Interview mit Alfred Sander

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Wie kamen Sie selbst denn zur integrativen Pädagogik?

Einstieg in das Thema Integration

Also, ich war zuerst Volksschullehrer und habe dann ein Aufbaustudium zum Sonderschullehrer gemacht. Als Sonderschullehrer habe ich in der Praxis an Lernbehindertenschulen damals bald gesehen, dass sicher nicht alle Kinder dort gut untergebracht sind. Ich habe bei manchen gar nicht verstanden, warum die auf der Hilfsschule, wie man damals noch sagte, sind. Dann habe ich in einem Kongress den damaligen Vorsitzenden des Verbandes deutscher Sonderschulen (VdS) kennengelernt, Heinz Schrader aus Flensburg. Er war nicht sehr lange Vorsitzender. Heinz Schrader war wohl zu kritisch eingestellt für den VdS. Er hat mich mit Effizienzstudien bekannt gemacht, vor allem aus den USA, über die Wirksamkeit vom Sonderklassenbesuch im Vergleich zum Regelklassenbesuch und das Thema hat mich fasziniert. Ich habe mich eingearbeitet und das hat meine Zweifel an der Berechtigung der Sonderschule noch wesentlich verstärkt. Ja, und so wurde ich zum Gutachter und Sachverständigen für die Kommission Sonderpädagogik des Deutschen Bildungsrates berufen, der ja in den Jahren 1970 bis 1973 ein Grundwerk für Integration, vor allem für mehr schulische Integration, geschaffen hat. Von da an war ich voll von dem Thema gefesselt. Das war der Einstieg, das waren die frühen 70er Jahre.

Und wie ging’s dann weiter?

Politische Lage im Saarland

Ja, dann haben vor allem Berliner Modellschulen, zu Anfang die Fläming-Schule, später dann die Uckermark-Schule, durch Literatur und auch durch Tagungen, die dort stattfanden, großes Interesse bei allen integrationsinteressierten Menschen geweckt und haben dazu angeregt, in anderen Städten, in anderen Bundesländern Ähnliches zu versuchen. Hier im Saarland ging das zunächst ganz schleppend. Eigentlich hat sich im Saarland nur die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) dafür stark gemacht. Mitte der 80er Jahre kam es endlich zu einem Regierungswechsel im Land, die bis dahin ständig vorherrschende CDU wurde abgelöst durch Oskar Lafontaine und eine SPD-Regierung. Lafontaine hat den Psychologieprofessor Diether Breitenbach zum Kultusminister berufen. Breitenbach war ein Freund von mir. Ich war damals auch schon an der Uni und nicht mehr im Schuldienst. Breitenbach hat bald zu mir gesagt: »Mach mal einen guten Plan für Integration in den Schulen, dann bringen wir das im Landtag durch.« Aus dem Entwurf entstand eine schulrechtlich gesicherte Basis für Integration, die hier im Saarland dann Jahr für Jahr langsam voranging.

Und vorher waren es auch Modellversuche, oder gab es vorher noch gar nichts in Sachen Integration?

Integrative Regelbeschulung statt Modellversuch

Vor 1985 gab es hier keinen Modellversuch. Als Breitenbach Kultusminister wurde, hat er gesagt: »Ihr könnt sofort irgendwo anfangen, ich erkläre das dann zum Modellversuch.« Der wurde aber nicht groß wissenschaftlich begleitet. Im ersten Jahr wurden drei Kinder im ganzen Land integrativ unterrichtet, wir haben das verfolgt, beraten und auch näher darüber berichtet, aber ein eigentlicher Modellversuch im Saarland war es damals nicht.

Das heißt, es ging gleich 1986 mit einer Regelbeschulung los?

Schulgesetzänderung

Ja, 1986 wurde das Schulordnungsgesetz des Saarlandes im Landtag neu formuliert und darin stand der Satz, dass zu den Aufgaben der Schulen der Regelform auch die Unterrichtung und Erziehung von Kindern mit Behinderung zählen. In der dazugehörigen Durchführungsverordnung gab es dann allerdings wieder schulrechtliche Einschränkungen im Sinne von: soweit die Bedingungen in der Schule das ermöglichen und das Wohl des Kindes gesichert ist usw. Im Jahre 1987 wurde dann erstmals eine darauf bezogene Integrationsverordnung erlassen, die über 20 Jahre lang gegolten hat. Sie ist erst jetzt durch eine neue »Inklusionsverordnung« abgelöst worden.

Und dann gab es aber ab 1986 eine wissenschaftliche Begleitung?

Wissenschaftliche Begleitung

Ja. Die war übertragen an unser Institut Erziehungswissenschaft, Arbeitseinheit Sonderpädagogik an der Universität des Saarlandes. Von unserer Arbeitseinheit aus haben wir dann jährlich, manchmal auch im Zweijahresabstand, buchförmige Veröffentlichungen über die Entwicklungen der Integration im Saarland herausgegeben (Saarbrücker Beiträge zur Integrationspädagogik, insgesamt 12 Bände). Wir standen damals in engem Kontakt zu entsprechenden wissenschaftlichen Begleitgruppen in Berlin, Frankfurt a. M., Hamburg und einigen anderen. Wir haben uns recht oft auf bundesweiten Tagungen getroffen und auch Hospitationsbesuche durchgeführt.

Welche Eigeninteressen und Schwerpunkte waren für Sie besonders relevant?

