alltag eines Kindes entstanden ist, können wir nicht erbringen. Ein Mensch lernt immer! Da ist der Wunsch Vater des Gedankens und unsere gute Absicht Pate unserer Wahrnehmung.

Schule neu denken

Die Kultusminister würden gut daran tun, die Schule für ein Jahr zu schließen, die Lehrerschaft weiter zu beschäftigen und mit der Neukonzeption ihrer Schule als inklusive zu beauftragen, die dann mit dem darauf folgenden Schuljahr für alle Kinder ihres Einzugsbereiches neu eröffnet wird. Und das mit einer fachlichen Schulautonomie, die ihre Arbeitsweise entsprechend ihrer Schülerschaft und deren Erfahrungshintergründe organisiert. Eine Schule, ich glaube, ich habe es schon angedeutet, die neben einem Flughafen, einer Autobahn oder einem Flusshafen liegt, in einem Park oder in einer urbanen Betonwüste kann nicht wie eine andere arbeiten, auch wenn sie nur zwei Kilometer voneinander entfernt wären.

Universität
neu denken

Das Jahr der Aussetzung des Unterrichts wäre auch den Hochschulen und Universitäten zu verordnen, verbunden mit dem Auftrag, eine angemessene LehrerInnen-Bildung zu organisieren, ohne an den derzeit realisierten Bologna-Prozessen festhalten zu müssen, die in vielen Fällen als inadäquat umgesetzt anzusehen sind. LehrerInnen müssen gebildet werden; nicht primär ausgebildet. Was ich damit meine, dürfte sich erschließen; das Verlassen der Rolle als »Techniker des praktischen Wissens«. Wenn ich in Zürich auf der Bahnhofstraße am Denkmal Pestalozzis vorbeigehe, der einem Kind den Weg weist und es in dessen Richtung zu lenken versucht, verneige ich mich kurz, auch wenn das von den Passanten mit Befremden zur Kenntnis genommen wird. Manchmal denke ich, wenn er in den homogenen Klassen mit einem auf die Schulwoche fixierten Curriculum anhand vorgegebener Lernmittel unterrichten müsste, wie das heute üblich ist, würde er sich vermutlich im nächst erreichbaren Geschäft einen Strick kaufen und sich am nächst erreichbaren Baum erhängen. Die staatliche Regulation des Bildungssystems muss sich der Eingriffe in die Lehrerbildung und in den Unterricht der Schulen enthalten, was nicht heißt, dass der Staat nicht Ansprüche an dieses System zu stellen hätte. Aber deren Auswahl und Umsetzung muss den Fachkräften überlassen bleiben. Ein Bildungspolitiker, der sich einer Operation zu unterziehen hat, wird den Ärzten und dem OP-Team nicht vorschreiben, was sie zu tun haben, sondern sie als dafür fachlich kompetent und ihre Verantwortung wahrnehmend anerkennen. Das ist auch für das Feld der Bildungsinstitutionen in gleicher Weise in Anspruch zu nehmen.

Rückschritte in der Integrationsentwicklung

Wenn ich an die Anfänge der Integrationsentwicklung zurück denke und man würde mich gefragt haben, ob man in 40 Jahren so weit ist, wie wir das heute sind, würde ich das verneint und auf weit längere Zeiträume verwiesen haben. Wenn ich aber an die Zeit in Bremen zurückdenke und was dort möglich geworden war, kommen mir innerlich die Tränen, wenn ich sehen muss, was heute ist – und das nicht nur in Bremen, sondern im ganzen deutschsprachigen Raum. Was die Weiterentwicklung der Inklusion betrifft, geht mein Optimismus für die mir noch verbleibende Lebenszeit gegen Null. Die Borniertheit der Bildungspolitik im Schlepptau der reichen Wirtschafts- und Bildungseliten der Länder und deren Interessen, in den Menschen einen effizient funktionierenden biologischen Maschinenteil ihrer auf Wachstum getrimmten Industrien zu haben – nicht nur in der Produktion, sondern über alle gesellschaftlichen Bereiche hinweg bis hin zur Unterhaltungsindustrie – wird ein humanes und demokratisches EBU zu verhindern wissen. Und der erwähnte Habitus eines vorauseilenden Gehorsams in Kombination mit den durch Ausbildungs- und Einstellungsbedingungen möglichen Regulierungen des Verhaltens der Lehrerschaft wird sie in ihrem Herr-Knecht-Verhältnis unmündig halten und das System weiter stabilisieren. Allerdings bin ich mir darin sicher, dass die inzwischen erreichten Inseln einer neuen Bildungskultur zwar eingegrenzt und hinsichtlich ihrer Weiterentwicklung blockiert werden und bleiben können, aber zu negieren sind sie nicht mehr.