Verbreitung der Integrationsidee

Da ich aus der Sonderschule »Lernen« hervorgegangen bin, war für mich ein großer Interessenschwerpunkt, dort viel genauer hinzuschauen, um möglichst vielen Kindern dieses Abstellgleis zu ersparen. Wir haben das unter anderem dadurch versucht, dass wir in Sonderschulen und auf Sonderschullehrerversammlungen für die Integrationsidee geworben haben. Damals gab es noch keinen Rückhalt aus den Vereinten Nationen, aber immerhin aus dem Deutschen Bildungsrat. Die Bildungsratsempfehlung von 1973 lag ja vor. Mit diesem Hintergrund und dem saarländischen Schulordnungsgesetz zusammen ist es gelungen, eine Reihe von Sonderschullehrern und -lehrerinnen dafür zu interessieren, ambulante Integrationsunterstützung in Regelschulen durchzuführen. Die Zahlen der Integrationskinder nahmen von Jahr zu Jahr zu. In der Öffentlichkeit haben wir damals jährlich ein landesweites Integrationsfest durchgeführt für alle Beteiligten, für Kinder, Eltern, ErzieherInnen und Lehrkräfte, und so kam es statistisch gesehen zu einem ziemlich regelmäßigen, manchmal auch sprunghaften Anstieg der Integrationsquote – bis im Saarland die Finanzmisere verstärkt zugeschlagen hat.

Abbau der Ressourcen

Das Saarland ist ja eins der ärmsten Bundesländer, jedenfalls unter den alten Bundesländern. Seit im Land verschärfte Sparvorschriften galten, wurde und wird auch das Bildungswesen nur noch mängelverwaltet. Anders in den ersten Jahren, als Breitenbach Kultusminister war; da konnte man zum Beispiel zehn Ambulanzlehrerstunden für einen Integrationsschüler kriegen, wenn man begründen konnte, dass es zehn sein müssen.

Und dies für den Schwerpunkt Lernen?

Ja, auch im Schwerpunkt Lernen. Dort ist inzwischen die Stundenzahl ganz zusammen geschrumpft auf 2,4 Wochenstunden oder so. Verrückt!

Und gab es noch andere Interessensschwerpunkte, wo Sie sagen würden, die lagen Ihnen besonders am Herzen?

AmbulanzlehrerInnen als integrationsfreundliche Schulleitungen

Ja. Wir haben von Anfang an beobachtet, dass die Schulleitungen für unser Vorhaben wichtig sind. Wir haben also versucht, die Schulleitungen von Regelschulen und Sonderschulen für die Idee der Integration zu gewinnen; und haben zugleich versucht, für die Ambulanzlehrer und -lehrerinnen Aufstiegsmöglichkeiten zu schaffen. »AmbulanzlehrerInnen« hießen die SonderschullehrerInnen, die ambulant zur Integrationsunterstützung in Regelschulen arbeiteten. Denn junge Kollegen und Kolleginnen, die für die neue Integrationsidee zu begeistern waren, waren ja naturgemäß am Anfang ihrer Laufbahn, vielleicht am Anfang der Familiengründung usw., und da spielte für viele auch die Karriere eine gewisse Rolle. Es wäre also schön gewesen, wenn man viele AmbulanzlehrerInnen eben auf Konrektorstellen und gegebenenfalls auf Rektoratsstellen hätte kriegen können. Das wurde aber vom Ministerium, nicht vom Minister, sondern von den mittleren Etagen im Ministerium, nach Kräften verhindert. Denn in den mittleren Etagen saßen meistens Leute mit dem alten Konzept im Kopf. Mit ihnen gab es ständig Auseinandersetzungen.

Also Ziel war, dass die AmbulanzlehrerInnen an den Regelschulen in Konrektor-Positionen kommen oder an den Förderzentren?

Letzteres. Die konnten eine Stelle als SonderschulkonrektorIn erhalten, aber dabei ambulant tätig bleiben. Vielleicht nicht mit allen 24 Wochenstunden, aber mit einer begrenzten Stundenzahl ambulant und nur mit dem Rest stationär in ihren Förderzentren. »Förderzentrum« war ein Begriff, den wir hier auch lange verwendet haben, aber der bekam dann im Saarland eine etwas andere Bedeutung. Die stationären Sonderschulen waren bei uns keine Förderzentren.

Gab es sonst noch Sachen, wo sie schwerpunktmäßig dran gearbeitet haben?

Kontakt zum Lehrerfortbildungsinstitut

Ja. Als sich die finanzielle Misere abzuzeichnen begann, haben wir engen Kontakt zum Landesinstitut für Pädagogik und Medien gesucht. Das ist im Saarland das staatliche Lehrerfortbildungsinstitut, LPM abgekürzt. Es ist uns gelungen, in LPM-Referatsleiterstellen Leute von unserer Gruppe unterzubringen, sodass dann vom Lehrerfortbildungsinstitut verstärkt integrationsbezogene Veranstaltungen angeboten wurden. Das war auch, sagen wir mal, strategisch wichtig, weil sich dadurch die Idee weiterverbreitet hat. Nicht nur die GEW Saarland und unser Institut an der Uni, sondern auch das LPM haben dann »ins gleiche Horn geblasen«.

Arbeitseinheit Sonderpädagogik bekommt neue Fachkräfte

Damals trat noch ein weiterer Interessenschwerpunkt hinzu: Kompetenzerweiterung. Unsere Arbeitseinheit Sonderpädagogik an der Uni bekam auf Antrag einige weitere Lehrkräfte, zum Beispiel aus der Hörgeschädigtensparte, denn inzwischen waren wir weit über den Bereich »Lernbehinderte« und »Verhaltensauffällige« hinausgegangen. Im Saarland gab es eben zunehmend auch blinde und schwerhörige Kinder in Regelschulen. Um auch da eine vernünftige, also fachkundige wissenschaftliche Begleitung zu gewährleisten, haben wir auf Antrag vom Ministerium solche Kollegen und Kolleginnen in unser Institut abgeordnet bekommen; einige auch vom Arbeitsamt als ABM-Kräfte. Das war natürlich eine wichtige Erweiterung.