Was sind aus Ihrer Sicht die interessantesten Streitpunkte innerhalb der community?

Fehlende Krise der Sonderpädagogik

Ja, wenn’s denn welche gäbe … und ob es eine scientific community gibt, ist mit eine weitere offene Frage. Vor Jahren war die Rede von der durch die Integration bzw. Inklusion bedingten Krise der Heil- und Sonderpädagogik. Von dieser habe ich nichts bemerkt. Für mich ist ihre Krise, keine Krise zu haben und nach dem in der Politik inzwischen geflügelten Wort: Weiter so – auch im sEBU weiter zu wursteln.

Mangel an
Streitkultur

Ich bin der Meinung, dass im Sinne der bestehenden Denkkollektive bzw. bezogen auf eine Art paradigmatischer Streitpunkte keine wirklichen Diskurse laufen. Das zeigt sich sehr deutlich in den schon erwähnten Jahrestagungen der Intergrations-/InklusionsforscherInnen, die sich weitgehend selbst zelebrieren und, wie ich im vergangenen Jahr in Linz in Seminaren erfahren musste, enden die Studien, die vorgetragen werden, meist ohne dass Schlussfolgerungen oder Konsequenzen für die weitere Theoriebildung und Inklusionspraxis daraus gezogen werden, was diskussionswürdig wäre. Es zeigt sich auch darin, dass kontroverse Positionen, wie sie im Schrifttum ja auftauchen – eben auch wie sicherlich mit meinem Interview mit Ihnen – keine Nachfragen, Aussprachen, Meetings oder Gegenschriften auslösen. Eine Diskurskultur, wie ich sie z. T. in meiner Studienzeit zumindest noch in der Form von Referat und Koreferat erleben konnte, gibt es meines Wissens heute nicht mehr. Das geht so weit, dass Arbeiten zu einschlägigen Themen, die manche AutorInnen bearbeiten, weder zitiert, noch zur Kenntnis genommen und im Literaturverzeichnis nicht ausgewiesen werden. Auch das wehrt Diskurse ab. Manchmal hat man selbst nach über vier Jahrzehnten den Eindruck, dass das Rad der Integration bzw. Inklusion gerade neu erfunden wird; ein Zeichen dafür, wie weit der fachliche Ahistorismus fortgeschritten ist, als ginge es mit Inklusion und der UN-BRK um ›alternative Fakten‹.

Wir haben es schon so ein bisschen angesprochen bezogen auf die Disability Studies, welche Bezüge zu den anderen Teildisziplinen sehen Sie, welche Probleme oder welche Kooperationen gab es, also gerade auch Fragen von Migration, kulturellem Hintergrund …

Kulturelle Verschiedenheit in der Kita

Was Sie angesprochen haben, war bei uns in Bremen von Anfang der Integrationsentwicklung an ein integraler Bestandteil unserer Arbeit. In den Kindertagesheimen fanden sich, je nach Stadtteil, Kinder aus vielen Kulturen, Sprachräumen, Religionen und Nationalitäten zusammen, die nicht zu nivellieren versucht wurden, sondern als Bereicherung der Erfahrungshorizonte aller Kinder gewertet wurden. Vor allem wurde versucht, kulturspezifische Phänomene im Sozial- und Lernverhalten der Kinder, auch bezogen auf ihre Erfahrungshorizonte, nicht als »Behinderung« zu deuten, wie das im Feld der Grundschule damals schon recht häufig vorgekommen ist. Damit wurde auch versucht, einer späteren ›Sonderschulbedürftigkeit‹ vorzubeugen, was in Kontexten der Integration ohnehin absolut keine Option gewesen wäre; das dürfte aus meinen Ausführungen deutlich geworden sein. Kultur- und religionsspezifische Feste wurden mit allen Kindern und ihren Eltern gefeiert; nicht nur die christlichen, wie man vielleicht gerade in Bezug auf die Kindertagesheime der Bremisch Evangelischen Kirche denken könnte. Die Frage von Migrationshintergrund, die inzwischen eine Art eigene Agenda führt, war eine Komponente im Alltagsleben der Stadt und keine unter Ausgrenzungs- oder Integrationsgesichtspunkten besondere – hier ›Integration‹ verstanden im Sinne, wie sie heute wieder durch die sogenannte Flüchtlingspolitik und Ausländerintegration im Schwange ist. Gerade unsere Lehramtsstudierenden waren durch die Erfahrungen der Kindergartenarbeit sehr sensibilisiert und bildeten dort, wo sie später als Lehrpersonen tätig wurden, eine Art Sicherheitsgarantie für die Kinder, nicht in den Zugriff fataler sonderpädagogischer Diagnostik zu kommen. Wie sich das inzwischen entwickelt hat, kann ich nicht beurteilen.