Und in der Forschung gab es da Sachen, wo Sie sagen …?

In der Forschung gab es in unserer Arbeitseinheit viele Initiativen. Wichtig war vor allem in den ersten Jahren, dass wir jährlich detailliert berichteten, dies auf der Grundlage von Erhebungen, Schulbesuchen, Beratungen, oft auch von systematischen Befragungen von LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern. Wir haben damals ja in fast jedem Jahr einen Forschungsbericht über viele aktuelle Fragen herausgegeben. Die Reihe Saarbrücker Beiträge zur Integrationspädagogik ist die wesentliche forschungsbezogene Dokumentation unserer Arbeitseinheit.

Dekategorisierung

Spezielle Fragen betrafen die Rolle der Klassifizierung von Behinderung. Man muss ja sehen, dass damals noch neun bzw. zehn Sonderschultypen definiert waren und das eigentlich von keiner Seite ernstlich infrage gestellt wurden. Bei unserer Begegnung mit der Praxis in der wissenschaftlichen Begleitung hat sich aber herausgestellt, dass das oft ziemlich willkürliche Zuordnungen sind. Ich habe dann auf der einen oder anderen Fachtagung außerhalb des Saarlandes darüber gesprochen. Dann hat das Bildungsinstitut der OECD in Paris, das CERI (Center of Educational Research and Innovation) eine Tagung zum Thema Deklassifizierung, Dekategorisierung von Menschen mit Behinderung veranstaltet. Als Impulsgeber ist der US-amerikanische Professor Nicholas Hobbs gewonnen worden. Ich war als Vertreter der Bundesrepublik dabei. Es war ein kleiner internationaler Kreis, 20 Leute vielleicht. Von dort habe ich sehr viel mitgenommen bezüglich der Dekategorisierung behinderter Menschen, das war dann jahrelang ein weiterer Forschungsschwerpunkt. An unserem Institut war auch Hans Meister tätig, Professor für Pädagogische Psychologie und ausgebildeter Sonderschullehrer. Hans Meister hat ganz parallele Aktivitäten für den Elementarbereich, Kitabereich durchgeführt mit einer eigenen Projektgruppe. Wir haben sehr eng zusammengearbeitet; gerade auch die Frage der Klassifikation oder Deklassifikation haben wir auf weiten Strecken gemeinsam vorangetrieben.

Und können Sie die Position zur Deklassifizierung, noch mal kurz zusam­menfassen, also was auch mögliche Alternativen wären? Weil heute haben wir ja immer noch die Förderschwerpunkte und sind da noch nicht wirklich ein Stück weiter.

Kind-Umfeld-Analyse

Ja, genau. Also wir haben daraus ein Konzept entwickelt, das wir Kind-Umfeld-Diagnose nannten oder Kind-Umfeld-Analyse. In eine sonderpädagogische KMK-Empfehlung wurde unser Konzept Kind-Umfeld-Analyse auch aufgenommen und damit bundesweit unter die Fachleute gebracht. Das geht also auf Nicholas Hobbs zurück. Er hat damals in Paris sehr deutlich dargelegt, dass ein Mensch mit Behinderung nicht allein nach den Behinderungsmerkmalen klassifiziert werden darf, weil das an den wahren Bedürfnissen des oder der Betreffenden vorbeigeht. Es hängt vielmehr ganz stark davon ab, in welchem Umfeld er lebt. Dies gilt nicht nur für das Schulalter, sondern auch für das vorschulische und – entsprechend modifiziert – für das erwachsene Alter. Die Kind-Umfeld-Diagnose wurde dann auch in der saarländischen Integrationsverordnung (IVO) vorgeschrieben und war über 20 Jahre lang die Grundlage für schulische Entscheidungen. Es wurde also nicht mehr klassifiziert »das Kind ist blind« oder »das Kind ist lernbehindert«, sondern es wurde geprüft, in welche konkrete Schule dieses Kind denn gehen soll und wie dort die Bedingungen sind. Im Rahmen der Umfeld-Diagnose wurde und wird dann in der Regelschule geprüft: Wie groß wird die Klasse sein? Wie steht die Lehrerin oder der Lehrer der Regelschule dazu, solch ein Kind aufzunehmen? Welche Unterstützung kann vonseiten der Eltern gebracht werden, ohne sie zu überfordern? Und so weiter. All diese Umfeldmerkmale spielen also eine wichtige Rolle für die abschließende Empfehlung über die Platzierung und Unterstützung, eine ebenso wichtige Rolle wie die behinderungsbezogenen Merkmale, die in klassischer sonderpädagogischer Diagnostik erhoben werden. Das war das praktische Ergebnis dieser Dekategorisierungskampagne.

Und wie ist da die Situation heute? Wird es immer noch so in der Form genutzt, oder? Also Berlin macht beispielsweise klassisch Testdiagnostik aus den 80er Jahren HAWIK, CFT, das ganze Programm.

Heute ist es hier im Lande so, dass die örtliche Grundschule jedes Kind aus ihrem Einzugsbereich aufnehmen muss, dies steht gar nicht infrage. Aber wenn die Eltern eines behinderten Kindes, Schulneulings, es anders wünschen, müssen sie selbst einen Antrag auf Aufnahme in die Förderschule stellen. Ohne diesen Antrag der Eltern findet kein HAWIK usw. statt, sondern das Kind geht in die örtliche Grundschule und dort wird dann von der Klassenlehrerin oder dem Klassenlehrer und den Inklusionslehrkräften, den früheren AmbulanzlehreInnen, gesehen, welche Bedürfnisse vorliegen. Also was an zusätzlichen Unterstützungsmaßnahmen oder an angemessenen Vorkehrungen im Sinne der Behindertenrechtskonvention eingebracht werden muss.