Mangelnde Verschränkung der Dimensionen Kultur und Beeinträchtigung

Was mir als einen der vielen Widersprüche der Inklusion im Bildungssystem auffällt, ist, dass man mit der – ich nenne es hier so – ›Behinderteninklusion‹ eine Art eigenes Feld aufgemacht hat, wie parallel dazu mit der ›Migrantenintegration‹ und diese, wie ich zur Kenntnis nehmen musste, sich selbst auf universitärer Ebene in auftragsunterschiedenen Lehrstühlen darstellen. Auch da kann ich nur kopfschüttelnd die Frage stellen, welches Verständnis von Integration und Inklusion sich da verselbstständigt hat und wem das letztlich dient. Einem platten Multikulturalismus standen wir insofern immer kritisch gegenüber, dass die damit verbundenen Sozial- und Bildungsfragen und auch die resultierenden Konfliktpotenziale als solche zu erkennen, nicht zu verniedlichen, aber auch nicht zu hypertrophieren sind oder in Ethnien zu spalten und zu gettoisieren.

Abgrenzung von Gleichmacherei

Wir versuchten die Verschiedenheit, wie schon betont, als Bereicherung und im Kindergarten- und Schulalltag als gegebene Vielfalt anzunehmen, die nicht zu nivellieren ist und Gerechtigkeit nicht bedeutet, jeder und jedem das Gleiche zu geben oder von ihm das gleiche zu verlangen, sondern das, dessen sie oder er bedarf, um in einer Gemeinschaft kooperativ lernen zu können. Ganz im Gegensatz zu vielen mit der Integration bzw. Inklusion verbundenen Annahmen der Gleichmacherei wurde versucht, den Kindern eine differenzierte Wahrnehmung ihrer Bedürfnisse und die der anderen Kinder zu vermitteln, denen zu entsprechen ist, damit sich jedes Kind als gleich behandelt verstehen kann, ob das nun ein Kind im Rollstuhl, eines ohne Sprache oder mit einer anderen Hautfarbe oder mit einer den anderen Kindern nicht verständlichen Sprache war. Daraus entwickelte sich eine Art Werte-Verbindlichkeit, die ein konstruktives Zusammenleben und gemeinsames Lernen ermöglichte, das diesbezüglich wirklich konfliktarm blieb. Auch unter diesen Aspekten konnte ich die Erfahrung machen, dass eine inklusive Frühe Bildung geradezu als eine unverzichtbare Voraussetzung für eine gelingende inklusive Unterrichtsarbeit anzusehen ist.

Einheit von Bildung und Erziehung über Altersstufen hinweg

Durch die Trennung von Früher Bildung und Schulbildung sowohl hinsichtlich der Zuordnung zu Sozialministerien und Kultusministerien wie auch durch die Trennung dieser Bereiche in der Ausbildung, wie das in Deutschland der Fall ist, ist eine solche Sichtweise nie zustande gekommen. Auf der anderen Seite musste ich in der Schweiz erfahren, dass trotz der Zuordnung der Frühen Bildung zur sechsjährigen Primarschule und trotz gleicher Standorte der Bereiche an einer Schule diese Trennung nicht als überwunden angesehen werden kann. Was könnte für das Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder daraus in den acht dafür vorgesehenen Jahren gemacht werden. Im kollektiven Bewusstsein wird Schule mit Pflichten, Leistung und Leistungsbewertung, mit konkurrentem und wettbewerbsorientierem Lernen identifiziert und Kindergarten mit Spielen; allenfalls mit dem Gedanken einer Vorschule. Eine Einheit von Bildung und Erziehung über alle Altersstufen hinweg, wie ich das ausgeführt habe, ist selbst dem Denken der PädagogInnen fern; von den Eltern ganz zu schweigen.

Selbstverständlichkeit der Vielfalt

Die ›Allgemeine Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik‹ versteht in ihrer Theoriebildung und Praxis jedes Moment, das Vielfalt konstituiert und als Diversität zu erkennen ist, als einer gemeinsamen Lernkultur inhärent, ob es nun unter Behinderung, Migration, Ethnie oder Gender-Frage gefasst wird. Es war uns, ich kann es nicht anders sagen, von Anfang dieser Entwicklungen an derart selbstverständlich, dass wir uns nicht veranlasst sahen, dass als etwas Besonderes herauszustellen. Darauf bezogen ist mir Annedore Prengels ›Pädagogik der Vielfalt‹ doch ein segmentiert bleibender Versuch, interkulturelle, feministische und integrative Momente, wie der Buchtitel suggeriert, in einer Pädagogik zu vereinen.

Ja, auf der anderen Seite kann man dann fragen, ob denn die Frauenforschung und auch die Migrationsforschung in dem Maße die anderen Dimensionen mitberücksichtigt haben?

Forschung behinderter Frauen

Es hat diesbezüglich interessante Entwicklungen gegeben. Das kann man im Kontext der Integrationsentwicklung bis in die Zeit der Gründung der »Krüppelgruppe« in Bremen und der resultierenden Behindertenbewegung zurückverfolgen, die ich kurz angesprochen habe. Dort flossen Momente der Genderbewegung und Frauenforschung mit der Behindertenbewegung zusammen: Zum einen als Abwehr und Gegenmoment gegen die mit der Integrationsentwicklung durchaus entstehende Gefahr einer neuen Art der Vereinnahmung, Negation oder Nivellierung der spezifischen Interessensphären und Emanzipationsbegehren gerade auch behinderter Frauen. Zum anderen schloss das aber die Reflexion der unter dem Begriff der Integration firmierenden Bemühungen um Anerkennung, Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit in allen gesellschaftlichen Kontexten nicht aus und damit auch nicht eine gewisse, stets aber kritisch bleibende Solidarität mit der Bewegung. Ich denke dabei an die Arbeiten und das Wirken von Swantje Köbsell, Heike Ehring und Barbara Rohr, um nur einige Frauen zu benennen, die hier Bedeutendes geleistet haben; oder auch Anne Waldschmidt, der eine differenzierte Grundlegung der Disability Studies zu verdanken ist. Dem gegenüber führt aus meiner Sicht die Migrationsforschung, die ihrerseits ja interdisziplinär ausgerichtet ist, eine doch sehr auf ihre Kernbereiche fokussierte Forschung und tangiert selbst in ihrem Bereich der Bildungsmigration die hier aufgeworfenen Fragen kaum.

Meine Frage zielt ja jetzt so ein bisschen darauf ab, dass ich mich mit Annedore auch schon gestritten habe, inwieweit Inklusion durch dieses Berücksichtigen aller Heterogenitätsdimensionen tatsächlich einen qualitativen Fortschritt darstellt. Wo sie gesagt hat, nö, das haben wir in Frankfurt bei der Integration schon so mitgedacht. Wie kommt man denn jetzt zu einer stärken Kooperation und Zusammenarbeit zwischen den Teildisziplinen, denn letztlich haben wir ja ein gemeinsames Problem der Ausgrenzungs- und Abwertungsprozesse?