Sie haben es schon so ein bisschen angesprochen, aber welche MitstreiterInnen waren für Sie besonders wichtig?

MitstreiterInnen

Ich habe schon Hans Meister genannt, meinen direkten Kollegen und Freund. Dann Hans Wocken und Ulf Preuss-Lausitz, die hatten wir auch öfter ins Saarland eingeladen als Referenten. Dann Erwin Schwartz, ich weiß nicht, ob der Name Ihnen noch etwas sagt. Erwin Schwartz war Jahrzehnte lang Bundesvorsitzender des Arbeitskreises »Grundschule« mit Sitz in Frankfurt a. M. Er war sehr offen für die Integrationsbestrebungen, die ja auch die Grundschule wesentlich betrafen. Ich war Mitglied im Arbeitskreis »Grundschule«, aber lange ohne besondere Aktivitäten. Erwin Schwartz hat mich in eine bundesweite Kommission berufen, die ich ein paar Jahre lang geleitet habe. »Schulschwache Kinder in der Grundschule« hieß die Kommission, und so hießen auch zwei oder drei Bände, die wir dort erarbeitet haben. Also Erwin Schwartz und der Arbeitskreis »Grundschule« waren für die Integrationsverbreitung wichtig. Helmut Reiser und Helga Deppe, beide in Frankfurt a. M., waren weitere wichtige KollegInnen für uns, mit denen wir viele Kontakte hatten. Auch Renate Valtin, die sich nicht zentral um Integration gekümmert hat, aber um Legasthenie und alles, was damit zusammenhängt. Weitere wichtige Fachkontakte hatten wir mit Anton Reinartz in Dortmund, mit Jakob Muth in Bochum, mit Hans Eberwein in Berlin, mit Georg Feuser in Bremen. Aus unserer Arbeitseinheit an der Uni Saarbrücken will ich noch weiter nennen: Hildeschmidt (Anne Hildeschmidt), Irmtraud Schnell, Klaus Christ, Peter und Marianne Raidt – stellvertretend für fast zehn weitere gute Mitstreiter und Mitstreiterinnen. Das sind so die wichtigsten Namen, wie sie mir gestern Abend eingefallen sind.

Welche Bezüge gab es zur Praxis?

Frühe Praxiserfahrungen

Das fing für mich schon vor den Integrationsbestrebungen an. Ich war, wie schon kurz erwähnt, nach einem PH-Studium zunächst Volksschullehrer und war hier im Landkreis Saarbrücken in Quierschied an einer Volksschule eingesetzt, 6. Klasse. Ein Junge war als Folge der Kinderlähmung an beiden Beinen gelähmt, er wurde jeden Morgen von seinem Vater auf der Vespa in die Schule gebracht. Mitschüler nahmen ihn dann rechts und links unter den Armen und trugen ihn in die Klasse. Ich fand es schnell ganz selbstverständlich, dass der Junge in unsere Klasse gehört. Das war also der erste Bezug zur Integrationspraxis, wobei ich da noch ganz theoriefern mit umgegangen bin.

Abordnung an die PH

Ein paar Jahre später wurde ich dann an die PH in Saarbrücken abgeordnet, als pädagogischer Assistent im Fachgebiet Psychologie, und habe in dem Zusammenhang auch Unterrichtsentwürfe und kleine Curricula mit Lehramtsstudierenden in Bezug auf die Aufnahme behinderter SchülerInnen erarbeitet und mit vielen Lehrern und Lehrerinnen in den Praktikumsschulen besprochen. Das hatte ebenfalls viel Bezug zur Praxis. Nachdem ich die Sonderschullehrerausbildung in Stuttgart und Tübingen absolviert hatte, habe ich nebenamtlich auch als ambulanter Sprachheillehrer im Saarland gearbeitet, habe im nördlichen Saarland Sprachheilkurse erteilt. Außerdem war ich in den frühen Jahren schon bald Mitglied der GEW geworden und im VDS Saarland aktiv im Vorstand, zum Beispiel als Schriftleiter für das Mitteilungsblättchen. Und da hatte man natürlich sehr viele Informationen aus der Praxis und auch Begegnungen mit Beschwerden aus der Schulwirklichkeit.

Und dann in der späteren Karriere an der Uni, wie ging es dann da weiter?

Berufsbegleitendes Studium

Als pädagogischer Assistent an der PH konnte ich berufsbegleitend an der Uni studieren, und zwar Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie. Ich habe dann in diesen drei Fächern den Magister gemacht, das war dann die Grundlage für eine Bewerbung um eine Akademische Ratsstelle an der PH Saarbrücken. Ich bekam diese Stelle. Die PH wurde zwar im Jahr 1978 aufgelöst, aber vorher hatte ich nach dem Magister an der Uni in den drei Fächern weiter studiert und wurde 1971/72 promoviert.

Was für ein Thema?