Umfang der gesellschaftlichen Ausgrenzungsprozesse

Das ist richtig und meine Hinweise richten sich immer wieder darauf, dass die Kernfrage nicht die Inklusion ist, sondern die Exklusionen und in deren Folge die Zwangsinklusionen in die Sonder- und Randbereiche der Gesellschaft. Gründe dafür sehe ich in der doch großen politischen Blindheit des Inklusionismus und den resultierenden unpolitischen Strategien der Realisierung der Idee der Inklusion. Das dürfte wieder Gründe darin haben, dass die vor allem in der Soziologie schon seit Jahrzehnten zunehmend geführte Debatte um Fragen des Verhältnisses von Exklusion und Inklusion seitens der Pädagogik weitgehend ausgeblendet bleibt und in Folge wiederum die Diskurse die erforderliche Interdisziplinarität nicht erreichen und, wie schon gesagt, diese selbst weitgehend marginaler Art bleiben. Damit bleibt auch verkannt, dass die an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen hinsichtlich ihrer prekären Lebenslage auch bezogen auf ihre Bildungsbedürfnisse marginalisiert und, wie schon hervorgehoben, als bildungsfern stigmatisiert werden. Rein quantitativ stellen die Exklusionen behinderter Menschen gegenüber den schon als massenhaft wahrzunehmenden Menschen in prekären Lebenssituationen eine recht kleine Anzahl dar. Auch ist nicht anzunehmen, dass diese sich als Sozial-, Gesundheits- und Bildungsfragen artikulierenden Problemlagen jeweils, um es so zu sagen, mit diversitätsspezifischen Strategien lösen lassen. Das hat die traditionelle Heil- und Sonderpädagogik mit ihren kategorialen Zuweisungen ins Bildungssystem ja ausreichend bewiesen. Damit kann ich wieder an die vorausgehenden Aussagen für den Bereich des Bildungssystems anschließen, dass der Vielfalt nur in der Einheit einer auf Gerechtigkeit orientierten Bildung und Erziehung entsprochen werden kann. Deshalb sehe ich in den Bemühungen um Konstruktion und Dekonstruktion von Diversität bislang keine inklusionsfähige Strategie, die auch praxiswirksam ist. Das kann dann auch gesamtgesellschaftlich auf die vielen Heterogenitätsdimensionen bezogen werden, denen, so meine Auffassung, nur durch eine gesamtgesellschaftlich wirksame Strategie entsprochen werden kann, die diversitätsbezogene Selektions- und die daraus resultierenden Exklusionspraxen ächtet und überwindet. Damit sind wir mit revolutionären gesellschaftlichen Transformationsprozessen hin zu einer postkapitalistischen Gesellschaft befasst, die seitens der Ökologie in Anbetracht eines drohenden Planetozids und auch seitens der Ökonomie schon weitgehend diskutiert wird, aber leider, so sehe ich es, seitens der Pädagogik und des EBU nahezu völlig außer Acht gelassen wird. Nur in Einheit ist der Vielfalt gerecht zu werden; das nehme ich für alle Domänen, die wir hier tangiert haben, in Anspruch. Das entbehren mir die Positionen von Annedore Prengel, was aber nicht nur auf sie fokussiert werden kann, sondern für mich nur ein Beispiel einer von mir sehr geschätzten Persönlichkeit ist, die von Anfang der Integrationsentwicklung dabei gewesen ist. Um inklusiv wirksam werden zu können, müssen die Exklusionen beendet werden. Daran dürfte nicht vorbeizugehen sein.

Welche zukünftigen Aufgaben oder Herausforderungen sehen Sie für die Praxis … für die nächsten 720 Jahre?

Politisierung
als Aufgabe

Allem voran, denke ich, ist die Politisierung des Anliegens einer Allgemeinen Pädagogik, wie sich das mit dem Begriff der Inklusion und der UN-BRK verbindet, neu zu schaffen und zu gestalten. Dabei unterscheide ich sehr, wie schon an anderer Stelle gesagt, dahingehend, dass Pädagogik nicht Politik ist, aber hoch politisch und zwar im Grunde für unsere Kulturen und Zivilisationen von erstem Rang. Dies in gleicher Weise in Bezug auf die Lehrerschaft und die Eltern. Bildung im hier von mir skizzierten Verständnis ist die erste Ressource einer menschlichen Gesellschaft, auch wenn sie sich heute zugunsten der Wachstumsraten und Produktionssteigerung in Abschaffung befindet. Wie politisch die frühe Entwicklung der Integration gewesen war, zeigt eine Dokumentation in drei Teilen, die Christa Polster über die Entwicklung der Integration in Österreich von 1984–1993 gedreht hat. Man sollte sich diese im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, Wien, erstellte Doku einmal ansehen.

Gesamtkonzept zur Transformation des Erziehungs-, Bildungs- und
Unterrichtssystems

Eine zentrale Aufgabe wird sein, aus pädagogischer Sicht ein schlüssiges Konzept der Transformation des sEBU in ein inklusives Erziehungs-, Bildungs- und Unterrichtssystem (iEBU) zu präsentieren, das der Vielfalt in einer pädagogischen Einheit unter Ermöglichung der Entfaltung der Potenziale aller Kinder und SchülerInnen zu entsprechen und dieses auch an die Politik zu vermitteln vermag. Der Flickenteppich, der heute über den Boden der Inklusion gespannt wird, signalisiert eher einen zwar von der Politik selbst verursachten, aber inzwischen von ihr verachteten Reformismus, der sie darin bestärkt, jeder Veränderung die Stirn zu bieten, ohne dabei offen legen zu müssen, dass es ihr um nichts mehr als die Erhaltung des sEBU geht. Anders gesagt: Wir machen es mit dem chaotischen Inklusionismus, der nur scheinbar viel mit Wissenschaft zu tun hat, der Politik leicht, die erforderlichen Transformationen abzulehnen und den Eltern sehr schwer, Vertrauen in diese pädagogische Praxis zu gewinnen. Es wird heute aus meiner Sicht sehr unterschätzt, welchen Schaden dilettantisch umgesetzte und gescheiterte Inklusionspraxen gerade auch für behinderte Kinder bei der Elternschaft angerichtet haben. Das bringt auch Wasser auf die Mühlen einer traditionalistisch-reaktionären Heil- und Sonderpädagogik, der es mit Pseudoargumenten zum Kindeswohl nur um ihren Selbsterhalt geht. Das wiederum ermöglicht der Regelpädagogik, sich der als Problem erlebten Schüler als Sand in ihrem Getriebe durch Ausschluss zu entledigen, was wieder Futter für den Erhalt der Sondersysteme ist.

Reformfeindliche Bestrebungen

Wie massiv wenige Eltern, die der sogenannten Bildungselite angehören und Geld haben, für Kinder sinnvolle Veränderungen der Schule wegwischen können, hat das Hamburger Debakel der Ablehnung einer sechsjährigen Grundschule von 2010 gezeigt, wie sie in der Schweiz die Regel ist, ohne dass das Land daran zerbrochen wäre. Damit wurde ein wesentlicher Teil der Hamburger Schulreform zunichte gemacht.

Inklusion als Aufgabe der Zivilgesellschaft

Ohne Überwindung der sich wechselseitig erhaltenden Parallelsysteme der Regel- und der Heil- und Sonderpädagogik wird weder auf theoretischer noch auf der Ebene institutioneller Praxen auch nur ein Schritt in Richtung Inklusion weiter zu kommen sein. Es müsste erreicht werden, dass Menschen für das Bildungsgut Inklusion, wie es die Doku von Christa Polster von 1984 zeigt, wieder auf die Straße gehen. Auch die UN-BRK hat auf der Ebene bildungspolitischer Realpolitik, der Lehrerschaft und Elternschaft keinen Schub einer neuen, auf die Schaffung pädagogischer Qualität orientierten Politisierung bewirkt. Selbst die Monitoringstelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte bleibt weitgehend unwirksam. Ich gebrauche mein oft erwähntes Beispiel: Die UN-BRK ist eine gute Briese Wind, aber die Segel müssen wir setzen und die Boote in die richtige Richtung steuern, damit der Hafen der Inklusion erreicht werden kann. Das ist keine Frage neuer Richtlinien und Verordnungen, sondern primär eine Gesellschaftsfrage auf die selbst die Zivilgesellschaft bislang keine überzeugende Antwort gefunden hat.