Promotion

»Die Sonderschulen im Saarland – eine vergleichende Untersuchung ihrer Entwicklung bis zur Eingliederung in die Bundesrepublik Deutschland.« Anno 1957 wurde ja das Saarland nach einer Volksabstimmung in die BRD eingegliedert und mein Doktorvater war ein interessierter historischer Pädagoge, Josef Dolch. Durch die Promotion wurde ich dann zur Mitwirkung am Rande des Deutschen Bildungsrates berufen und habe ein größeres Thema für den Bildungsrat bearbeitet, wodurch mein Name vielleicht ein bisschen bekannt wurde, sodass ich dann ab und zu einen Hinweis bekam, ich könnte mich ja hier und da bewerben. Dies habe ich auch gemacht, zum Teil mit Erfolg. Als 1978 die PH geschlossen wurde, war ich schon durch Hausberufung Professor für Pädagogik entwicklungsgestörter Kinder an der PH geworden und ging dann mit dieser Professur an die Uni über. Viele PH-KollegInnen wurden nämlich einfach an die Universität des Saarlandes versetzt. Aber »… entwicklungsgestörter Kinder« hieß meine Stelle dann nicht mehr, sondern Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Sonderpädagogik. Das war meine Lehrstuhlumschreibung an der Uni ab 1978, und so blieb sie bis zur Pensionierung 2003.

Und während der Zeit an der Uni, da gab es dann über die wissenschaftliche Begleitung dennoch Kontakte zur Praxis oder?

Zusammenarbeit mit der Politik

Ja, natürlich. Wir haben ja weiterhin intensiv in der Schulpraxis geforscht für unsere Berichte in den Saarbrücker Beiträgen zur Integrationspädagogik und in anderen Organen und auf Fachtagungen. Fast jedes Jahr ein neues dickes Buch, wie von Kultusminister Breitenbach gewünscht. Einige sind ganz gut geworden. Diether Breitenbach blieb allerdings nicht ständig Bildungsminister. Mit seinen Nachfolgern, obwohl die auch aus der SPD kamen, war die Zusammenarbeit dann nicht so einfach. Breitenbach war nämlich Lehrersohn, sein Vater war Schulleiter in Nordrhein-Westfalen gewesen, und da hat Breitenbach als Kind schon – sagen wir mal – erste »graue« Integration miterlebt. Denn sein Vater hatte auch behinderte Kinder in die Schule aufgenommen und nicht abgegeben, nicht gemeldet. Mit den späteren saarländischen SPD-Ministern ging das nicht mehr so glatt, aber wir waren an der Uni inzwischen ja fest institutionalisiert und konnten von dort aus weiter forschen und auch sehr viel Praxisbetreuung und -beratung im Lande durchführen.

BeraterIn in Förderausschüssen

Wenn es irgendwo haperte, wenn eine Integrationsmaßnahme im Laufe des Schuljahres zu scheitern drohte, war in der Integrationsverordnung vorgesehen, dass dann der Förderausschuss, ein fünfköpfiges Gremium, wieder zusammentreten muss, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen. In vielen dieser Förderausschusssitzungen wurde auch jemand von unserer Projektgruppe als BeraterIn mit eingeladen, sodass wir oft helfen konnten. Und andererseits aber auch mitbekamen, wie es in uninteressierten Regelschulen schieflaufen kann.

Was waren aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen?

Herausforderungen auf Verwaltungsebene

Ich habe es schon angedeutet: In erster Linie hier im Land war das die Auseinandersetzung mit der Schulverwaltung, nicht mit der Ministeriumsspitze, aber mit den mittleren Chargen; und auch auf der Ebene der Schulräte, die ja regional zuständig waren, war es oft schwer, Integrationsmaßnahmen durchzusetzen, und zwar so durchzusetzen, dass nicht das betroffene Kind darunter hätte leiden müssen. Das Sonderschulreferat im Kultusministerium war grundsätzlich sehr, man kann schon sagen, ablehnend eingestellt gegenüber dem, was von uns an der Uni kam. Wir haben uns damals auch öfter mit Ulf Preuss-Lausitz über den Arbeitskreis Gemeinsame Erziehung (AK GEM) beraten, um vielleicht etwas aus Berlin zu lernen. Im Saarland wurde eine ähnliche »Landeskommission für Integration« ins Leben gerufen, Vorsitzender war in den ersten Jahren Klaus Christ aus unserer Projektgruppe, aber so erfolgreich wie AK GEM waren wir hier meistens nicht. Das war eigentlich auf der schulpolitischen Ebene die größte Herausforderung im Lande. Ich würde dazu gerne noch sagen, dass das unsere Forschung ein Stück weit beeinträchtigt hat. Wir haben so viele unzählige Strategiegespräche oder taktische Erörterungen unter uns durchgeführt, dass wir weniger Zeit hatten, unabhängig von diesen drängenden Alltagskonflikten vernünftige, langfristig angelegte Forschungsaufgaben zu betreiben.

Das heißt, der bildungspolitische Anteil und die Netzwerkarbeit waren dominierende Bestandteile.

Politikberatung als dauerhafte Aufgabe

Ja. Das lief unter »Politikberatung«. Wir dachten zunächst, Politikberatung muss jetzt erst mal ein, zwei Jahre lang intensiv gemacht werden, und dann kann man sich wieder der Grundlagenforschung oder auch angewandter Schulforschung von langfristiger Dauer widmen; aber das war zum Teil ein Irrtum. Politikberatung blieb eigentlich immer ein Thema.

Welche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte sollten nicht in Vergessenheit geraten?