Inklusion als Anlass für Widerstand von ErzieherInnen, Lehrkräften und Eltern

Damit ist die Problematik aber nicht an die Politik delegiert. In dieser Richtung wirksam zu werden erfordert in besonderer Weise die Bereitschaft von Kindergärten und Schulen, von ErzieherInnen, LehrerInnen und Eltern, wo immer eine entsprechende Willensbildung im Kleinen möglich ist, in der Unterrichtspraxis, wie angesprochen, eine entsprechend inklusionskompetente und Entwicklung fördernde Bildung zu realisieren. Das verlangt von den SonderschullehrerInnen, ihr Recht zu diagnostizieren, so es als wissenschaftliches Alibi der Schuladministration zur Selektion, Ausgrenzung und Segregierung dient, an ihren Dienstherrn zurückzugeben und deutlich zu machen, dass sie sich zusammen mit den RegelschullehrerInnen als Lehrpersonen für Kinder verstehen und eine Schule für Kinder zu realisieren gewillt sind und das Management der Auswahl von Kindern für eine Schule ablehnen. Die Entfaltung einer von Zivilcourage getragenen Widerständigkeit gegen ein Schul- und Unterrichtssystem, das längst selbst nichtbehinderte und gut lernende Kinder an den Rand der Verzweiflung bringt, ist aus meiner Sicht eine ethisch gebotene Pflicht der Lehrpersonen, denen die Statistiken z. B. über den finanziellen Aufwand, den Eltern für Privatunterricht betreiben müssen, weil die Schule an den Kindern versagt und wie viele von ihnen – nicht nur die so besonders gefürchteten Kinder mit ADHS – Psychopharmaka einnehmen müssen, um die Schule ertragen zu können, bekannt sein dürften. Mein Traum ist, dass eines Morgens sich die Türen der Regelschulen für alle Kinder und Jugendlichen öffnen und auch die als behindert etikettierten Kinder und Jugendlichen mit ihren Lehrpersonen, TherapeutInnen und Assistenzen nicht zum Sonderkindergarten oder zur Sonderschule gehen, sondern in den Regeleinrichtungen willkommen geheißen werden. Man müsste das nur machen und ich bin sicher, es würde gehen und gebilligt werden. Ich habe die Erfahrung gemacht und hier auch davon berichtet, dass man Eltern für solche Veränderungen gewinnen kann, wenn wir es vermögen, ihnen zu vermitteln, dass es um ihre Kinder und deren Bildung geht.

Aufhebung von Widersprüchen

Das würde völlig neue Tätigkeitsformen im Sinne des Co- und Team-Teaching ermöglichen und die Lehrpersonen dem sie psychisch zerstörenden und krank machenden Widerspruch entheben, einen Beruf ergriffen zu haben, mit dem sie für und mit Kindern und SchülerInnen tätig werden wollten, aber durch die staatlich oktroyierten Ordnungsmittel, die nichts mit Pädagogik zu tun haben, wider jedes lern- und entwicklungspsychologische Wissen gegen die Kinder und SchülerInnen wirksam werden zu müssen, was letztlich auch in einem Zynismus diesen gegenüber mündet, der ihre Würde verletzt. Zur Anwendung kommen müsste eine didaktisch relevante Entwicklungsdiagnostik, mit der es nicht um einen IQ oder EQ geht. Die Lern- und Entwicklungsgeschichte der Kinder in und mit ihren Familien und den darüber hinausreichenden sozialen Milieus wären mit ihnen zusammen zu rekonstruieren und die Umstände, unter denen sie, wie René Spitz es bezeichnet, luxurierende Ich-Kerne entwickelt haben, die unter Stress oder neuen Konflikten zu Fixierungsstellen werden und die Entwicklung in eine ihre Möglichkeiten begrenzende Richtung lenken, wie es eine »rehistorisierende Diagnostik« erfordert.

Welche zukünftigen Aufgaben und Herausforderungen sehen Sie für die Forschung?

Relevante Forschung

Da habe ich eine klare Antwort: Die, die forschen, sollten sich erst einmal solide mit dem Fach, seiner Geschichte, seinen humanwissenschaftlichen und naturphilosophischen Hintergründen und mit sich selbst beschäftigen. Auch für sie gilt meine schon mit Beginn der Integrationsentwicklung getätigte Aussage: Integration fängt in den Köpfen an – in unseren. Das gilt auch für Fragen der Inklusion und aller damit assoziierten Bildungs- und Erziehungsfragen in Feldern der Institutionen und deren Organisation. Es werden – und das wurde mir auch schon so gesagt – Forschungen verbunden mit Fragestellungen durchgeführt, für die man Finanzmittel bekommt und nicht, weil diese wichtig, wegweisend, erklärend wären oder auch Neuland beschreiten würden. Das verknüpft mit z. T. auch einfach irren Regularien, um sich auf eine Hochschullehrerstelle bewerben zu können, die auch nahezu nichts mehr mit dem zu tun haben, was in Forschung und Lehre wahrzunehmen wäre. Meine Wahrnehmung ist die, dass Personen, die kaum je einmal einen behinderten Menschen von Angesicht zu Angesicht gesehen haben, nach einem schlanken Durchlaufen des Bachelor-, Master- und Promotionsparcours aus formalen Gründen für Jahrzehnte Stellen besetzen, auf denen sie lehren sollen, was sie selbst nicht erfahren oder praktiziert haben. Und Pädagogik hat nun einmal mit sehr konkreter Arbeit mit Menschen zu tun und ich denke nicht, dass man mir durch diese Hinweise unterstellen könnte, dass ich theoriefeindlich wäre. Oft fehlt das theoretische und praktische Rüstzeug, aber die Gefäße der formalen Karriere sind gefüllt – mit nichts. Eine tiefgreifende Besinnung auf qualitativ relevante Forschungsfragen, die nicht nur Statistiken anhäufen und füllen, scheint mir die zentrale Aufgabe in diesem Bereich zu sein.