Integration und Inklusion brauchen ein Stück weit Überredungskunst

Damals ist auf vielen Tagungen das Motto vorgetragen und auch begründet worden: »Integration beginnt in den Köpfen«. Zum Beispiel hat Georg Feuser das sehr nachdrücklich vorgetragen. Aber es gab jetzt die Kinder, die auf Antrag ihrer Eltern integrativ zu beschulen waren, und man brauchte jetzt Lehrkräfte dafür. Man muss also manche LehrerInnen, die nicht so von Herzen für Integration waren, ermutigen und sanft überreden und Hilfen anbieten. Kurzum, wir haben dieses Motto »Integration beginnt in den Köpfen« für uns umformuliert in »Integration beginnt, wenn der Kopf veränderungsfähig ist«. Also wenn der Kopf, wenn der ganze Mensch in der Praxis der Integration erlebt, dass sie ja gelingen kann, dass sie sogar für die Lehrkraft und für die MitschülerInnen nützlich sein kann und Freude bereiten kann. Wir haben also nicht auf die Einstellungsänderung im Kopf als Voraussetzung gewartet, sondern Zögernde ermutigt und beraten. Und ich meine, dass sollte auch jetzt in der Epoche der Inklusion keinesfalls vergessen werden. Inklusion ist ja ein breiterer Ansatz, als es damals die Integration behinderter Kinder war, und auch heutzutage gibt es ja viele Lehrer und Lehrerinnen, die entsetzt die Hände über den Kopf zusammenschlagen: »Was kommt da auf uns zu mit der Inklusion?« Ich meine, auch da darf man nicht nur auf Freiwillige setzen, sondern wenigstens bei der großen Mittelgruppe, die nicht hundertprozentig dagegen ist, aber auch nicht hundertprozentig dafür, bei dieser Mittelgruppe sollte man beraten, ermutigen, Hilfen anbieten und unterstützen.

Gibt es noch andere Sachen, wo Sie sagen, die sollten nicht in Vergessenheit geraten?

Kind-Umfeld-Analyse, Dekategorisierung

Ja. Die Kind-Umfeld-Diagnose (KUD) oder Kind-Umfeld-Analyse ist in den meisten Bundesländern ja gemäß KMK-Empfehlung übernommen worden, aber ich habe manchmal den Eindruck, dass der Sinn dieses Ansatzes ein bisschen in Vergessenheit gerät. Es ist einfach wichtig, dass bei diesem diagnostischen Verfahren das »Kind in seinem Umfeld« als systemische Ganzheit gesehen wird. Die kleinste sinnvolle diagnostische Einheit in der Integrationspädagogik ist das Kind-in-seinem-Umfeld (Hobbs), nicht die Schädigung oder Behinderung mit ihren Merkmalen und Ausprägungen. Dazu ist es auch in Zukunft wichtig, dass die KUD nicht von einer einzelnen Person durchgeführt wird, sondern von einem gemischten Gremium. Bei uns waren und sind bis heute im Förderausschuss immer der Regelschullehrer bzw. die Regelschullehrerin, der/die das Kind aufnehmen soll, der/die FörderschullehrerIn, der/die die kindbezogene Diagnostik durchführt, die Eltern des Kindes und der Schulleiter bzw. die Schulleitern der Regelschule beteiligt. Dieser Förderausschuss erarbeitet die KUD. Das Verfahren hat sich bewährt und sollte beibehalten werden, künftig vielleicht nicht mehr bei jedem Kind, das neu zur Aufnahme ansteht, aber doch bei jeder Integrationsmaßnahme, die etwa zu scheitern droht oder die schiefläuft.

Was waren die wichtigsten Erkenntnisse, eigene und von anderen?

Ökosystemischer Ansatz

Zuerst einmal das, was wir gerade besprochen haben, die Mensch-Umwelt-Einheit als diagnostische Grundeinheit, auch als Grundlage einer Theorie der Integration insgesamt. Wir haben diesen Ansatz zusammen mit anderen IntegrationsforscherInnen auf Bundesebene weiter ausgearbeitet zu einem umfassenden Entwurf einer ökosystemischen Theorie der Integration. Auch im Anschluss an andere Forschungsarbeiten, die nicht direkt der Integrations- oder Inklusionsthematik galten (z. B. Bronfenbrenner, Huschke-Rhein). Den ökosystemischen Theorieansatz halte ich für eine Errungenschaft, die es jedenfalls verdient, weiter entwickelt zu werden.

Welche Arbeiten zu den theoretischen Grundlagen erachten Sie für besonders wichtig, überschneiden sich vielleicht welche so ein bisschen?

Theoretische Grundlagen

Ja, es gibt Überschneidungen und positive Übereinstimmungen. Die für mich wichtigsten theoretischen Arbeiten habe ich schon genannt. Die Diskussionen im Zusammenhang mit der ICIDH, die ab etwa 1980 abgelöst wurde durch die ICF-Klassifikation, haben weitere Theoriearbeiten hervorgerufen. In dem Diskurs haben auch mehrere IntegrationsforscherInnen wichtige Beiträge geleistet, und ich glaube, dass das damals auch dem ökosystemischen Ansatz in der Behindertenpädagogik weitergeholfen hat. Hier in Saarbrücken gab es die eine oder andere Tagung darüber, aber ich muss selbstkritisch sagen: Diese Diskussion ist damals unter den Druck der alltäglichen schulpolitischen Auseinandersetzungen geraten und nicht so konsequent durchgeführt worden, wie es eigentlich wünschenswert war.

Welche empirischen Forschungen erachten Sie für besonders wichtig?

Wichtige empirische Untersuchungen

Damals haben uns vor allem die ersten empirischen Forschungsberichte aus Hamburg und aus Berlin weitergeholfen – nicht nur uns, sondern überhaupt der Integrationsbewegung. Hans Wocken – mal allein, mal mit Boban und Hinz zusammen – hat über die Hamburger Integrationsklassen mehrfach berichtet, zuerst nur über die Grundschuljahre, später auch über die Fortführung in der Sekundarschule. Aus Berlin waren es vor allem die empirischen Untersuchungsberichte aus der Uckermark-Schule, die meines Erachtens wichtiger waren als die aus der Fläming-Grundschule. Weil bei Fläming nicht das Prinzip der Wohnortnähe durchgehalten werden konnte, ein wichtiges Prinzip für ein integratives Umfeld. Mit den Uckermark-Büchern von Heyer, Preuss-Lausitz, Jutta Schöler, Gitta Zielke und auch mit vielen Tagungsbeiträgen von diesen KollegInnen haben wir viel anfangen können. Wir waren deshalb auch zu Hospitationen in der Uckermark-Schule, mit einem ganzen Bus voller saarländischer Studierenden und Lehrkräften.

Auch zu Helmut Reiser und seinen Kolleginnen und Kollegen aus der Frankfurter Integrationsforschung gab es enge Kontakte. Wir haben uns öfters gegenseitig besucht.

Was waren aus Ihrer Sicht die interessantesten Streitpunkte innerhalb der Community?

Förderzentren

Innerhalb der Community? Jetzt geht es also nicht gegen die Schulverwaltung, sondern innerhalb. Etwa über den Begriff »Förderzentrum« wurde viel diskutiert, mehrere Jahre lang. Sind Förderzentren nützlich, um die Integration voranzubringen, oder sind sie bremsend, weil sich im Grunde die alte Sonderschulidee dahinter verstecken kann? Das hat sich ja in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich entwickelt. Deshalb kamen bei den bundesweiten Integrationsforschungstagungen die Teilnehmenden je nach Bundesland zu teilweise ganz unterschiedlichen Bewertungen. Das war also ein langjährig umstrittener Punkt.

Integrationspflicht oder Elternwahlrecht?

Ein anderer war bzw. ist: Integrationspflicht oder Elternwahlrecht? Das ist auch hier im Saarland zurzeit wieder ein aktueller Streitpunkt; auch bundesweit ist das nach meinem Überblick in der Community nie eindeutig ausdiskutiert worden. Wenn man sich für Integration einsetzt, weil sie für Kinder die bessere Lösung darstellt, dann sollte sie eigentlich für alle Kinder mit Behinderung gelten; auf der anderen Seite steht aber das Wahlrecht der Eltern. Manche Eltern behinderter Kinder bevorzugen – aus welchen Gründen auch immer – die Förderschule für ihr Kind. Zum Beispiel kann der Besuch einer Ganztagsförderschule Eltern erheblich entlasten und zugleich eine gute Betreuung des Kindes versprechen. Auch um diese Positionen wurde in der Szene gelegentlich mit Empathie gestritten.

Zieldifferente Integration

Noch einen dritten Punkt möchte ich nennen: die sogenannte zieldifferente Integration in der Regelschule. In mehreren Bundesländern, auch im Saarland, muss die Integration aus schulrechtlichen Gründen als zieldifferent deklariert werden, wenn lernbehinderte oder geistig behinderte Kinder in die Regelschule aufgenommen werden. Es hat sich aber gerade bei lernbehinderten Schülerinnen und Schülern oft herausgestellt, dass sie in manchen Fächern eben doch zielgleiche Leistungen bringen, etwa durch das bloße Zuhören in der Regelschulklasse. Und außerdem ist ja zieldifferente Beschulung etwas, was man in der modernen Schulpädagogik sowieso für alle Schüler und Schülerinnen verlangt. Stichwort Heterogenität. Deshalb war die zieldifferente Integration auch immer wieder ein Streitpunkt in der Szene: Verraten wir nicht die Idee der Integration, wenn wir wegen des schulrechtlichen Kastendenkens uns auf das trennende Konzept einer »zieldifferenten« Integration überhaupt einlassen?

Aber war da die Argumentation schwerpunktmäßig, dass eben die Ziele für alle differenziert sein sollten oder …?

Das kam verstärkt erst später hinzu. Genauere Analysen durch die Unterrichtsforschung haben gezeigt, dass die Lehr- und Lernziele für alle Schülerinnen und Schüler im Grunde individuell aufgestellt werden müssten bzw. dass Schüler, auch ohne dass spezielle Ziele, ohne dass individuelle Förderpläne für sie bestehen, individuell lernen und Unterschiedliches lernen und behalten. Das stand aber nicht am Anfang der Argumentation.

Welche Bezüge zu den anderen Teildisziplinen, aber auch Gender und Disability Studies, sehen Sie, also zur Migrationspädagogik und Frauen- und Geschlechterforschung?

Kooperation mit Grundschul-, Hauptschul- und Gesamtschulpädagogik

Ich muss sagen, das wurde in Saarbrücken zu meiner aktiven Zeit noch weniger thematisiert. Andere Teildisziplinen, die für uns in der Integrationspädagogik kooperativ wichtiger erschienen, sind die Grundschul-, die Hauptschul- und die Gesamtschulpädagogik. Ich mache das an Namen fest. Jakob Muth war solch ein wichtiger Name, er war Vorsitzender der Kommission Sonderpädagogik im Deutschen Bildungsrat und hatte eine Professur für Grundschulpädagogik an der Ruhr-Universität Bochum und hatte von daher also auch großen Einfluss im Grundschulbereich. Das war für die Integrationspädagogik hilfreich. Für die Hauptschulpädagogik will ich Jutta Schöler nennen. Sie war Hauptschullehrerin gewesen, bevor sie in Berlin Professorin wurde, und hat auch in ihrer Hochschulzeit immer den Bezug zur Hauptschule gesehen und hochgehalten. Hauptschulpädagogik ist ja in Deutschland ein ziemlich vernachlässigtes Pädagogikfeld, aber durch Fachleute wie Jutta Schöler war da doch der notwendige Mindestzusammenhang zu Integration gewahrt. Und Ulf Preuss-Lausitz ist hier zu nennen, er war kein Lehrer, Sie kennen ihn ja persönlich, aber als bekannter Gesamtschulforscher hat er Brücken in dieses Teilgebiet gebaut. Das sind drei Beispiele, wie andere Teildisziplinen der Pädagogik durch beiderseits namhafte VertreterInnen mit der Integrationspädagogik kooperiert haben.