Willfährige Forschung

Eine willfährige Forschung, die sich dem System anpasst, um es weiterhin passend zu halten, wird für Fragen der Inklusion keinen Fortschritt bringen, sondern deren Integration in die Segregation beschleunigen, was ich derzeit landauf und landab beobachte. Forschung und Wissenschaft hat mit Begriffen zu tun und diese sind inklusionsbezogen bis heute nicht so geklärt, dass eine vernünftige Verständigung möglich erscheint, sodass auch kaum vermittelt werden kann, um was es denn gehen solle. Das verlangt in gleichere Weise die Aufgabe eines euphemistischen Seifenblasengeredes, das wunderbar bunt schillernd ist, aber schneller platzt als es generiert ist. Damit wird auch eine gesellschaftliche Realität negiert und ihre menschenrechtsverletzenden Ecken und scharfen Kanten geglättet und was Menschen entwürdigt, demütigt und verletzt noch als deren Interessen dienlich hingestellt. Die scheinbaren Heiligtümer der Forschung sind mit dem Begriff der Inklusion nicht minder mystifiziert und eher von ersatztheologischem Heilsgehalt wie es in Bezug auf einen uns und die Erde langsam, aber systematisch vernichtenden Kapitalismus die Begriffe ›Markt‹ und ›Wachstum‹ sind. Das Sägen am Ast, auf dem man sitzt, wird die eigene Lage nicht verbessern.

Partizipative Forschung

Eine positive Entwicklung sehe ich in zunehmend partizipativer Forschung, aber nur, wenn wir die Disability Studies wieder in die Hände der Menschen zurückgeben, um deren Fragen und Interessen zu bearbeiten und um deren Bildung und Emanzipation es geht. Forschung muss, so gesehen, auch im Feld der Inklusion dienend werden und ihr Herrschaftsgebahren ablegen, mit dem sie bis unter die Halskrause voll ist. Das zeigt sich allein darin, wie in Kollegien die Personen, die forschen, die geachteten sind und jene, die sich in der Lehre für die Qualifikation der zukünftigen Lehrpersonen und damit für einen qualitativ wertvollen Unterricht einsetzen, das Fußvolk bilden. Das hat inzwischen für mich bedenkliche Grade angenommen und längst die Einheit von Forschung und Lehre als zentrale Aufgabe der Universität seit ihren Gründungszeiten zerstört. Wie es widerständiger Lehrpersonen bedarf, bedarf es einer widerständigen Forschung, die die Faktoren, die Menschen in ihrer Lebenstätigkeit und Entwicklung ›be-hindern‹, wie prekäre Lebenssituationen, Armut, physische und psychische Beeinträchtigungen, Migrationshintergrund u. v. a. m. und die zu Exklusionen und in soziale Isolation führen, ungeschminkt aufdeckt. Das aber sind die Tabuthemen der Forschung, für die man nicht die erhofften Gelder bekommt und mit deren Ergebnissen man sich nicht nur unbeliebt macht, sondern sich bekennen muss. Das nenne ich eine solidarische Forschung. Zukünftig sollte es im Feld der Inklusion also um eine partizipativ-solidarische Forschung gehen, die auf die Ermöglichung von Bildungsgerechtigkeit ausgerichtet ist und die Illusion von der politisch zwar beliebten, aber wissenschaftlich schlicht dummen Chancengleichheit der Lüge überführt; um nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diesbezüglich wie in Bezug auf viele Momente und Felder, die in unserem Gespräch Erwähnung fanden, geht mein Optimismus bezogen auf meine noch verbleibende Lebenszeit gegen Null.6