Und die anderen Heterogenitätsdimensionen, also kultureller Hintergrund, Geschlecht und so, die spielten da nicht so eine Rolle, oder gab es da auch Kontakte?

Weniger. Ich war zum Beispiel mal in Bremen als Referent bei Frau Köbsell auf einer einschlägigen Tagung, aber das waren nur punktuelle Kontakte, es blieb keine Zeit für anhaltende Kooperation. Zu den Disability Studies auch nicht.

Welche zukünftigen Aufgaben, Herausforderungen sehen Sie für die Praxis?

Aufgaben für die Praxis: Lehrerstellen und Lehrerausbildung

Genügend Stellen für Lehrerinnen und Lehrer, damit wieder in einem pädagogisch sinnvollen Umfang inklusive Pädagogik durchgeführt werden kann! Mit einem »Springerverfahren«, bei dem ein Ambulanzlehrer oder -lehrerin zweimal in der Woche für je zwei Stunden vorbeikommt, ist ja in vielen Fällen dem Kind und der Klasse und dem/der RegelschullehrerIn nicht geholfen. Dann gehört dazu auch, dass in der Lehrerausbildung schon für Inklusion vorbereitet wird. Die jungen Leute, die ihr Lehramtsstudium beginnen, kommen ja in aller Regel mit Abitur an, also vom Gymnasium oder von einer anderen Schulart, die den Unizutritt ermöglicht; sie haben sich meist mit Behinderungen oder mit den anderen Anlässen für inklusive Pädagogik noch nie ernsthaft befasst. Das muss dann in der Lehrerausbildung in Theorie und Praxis erfolgen. Und das gilt ausdrücklich auch für die Inklusionsthematik in der Förderschullehrerausbildung. An vielen deutschen Hochschulinstituten hat der Studienplan sich noch nicht ausreichend für Integration bzw. Inklusion geöffnet. Es sind halt oft noch die alten DozentInnen und ProfessorInnen tätig. Entsprechendes gilt auch für die zweite Phase das Referendariat in der Sonderschullehrer- oder Förderschullehrerausbildung.

Welche zukünftigen Aufgaben, Herausforderungen sehen Sie für die Forschung?

Partizipative Forschung

Ich würde es für sehr wichtig halten, wenn in der Forschung künftig die LehrerInnen sowie die SchülerInnen und die Eltern viel stärker beteiligt würden als bisher. Solche Mitbestimmung in der Forschung soll erreichen, dass jeweils auch eigene Fragestellungen der betroffenen Gruppen mit einfließen können. Die Forschung findet ja traditionell in der Weise statt, dass die Leute von der Uni oder von den Forschungsinstituten ein Thema entwickeln und damit in die Praxis gehen, zum Beispiel in die Schulen. Wenn aber in der Integrationsforschung die RegelschullehrerInnen, die ambulanten FörderschullehrerInnen und andere Betroffene von Anfang an mit einbezogen sind, weisen die Fragestellungen von Anfang an mehr Praxisrelevanz auf.

Welche internationalen ForscherInnen waren für Sie am bedeutsamsten?

Internationale ForscherInnen

Goldstein, Hobbs, Roser, Milani-Comparetti, das waren in den frühen Jahren die ausländischen Autoren, die für mich und unsere Arbeitseinheit »Sonderpädagogik« am wichtigsten waren.

Herbert Goldstein war ein Amerikaner, der schon sehr früh kritisch über die Effizienz von Sonderbeschulung im Vergleich zu Regelbeschulung geforscht hat. Er hat auch in Europa darüber referiert. Ich hatte mir einige seiner Schriften besorgt, sie haben meine Zweifel an der Nützlichkeit von Sonderklassen und Sonderschulen wesentlich mitbegründet.

Dann Nicholas Hobbs von der Vanderbilt University, ihn habe ich ja schon ein paar Mal genannt. Als Psychologe hatte er einen Lehrstuhl für Präventive Medizin, er hat über die Bedeutung der Umfeldeinflüsse auf die menschliche Entwicklung geforscht.

Ludwig Otto Roser, deutscher Name, aber er hat in Italien gelebt und integrationspädagogisch gearbeitet. Jutta Schöler hatte viele Kontakte mit ihm und auch über ihn veröffentlicht. Herr Roser war auch mal als Referent bei uns in Saarbrücken, und wir waren mit einem Omnibus voller Studierender in Volterra in der Toskana, um die italienische integrazione zu erleben.

Im Hintergrund von Ludwig Roser steht der Name von Adriano Milani-Comparetti, damals in Italien und weit darüber hinaus ein führender Integrationstheoretiker. Das waren für uns die Wichtigsten in der Frühzeit, also in der Zeit des Aufbaus von Integration.

Ich nenne dann noch eine Kollegin aus Tschechien, Eva Mrkosová von der Karls-Universität in Prag. Sie hat dort am Institut für Spezialpädagogik gelehrt und geforscht. Wir pflegten jahrelang einen intensiven Austausch mit gegenseitigen längeren Studienaufenthalten. Es war Eva, die mich schon früh in den 90er Jahren darauf hingewiesen hat, dass international ein neuer Terminus, »Inklusion«, im Entstehen ist und ob ich Näheres wüsste …